Nicht nur das „altgediente“ Kondom kann HIV-Übertragungen verhindern, sondern auch die antiretrovirale Therapie oder die PrEP. Man muss die HIV-Prävention deshalb heute weiter denken, sagt der Berliner Internist Christoph Weber.

Spätestens seit ihre Wirksamkeit durch mehrere Studien bestätigt wurde, ist die Prä-Expositionsprophylaxe (PrEP)  also die vorbeugende Einnahme von HIV-Medikamenten zum Schutz vor einer Infektion  zu einem zentralen Thema der HIV-Community geworden. Während die einen mit Skepsis, bisweilen gar strikter Ablehnung reagieren, fordern andere schnellstmöglich die kassenärztliche Zulassung des HIV-Medikaments Truvada auch zur Vorbeugung.

Befinden wir uns an einem Wendepunkt der HIV-Prävention? Dieser Frage ging man im September 2015 in der Berliner Tagung „HIV im Dialog“ nach. Der Mitveranstalter und Berliner Klinikarzt Christoph Weber erläutert, warum die HIV-Prävention heute weiter zu denken ist.

Christoph, keine Fachtagung, keine Selbsthilfe-Veranstaltung, bei der es nicht um die PrEP ginge. Wie nimmst du diesen Diskurs wahr?

Eigentlich hätte die Ärzteschaft jetzt allen Grund zur Aufbruchstimmung. Aber stattdessen stellen wir eine zum Teil vehemente Polarisierung zwischen PrEP-Befürwortern und PrEP-Gegnern fest. Was ja absurd ist, denn endlich haben wir etwas nachweislich Wirksames gegen HIV-Übertragungen, was eine fantastische Erweiterung der Präventionsmöglichkeiten bedeutet.

„Man hat nun die Wahl, je nach sexueller Situationen oder Lebensphase“

Wie kommt es zu dieser heftigen Ablehnung der PrEP?

Ich habe den Eindruck, dass diese konservative Haltung einiger Kollegen schlicht durch das Bauchgefühl und den eigenen Geschmack bestimmt ist. Denn anders lässt sich nicht erklären, wie etwas abgelehnt und nur als Bedrohung gesehen wird, was doch eigentlich eine große Chance birgt. Vielleicht ist es ja auch die Befürchtung, mit der PrEP würde ein Grundpfeiler der HIV-Prävention ins Wanken geraten. Die PrEP bedeutet aber keineswegs, dass das Kondom ausgedient hätte: Es kommt nur etwas Neues hinzu. Die PrEP ersetzt nicht das Kondom. Vielmehr hat man nun die Wahl und kann sich für das eine oder das andere oder vielleicht auch für beides entscheiden, je nach sexueller Situationen oder Lebensphase.

Ich wähle also zwischen dem Kondom, der Dauer-PrEP oder der „anlassbezogenen“ Kurzzeit-PrEP.

Die Ipergay-Studie hat gezeigt, dass eine Kurzzeit-PrEP wirksam und sinnvoll sein kann. Im Sexualleben gibt es unterschiedliche Phasen, in denen nunmehr das jeweils beste Verhütungsmittel eingesetzt werden kann. Derzeit empfiehlt man für alle Lebensphasen hauptsächlich das Kondom. Und sollte eine Schutzstrategie versagt haben und es zu einem Risikokontakt gekommen sein, muss man über vier Wochen eine PEP einnehmen.

Wird die PrEP bei Schwulen ein Massenphänomen werden? Oder ist ihnen das prophylaktische Pillenschlucken doch nicht so ganz geheuer?

Wenn ich mir anschaue, was in der Schwulenszene sonst noch alles eingeworfen wird, glaube ich nicht, dass die Pilleneinnahme an sich ein Problem darstellt. Ich betrachte die PrEP mit Truvada allerdings nicht als der Weisheit letzten Schluss, sondern eher als einen Anfang der medikamentösen Prävention bei Männern, die Sex mit Männern haben. Sie ermöglicht einer vergleichsweise marginalen Gruppe einen besseren und auch sichereren Umgang mit ihrer Sexualität, als dies allein mit Kondomen der Fall ist.

„Ich glaube nicht, dass die Pilleneinnahme an sich ein Problem darstellt“

Zum Beispiel schwulen Männern, die sich auf Sexpartys ausleben?

Von der PROUD-Studie wissen wir, dass auf manchen Sexpartys ein hohes Infektionsrisiko besteht, besonders dort, wo Drogen und Alkohol im Spiel sind. In der Frühphase der HIV-Infektion ist das Übertragungsrisiko bekanntermaßen besonders hoch. Selbst wenn man sich sehr häufig testen lässt, vergeht eine viel zu lange Zeit, nämlich mindestens sechs Wochen, bis jemand von seinem positiven HIV-Status erfährt. Es ist davon auszugehen, dass HIV in diesem Zeitraum weitergegeben wird. Noch länger dauert es, bis die Viruslast durch eine HIV-Therapie unter die Nachweisgrenze gefallen ist.

