Mit der Ausweitung der Kämpfe in der Ostukraine nimmt auch die HIV-Epidemie wieder Fahrt auf. Von der verheerenden Situation im Donbass und ihren Auswirkungen auf die gesamte Ukraine berichtet Tomaso Clavarino.

Dieser Beitrag ist ursprünglich bei VICE erschienen. Wir danken dem Autor und VICE für die Genehmigung zur Veröffentlichung des Textes und der Bilder.

Anatoli sitzt auf seinem Bett und sieht fern. Er ist erst vor zwei Tagen in Krasnoarmijsk angekommen und hat die Grenze zwischen der Ukraine und der Volksrepublik Donezk zu Fuß überquert. Trotz eines scheinbaren Waffenstillstands befindet sich die Grenzregion mitten im Krieg – einem Krieg, der die Leute kaputtmacht und Tod wie auch Zerstörung bringt.

Anatoli ist drogensüchtig. Er floh aus Makijiwka, einer Stadt im ukrainischen Donbass, in der es immer noch Granaten hagelt. Der Grund für seine Flucht: Leute wie er sind dort nicht mehr willkommen, nachdem prorussische Separatist_innen die Kontrolle übernommen haben. Anatoli konsumiert jetzt schon seit 30 Jahren Drogen. Er fing im jungen Alter damit an und nahm psychotropische Substanzen, um dem langweiligen Leben zwischen den öden Gebäuden aus der Sowjetzeit zu entfliehen.

Viele Entzugseinrichtungen wurden dicht gemacht

„Vor fünf Jahren wurde ich wiedergeboren. Ich war am Ende und wäre beinahe gestorben“, erzählt er mir. „Aber dann ging ich in die städtische Entzugsklinik, um eine Methadon-Behandlung anzufangen. So bin ich langsam wieder zu mir gekommen und konnte mir ein neues Sozialleben aufbauen.“ Diese Klinik wurde inzwischen geschlossen, und Anatoli musste den weiten Weg bis nach Krasnoarmijsk zurücklegen, um sein neues Leben nicht gleich wieder aufgeben zu müssen.

Was in Makijiwka passiert ist, hat sich auch in Horliwka und in den meisten anderen Städten der Volksrepublik Donezk zugetragen: Viele Entzugseinrichtungen wurden ohne Vorwarnung dicht gemacht. „Im September hatte ich mich wie jeden Morgen in der Schlange angestellt, und dann meinte eine Angestellte zu uns, dass die Klinik für immer geschlossen wird“, erzählt Anatoli.

Aktivist_innen, Patient_innen, NGOs und Ärzt_innen zufolge war das die Entscheidung der prorussischen Separatistenregierung von Donezk und Teil des Plans für einen Übergang zu einer „russischen“ Lösung des Drogenproblems – also unter Umständen gar keine Einrichtungen und keine Hilfe mehr. Es gibt auch Berichte, wie Drogenabhängige in den Separatistengebieten immer mehr eingeschüchtert oder zu Arbeitsmaßnahmen wie etwa dem Ausheben von Schützengräben gezwungen werden.

 

In Donezk befindet sich das einzige im Separatistengebiet übrig gebliebene Methadon-Zentrum. Aber auch das wird es nicht mehr lange geben, denn die Vorräte gehen zur Neige, und Nachschub wird blockiert. „Die Situation ist einfach nur schrecklich. Anders kann man das wirklich nicht ausdrücken“, erklärt mir Irina Klueva, die Leiterin der Abteilung für Opioid-Substitutionstherapie im Krankenhaus von Donezk.

Methadon-Vorräte gehen zur Neige

„Vor dem Krieg hatten wir hier 240 Patienten, aber jetzt sind es nur noch 90, weil es nicht genug Methadon gibt. Und die wenigen übrig gebliebenen müssen wohl auch bald gehen, weil unsere Vorräte bald zur Neige gehen. In den vergangenen Monaten haben wir hier in Donezk ungefähr zehn Tote registriert – das waren alles Leute, die ihre Therapie abbrechen mussten. Sie begingen entweder Selbstmord oder sind an einer Überdosis gestorben.“

Tausende Menschen leben jetzt wieder auf der Straße, konsumieren erneut (zum Großteil illegale) Drogen und teilen sich laut Klueva oftmals kontaminierte Nadeln. Selbst Angebote zur Schadensminderung wie etwa Spritzentausch-Programme sind in diesem Teil der Ukraine abgeschafft worden.

