Viele taz-Leser_innen kennen Charlotte noch: Als „die Setzerin“ gab sie witzig-bissige Kommentare ab, wenn ihr was gegen die Hutschnur ging. Sie ist eben ein Freigeist – in jeder Beziehung.

Von Ulrike Bauer

Wer Charlotte kennenlernt, erlebt ihr Temperament. Eine Frau, die viel erlebt hat, viel und weit gereist ist, eine Tochter alleine großgezogen hat und sich engagiert – ob in der Transition-Bewegung oder als Buddy im Projekt Sprungbrett, das Starthilfe fürs Leben mit HIV gibt.

Im Juni wird Charlotte 60 Jahre alt. Seit fünf Jahren weiß sie, dass sie HIV positiv ist, und: ja, man kann sagen, dass sie inzwischen ganz gut damit klarkommt. Anfangs war das nicht so, aber das lag weniger an der Diagnose, sondern an einer sowieso schwierigen Lebensphase: Sie hatte gerade erst eine schwere Malaria tropica überstanden und darüber ihren Job verloren. So etwas kann einem den Boden unter den Füßen wegziehen, und bei Charlotte kamen noch Traumata aus der Kindheit hinzu, die in dieser schweren Zeit noch mehr an ihr zerrten als sonst vielleicht. Ein Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik war da genau die richtige Entscheidung für sie. Das tat gut, half zu stabilisieren.

„Ich wollte meine HIV-Infektion von Anfang an nie verschweigen“

Was die HIV-Infektion betrifft, so hat sie immer mit offenen Karten gespielt: „Ich wollte es von Anfang an nie verschweigen und hab damit auch überwiegend gute Erfahrungen gemacht.“ Auch mit ihrer Tochter hat sie sofort darüber gesprochen, und die habe „vorbildlich reagiert“. „Eigentlich auch die Freunde“, fährt Charlotte fort. Zwar seien viele langfristige Freundschaften im Lauf der Jahre „ausgelaufen“, aber das habe sicher auch an ihrem Lebensstil gelegen: „Ich hatte ab 2007 einen Freund in Togo und hab wie ’ne Blöde gearbeitet, um möglichst alle acht Monate für ein paar Wochen nach Westafrika reisen zu können. Die Beziehung hielt so eineinhalb Jahre. Danach habe ich mich in einen Ghanaer verliebt und bin dahin gereist. Ich habe mit den Männern zusammengelebt, in sehr armen Verhältnissen und Quartieren, wenn man das mit unseren Standards vergleicht.“ Die Männer waren deutlich jünger als Charlotte und schwarz, und sie vermutet, dass einige aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis damit ein Problem hatten. Offen gesagt habe das zwar niemand, aber so etwas spüre man schon.

Portrait Charlotte
(Bild: Selfie)

Egal war und ist das Charlotte nicht. Aber beirren lässt sie sich davon eben auch nicht. Sie ist ein Freigeist. Strahlt Mut aus, wirkt gefestigt, engagiert sich vielseitig – ob in der Aidshilfe oder in anderen gesellschaftspolitischen Bewegungen – und scheint eine Kämpferin zu sein. Doch ebenso könnte man Charlotte als sensibel und feinfühlig beschreiben. Als eine, die Rückzug braucht und immer auch dagegen ankämpfen muss, sich nicht zu sehr einzuigeln. „Ich mag nicht rausgehen“ – dieses Gefühl kennt Charlotte gut, genauso auch aber die Lust, in der S-Bahn oder der Bahn mit wildfremden Menschen darüber zu sprechen, was die HIV-Infektion für sie bedeutet und wie gut die Krankheit heute in westlichen Ländern behandelbar ist. Aufklärung ist ihr wichtig. Immer und überall. „Die Welt hat noch die Bilder vom alten Aids im Kopf. Da laufen immer noch Filme wie ‚Philadelphia‘ oder ‚Dallas Buyers Club‘, wo man fast automatisch irgendwann an Aids stirbt. Das hat mit dem heutigen Leben mit der HIV-Infektion nur noch wenig zu tun. Das schürt Ängste. Immer noch.“

„Stigma zu verschenken – wir wollen es nicht mehr!“

Da schlägt das Kämpferherz von Charlotte, und sie holt beim Erzählen auch gleich ihr T-Shirt aus dem Schrank, auf dem vorne groß „ANST“ steht, ANST für ANSTECKEND. Man glaubt es kaum, aber diese vier Buchstaben vergeben Polizist_innen auch heute noch, wenn jemand mit HIV aktenkundig wird. Auch wenn es heißt, diese Info sei ja nur intern, damit die Beamt_innen sich schützen können. Wovor denn bitte? So was findet Charlotte zum K…, klar. Und deswegen trägt sie auch das T-Shirt z.B. beim Empfang für die Selbsthilfe im Hamburger Rathaus. Sie ist bereits mehrmals darauf angesprochen worden, ob da nicht ein „G“ fehlt. Das findet sie toll, denn genau das steckt ja dahinter: ANGST. Charlotte beteiligt sich deshalb an Aktionen wie „Stigma – zurück an Absender“ und „Wir machen’s ohne“ – Schutz durch HIV-Therapie wirkt. Laut wird Charlotte nie, wenn sie von solchen Dingen erzählt, aber bestimmt. Und sie redet immer mit Witz und viel Lachen. Lachen über dieses unglaubliche Leben, verrückt und schön, schwierig und fordernd – mit HIV sicher noch ein wenig fordernder als sonst.