Was liegt näher, als diesen Männern, die durch ihr Sexualverhalten in wenigen Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit HIV-positiv sein werden, Schutz durch eine PrEP zu ermöglichen  und so auch noch die Infektionskette zu unterbrechen? Ansonsten sind wir hier aus Präventionssicht recht hilflos.

Es geht also nicht um Truvada für alle.

Bei der PrEP handelt es sich um eine sehr kontrollierte, regelmäßige Medikamenteneinnahme. Das erfordert Disziplin und wird manchen auch lästig sein. Wenn aber erst einmal die Zweimonatsspritze verfügbar ist, werden sich das bestimmt noch mehr Leute überlegen, weil es für sie bequemer und letztlich auch sicherer ist.

„Die Männer definieren sich heute darüber, wie sie es mit der Vorsorge halten“

Das würde sich sicherlich auch auf das Sexualverhalten in der Community auswirken.

Das zeigt auch das groß angelegte PrEP-Projekt (AMPrEP) in Amsterdam, bei dem rund 400 MSM und Transgender bis 2018 die PrEP erhalten. Einer der Initiatoren hat mir erzählt, er habe beobachtet, dass es in der Szene nicht mehr darum geht, ob man HIV-positiv ist oder nicht, sondern ob man „auf PrEP“ beziehungsweise „in Therapie“ ist oder nicht. Die Männer definieren sich heute also nicht mehr über den HIV-Status, sondern darüber, wie sie es mit der Vorsorge halten. Ich finde ziemlich spannend, was da gerade passiert.

Wir sprechen über eine klar umrissene Zielgruppe der PrEP: sexuell aktive schwule Männer mit hohem HIV-Risiko.

Eigentlich von weißen schwulen Männern. Aber wenn wir über eine Neuausrichtung der HIV-Prävention nachdenken wollen, müssen wir auch jene Gruppen stärker ins Licht rücken, die wir bisher nur schwer erreichen, wie Migranten und Menschen ohne Krankenversicherung. Sehr lange wurde, oft aus einer eher karitativen Haltung heraus, diskutiert: Was können wir für die Migranten tun. Es ist aber längst an der Zeit, darüber zu sprechen, was wir mit ihnen auf die Beine stellen können. Andernorts, wie etwa in Frankreich, Großbritannien oder den USA, ist man da schon weiter  auch deshalb, weil dort die Communitys viel besser miteinander vermischt sind.

„Auch Migranten und Menschen ohne Krankenversicherung stärker ins Licht rücken“

Wenn wir auf „Schutz durch Therapie“ bauen wollen, dürfen wir auch diese Gruppen nicht vernachlässigen. Und auch hier gilt: Überall dort, wo „Schutz durch Therapie“ nicht ausreicht, könnte die PrEP sinnvoll sein. Bei der südafrikanischen Sexarbeiterin oder dem arabischen jungen Mann, der sich mit „survivor sex“ über Wasser hält, genauso wie beim schwulen Partygänger.

Bleibt der Kostenfaktor. Derzeit muss die PrEP noch aus eigener Tasche bezahlt werden.

Es wird sicherlich wesentlich vom Preis abhängen, inwieweit sich die PrEP umsetzen lässt. Sollte tatsächlich ein Interesse bestehen, Aids bis 2030 zu beenden, wie es sich UNAIDS zum Ziel gesetzt hat, wird man die Kostenfrage neu und anders diskutieren müssen. Man muss sich die Mühe machen, die Kosten der PrEP und die Kosten der lebenslangen Behandlung eines HIV-Infizierten mit allen Folgeschäden gegeneinander aufzurechnen. Und ich bin mir sehr sicher, dass die PrEP im Endeffekt die preiswertere Variante ist und sich auch für die Krankenversicherungen rechnen wird.

„Ich bin mir sicher, dass die PrEP im Endeffekt die preiswertere Variante ist“

Derzeit wird die PrEP noch nicht groß propagiert. Sollten sich die Rahmenbedingungen ändern: Was würde das für die HIV-Prävention bedeuten?

Die HIV-Prävention wird sich weiter verändern und vor allem noch individueller werden müssen. Lange Zeit war das Kondom die Antwort auf fast alle Fragen des Infektionsschutzes. Mit der PrEP wird man sich mit vielen Fragen neu auseinandersetzen müssen: Wie viel Risiko bin ich bereit einzugehen? Wie sieht mein Sexualleben derzeit aus? Bin ich gerade sehr umtriebig oder habe ich nur sehr selten Sex? Welche Schutzmethode passt zu mir?