„Verheerender Einfluss auf die gesamte Ukraine“

„Der Krieg und die Situation im Osten des Landes haben einen verheerenden Einfluss auf die gesamte Ukraine, und es wird noch schlimmer kommen.“ Daran besteht für Natalia* kein Zweifel. Sie arbeitet in der Stadt Kramatorsk (wo Kiew noch das Sagen hat) für den Verein Svitanok, der HIV-positive Menschen unterstützt, die aus der Volksrepublik Donezk geflohen sind oder immer noch in von Separatisten kontrollierten Gebieten leben. „Dabei handelt es sich meistens um Junkies oder Prostituierte, die keinen Zugang zu antiretroviralen Therapien mehr haben, weil die Regierung in Kiew die Medikamente zurückhält, um es den Separatisten heimzuzahlen.“

Natalia und ihre Kolleg_innen beladen daher ein- oder zweimal im Monat ihre Autos mit Medikamenten, verbringen Stunden in Warteschlangen an den Kontrollstellen und schmieren Grenzsoldaten, um antiretrovirale Medikamente nach Donezk und Luhansk zu bringen.

Krieg tötet, zerstört und verletzt nicht nur unmittelbar. Die Wunden können auch so tief sein, dass ihre Auswirkungen noch lange zu spüren sind. Und das ist wohl derzeit in der Ukraine der Fall, einem Land, in dem laut aktueller Statistik zwischen 260.000 und 340.000 HIV-positive Menschen leben und wo UNAIDS zufolge die HIV-Prävalenz bei den 15- bis 49-Jährigen 1,3 % beträgt.

Das Land hat eine der höchsten HIV-Infektionsraten in Europa, aber dank des Einsatzes verschiedener NGOs hat es die Ukraine geschafft, diese Rate in den Jahren vor dem Kriegsausbruch im Donbass zu senken. „Aus dem Donbass kommen zwar keine offiziellen Zahlen, aber die Situation hat sich dort wieder verschlechtert“, erklärt Natalia. „Die Zahl der Neuinfektionen steigt. Das liegt zum Teil an der restriktiven Politik in der Volksrepublik Donezk, aber auch an der Situation an der Front, wo die Soldaten getrennt von ihren Familien monatelang bleiben müssen und dann oft ungeschützten Geschlechtsverkehr mit HIV-positiven Prostituierten haben.“

„Die Zahl der HIV-Neuinfektionen steigt“

Den Daten der Elena Pinchuk ANTIAIDS Foundation zufolge wurden zwischen Januar und November 2015 in der Ukraine mehr als 13.000 HIV-Infektionen erfasst – eine Zahl, die mit dem Versagen des Gesundheitssystems, der Zerstörung von Klinikgebäuden und der Einstellung von Unterstützungsprogrammen für HIV-positive Menschen zusammenhängt. Noch dazu hat sich die wirtschaftliche Situation des Landes verschlechtert, seine Währung wurde um 300 Prozent abgewertet, und der Kauf sowie der Vertrieb von Kondomen gingen 2014 um 25 Prozent zurück. Laut Olga Rudneva, einer führenden Mitarbeiterin der Elena Pinchuk ANTIAIDS Foundation, ist ungeschützter Geschlechtsverkehr die Hauptursache der Virusübertragung in der ukrainischen Bevölkerung.

Die HIV-Epidemie wächst mit der Ausbreitung eines Kriegs, der stillzustehen scheint, aber trotzdem nie zur Ruhe kommt. Ein Krieg, der die Leute zwingt, ihr Zuhause und ihr bisheriges Leben zurückzulassen, um auf der anderen Seite der Grenze Schutz zu suchen. Es gibt keine genauen Zahlen darüber, wie viele der (laut IDMC) 1,4 Millionen aus ihrer Heimat vertriebenen Ukrainer_innen HIV-positiv sind. Genauso wenig weiß man, wo genau sich diese Leute befinden oder wie viele von ihnen drogenabhängig sind. Die ukrainische Zentralregierung hat in diesem Gebiet keine Kontrolle mehr –nicht einmal in Regionen, die noch nicht von den Separatist_innen eingenommen wurden. Die Vertriebenen kommen aus dem Donbass oder von der Halbinsel Krim, und die meisten von ihnen zieht es in die Großstädte, wo sie versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen.