Worüber genau sollte in der Präventionsarbeit und Beratung dann geredet werden?

Zum Beispiel über den Schutz durch Therapie, darüber also, dass man als HIV-Positiver seine Medikamente regelmäßig einnimmt und bei nicht mehr nachweisbarer Viruslast nicht mehr infektiös ist. Und natürlich auch über die PrEP: Wie funktionieren die Medikamente? Wann ist eine PrEP sinnvoll und wann ist davon abzuraten? Ich erlebe gerade in der Schwulen-Community den Willen, sich zu schützen und die PrEP zu nutzen. Das geht einher mit einem hohen Informationsbedürfnis, und ich finde, dass wir als Mediziner in der Pflicht stehen, diese Informationen zu geben.

Welche Akteure sind bei einer Einbeziehung der PrEP in die HIV-Beratung gefragt?

Gefragt sind in der Tat alle Akteure: Ärzte, Krankenhäuser, Beratungseinrichtungen genauso wie Präventionsgruppen. Vielleicht ist es an der Zeit, sich noch einmal ganz neu aufzustellen, um das Mitte der 80er-Jahre in Berlin entwickelte „Schöneberger Modell“ in eine zeitgemäße Form zu bringen. Dieses sah die Vernetzung von stationären und ambulanten Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen sowie von freien Trägern vor, um die Betreuung und Behandlung der Patienten zu vereinfachen. Für Berlin fände ich ein Modell wichtig, mit dem man gemeinsam den neuen Herausforderungen begegnen und den Weg weitergehen kann, den UNAIDS mit den „90–90–90“-Zielen festgelegt hat.

Bis 2030 sollen laut UNAIDS 90 Prozent aller HIV-Infizierten ihren Status kennen, 90 Prozent aller Diagnostizierten Zugang zur Behandlung haben und 90 Prozent der Behandelten unter der Virus-Nachweisgrenze sein.

Wenn man diese Ziele tatsächlich erreichen möchte, wird das nur mit der bisherigen Präventionsarbeit plus den medikamentösen Möglichkeiten  Schutz durch Therapie und PrEP  gehen. Lediglich die PrEP zu fordern und zu warten, bis sie kommt, wird nicht ausreichen. Wir werden selbst aktiv werden müssen. Im Nachklang von „HIV im Dialog 2015“ hat sich deshalb ein Arbeitskreis zusammengefunden, der sich überlegen will, welche Schritte vonseiten der Ärzte und anderen Akteuren im Gesundheitssystem unternommen werden müssen. Es wird vor allem darum gehen, die entscheidenden Türen zu öffnen.

„Der Druck aus der Community wird steigen“

An wessen Tür muss da geklopft werden?

Im Detail ist das noch nicht besprochen. Aber wir müssen alle bewegen, die hier involviert sind: die Pharmaindustrie ebenso wie die Krankenkassen und das Gesundheitsministerium. Denn über eines müssen sich alle Beteiligten im Klaren sein: Der Druck aus der Community wird steigen.

Die PrEP ist wegen der Kosten weder bei Krankenkassen noch im Gesundheitsministerium beliebt  sie könnten die PrEP hierzulande noch einige Jahre hinauszögern. Aber sicher ist: sie wird kommen. Daher müssen wir uns jetzt Gedanken machen, wie wir uns als HIV-Spezialisten darauf vorbereiten. Ist es beispielsweise angebracht, eine Beobachtungsstudie  vergleichbar mit dem Amsterdamer Projekt  zu initiieren, um zu sehen, wie es mit der Umsetzung in der Praxis klappt? Es stellen sich auch praktische Fragen: Wo ist der beste Ort, um eine PrEP auszugeben? Wer soll die dazu notwendige Beratung leisten? Wie kann die PrEP medizinisch begleitet werden?

„Alle Beteiligten müssen den Mut haben, die alten Pfade zu verlassen“

Das klingt nach einem großen Kraftakt.

Es wird in der Tat Zeit und Energie kosten, um all diese Fragen zu klären. Ohne personelle und finanzielle Ressourcen der relevanten Institutionen wird es nicht gehen. „Ending AIDS“ wird es nicht für umsonst geben, das sagt auch UNAIDS. Wenn wir uns ernsthaft aufmachen, Aids zu beenden, dann müssen alle Beteiligten den Mut haben und die Energie aufbringen, die alten Pfade zu verlassen. Man wird mehr Geld in den Ausbau der Prävention und damit auch in die PrEP stecken müssen. Mittelfristig werden diese Investitionen aber Geld einsparen und sehr viel Leid verhindern. Das sollte es uns wert sein.

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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