Als HIV-Positiver stigmatisiert und ohne Job-Chancen

Das ist für niemanden einfach, aber eine besondere Herausforderung für HIV-positive Menschen, die alles verloren haben und in einem Land leben, wo sie stigmatisiert werden. „Ich bin aus Simferopol weg, nachdem man dort alle Drogenersatztherapien eingestellt hat“, sagt Andrej, ein HIV-positiver Drogenabhängiger. „In Kiew wollte ich dann eigentlich ein neues Leben beginnen, aber das ist schwer, wirklich schwer. Wenn die Leute herausfinden, dass du HIV-positiv bist, dann starren sie dich an, und du hast praktisch keine Chance, einen Job zu finden. Wir sind von der Krim geflohen, weil wir dort keine Zukunft hatten. Wenn ich dort geblieben wäre, hätte ich ohne Behandlung wohl nicht überlebt.“

Nach den aktuellsten Statistiken, die noch aus der Zeit vor dem Krieg stammen, sind in der Ukraine 21,7 Prozent der über 25-jährigen intravenös Drogen Konsumierenden HIV-positiv. 25 Prozent dieser HIV-Positiven leben oder lebten in den Bezirken Donezk und Luhansk, also dort, wo heute Krieg ist. „Wir erwarten vor allem im Osten des Landes einen weiteren Anstieg der Infektionszahlen“, sagt Olga Rudneva, „und das vor allem bei den Leuten, die sich Drogen spritzen, was der restriktiven Politik der Separatisten-Regierungen geschuldet ist. Aber auch bei allen anderen Betroffenengruppen ist ein Anstieg absehbar, weil bei dieser Epidemie viele Faktoren eine Rolle spielen: finanzielle Kürzungen, die Vertreibung von Hunderttausenden Menschen und die Wirtschaftskrise.“

Ein weiterer Anstieg der Infektionszahlen ist absehbar

Die Zahlen könnten noch schlimmer ausfallen, wenn sich der Global Fund entschließt, die für die Ukraine bereitgestellten Mittel zu streichen, was viele befürchten, mit denen ich gesprochen habe. Als der Global Fund 2010 die Finanzierung von Präventions- und Harm-Reduction-Projekten in Rumänien einstellte, stieg dort die HIV-Infektionsrate bei intravenös Drogen Konsumierenden von 3 Prozent im Jahr 2010 auf 29,23 Prozent im Jahr 2013 (UNAIDS Country Progress Report on AIDS – Reporting period January 2013).

Wenn man sich an den Stadtrand Kiews begibt und sich in den schmutziggrauen Betonblocks des Stadtteils Troeschina wiederfindet, erkennt man schnell, wie weit verbreitet Drogen in der Ukraine sind, vor allem bei den Ärmeren. In Troeschina findet man alles – von Krokodil über Heroin und Morphin bis hin zu Amphetaminen. Viele dieser Drogen werden in Privatwohnungen hergestellt, die man in provisorische Labore umgewandelt hat.

Wie in Viktors Wohnung. Viktor wurde in Kiew geboren, ging auf die beste Schule der Stadt, studierte dann zwei Jahre an der Universität und landete schließlich in der Hölle. Heute sind Drogen das Einzige, was ihn noch am Leben hält. Die Folgen und Risiken interessieren ihn dabei nicht. In Viktors Wohnung wandern die Spritzen von Arm zu Arm, und das Rauschmittel wird manchmal absichtlich mit Blut verdünnt.

„Es ist mir egal, wenn ich sterbe“

„Ich und auch alle meine Freunde sind HIV-positiv. Das ist mein Leben. Es ist nichts wert, und es ist mir egal, wenn ich sterbe“, sagt Viktor, während er eine siedend heiße Pfanne in der Hand hält, in der er Medikamente zum Schmelzen bringt, um das darin enthaltene Kodein herauszulösen. Damit stellt er dann Krokodil her, die inzwischen berühmt-berüchtigte Droge, die zuerst innere Gewebe der Konsument_innen zerstört und dann die Haut angreift.

Zwar sind Drogenabhängige schon immer die Bevölkerungsgruppe mit dem höchsten HIV-Risiko gewesen. Doch wegen der prekären Wirtschaftslage und vor allem durch den Krieg im Osten des Landes greift dieses Risiko immer weiter um sich. Auch das geht auf das Konto des Krieges, nicht nur die Toten in den Schützengräben.

*Einige der für diesen Artikel Interviewten wollten zum Schutz ihrer Privatsphäre ihre Nachnamen nicht angeben.

 

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