Als Gastgeberin ist Charlotte jedenfalls reizend. Sie liebt Tee, hat Schubladen voll davon – eher Richtung Kräuter- und Gesundheitstees –, und es dauert erst mal eine Weile, bis der passende Tee für die Besucherin gefunden ist. Schließlich soll die sich wohlfühlen. Und das tut sie … die Wohnung gemütlich, viel Holz, der Abendbrottisch fein gedeckt, auch wenn Charlotte richtig doll knapsen muss, weil sie aktuell von Krankengeld lebt. „Ich schaue einfach nach Sonderangeboten“, sagt sie und serviert vegetarischen Aufstrich, leckeren Käse, Oliven, gutes Brot …

Dass die Wahl-Hamburgerin – geboren wurde sie in Frankfurt, und auch in Berlin hat sie immer wieder gelebt – sich nach der HIV-Diagnose auch in der HIV-Selbsthilfe engagiert, war für sie klar. Es ist einfach ihre Art, Dinge anzugehen. Sie selbst hätte damals so etwas wie die Buddys gebraucht für all die Fragen, die praktischen, die seelischen und auch die medizinischen. „Mein Körper hat mich aus eigener Kraft zunächst sehr gut stabilisiert. Von meinen Werten her wäre es – jedenfalls nach den damaligen Vorgaben – nicht nötig gewesen, mit einer Therapie anzufangen. Denn einmal angefangen bedeutet ja: für immer weitermachen zu müssen.“ Kurze Zeit später, so Charlotte, habe es dann begonnen, dass HIV-Positive sofort therapiert wurden, wenn sie es denn wollten.

„Mir fiel damals auf, dass ich einerseits als Einzige nicht erkrankte, wenn um mich rum wirklich fast alle mit Grippe flachlagen“, erzählt sie. „Aber andererseits war ich auch sehr erschöpft. Dr. Axel Adam, ein schwuler Schwerpunktarzt vom Infektionsmedizinischen Centrum Hamburg, sagte dann auf einer Gesundheitsveranstaltung in der Aidshilfe Hamburg zu mir: ‚Da kannste mal sehen, wie hochtourig dein Immunsystem fährt!‘ Das gab mir dann echt zu denken, und ich habe mit der Therapie angefangen.“

„Kein noch so feinfühliger Nicht-HIVler kann wirklich verstehen, wie es mir geht“

Das „Gute“ an Charlottes HIV-Diagnose: „Ich hab mich doch tatsächlich mit über 50 noch dafür entschieden, eine Psychotherapie anzufangen. Und ich habe ganz anders über diese verinnerlichte Sexualmoral nachgedacht und mich damit auseinandergesetzt.“ Neu und gut waren und sind für sie die Freundschaften in der HIV-Selbsthilfe und Aidshilfe. Denn da gab es immer wieder Freundinnen wie jene, die vier Jahre nach der HIV-Diagnose entgeistert fragte: „Ist das jetzt nicht ansteckend?“, als Charlotte ihr eine Zigarette drehte. „Das trifft einen dann wirklich und ist eigentlich auch kaum zu glauben. Und es hat mich wütend gemacht.“ Da tue es ihr „wahnsinnig gut“, mit anderen Betroffenen zu sprechen und sich auszutauschen. „Kein noch so feinfühliger Nicht-HIVler kann eben wirklich verstehen, wie es mir geht.“

Jammern aber ist nicht ihr Ding, und sie schiebt auch nichts auf ihre HIV-Infektion. Sie ist reflektiert und genau, kennt sich gut und ist ziemlich nachsichtig mit den Menschen, die ihr – wie die erwähnte Freundin – oft genug gedankenlose Sätze um die Ohren hauen.

Charlotte setzt auf die Veränderung im Kleinen, zum Beispiel in ihrer Transition-Gruppe, mit der sie im Frühjahr einen Gemeinschaftsgarten anlegen will. Einen Garten mit Gemüse und Kräutern für alle, und alle dürfen ernten und natürlich mithelfen. Was nicht heißt, dass Charlotte nur aufs Private setzt. Sie haut immer auch mal wieder gern „einen raus“. Dann, wenn es ihr zu eng wird. Egal ob in der Aidshilfe oder anderswo.

Charlotte auf Friedensdemoi
Charlotte mit ihrer Tochter Anfang der 80er-Jahre bei einer Friedensdemo (Bild: privat)

Neulich zum Beispiel hat sie bei der Positiven-Uni im Waldschlösschen einen Workshop vorgeschlagen zum Thema „Schwule und Frauen“. Denn als Hetero-Frau hat Charlotte, lange bevor sie positiv wurde, sich für Schwulenrechte eingesetzt, hat mitdemonstriert und gekämpft. „Und da erwarte ich eben, dass schwule Männer sich auch für Frauen einsetzen. Egal ob homo oder hetero“, so Charlotte. Ob es den Workshop geben wird? Mal sehn. Eine Gruppe aber gibt es ganz neu und von Charlotte in Hamburg mit initiiert: die „Bunte Vielfalt“. Hier sind alle willkommen, ob homo, bi oder hetero, Mann, Frau, Trans, Inter … Charlotte ist diese Vielfalt wichtig. Gegen Gruppengeglucke à la „Hier nur schwule Männer“ oder „Hier nur Transgender-Menschen“ hat sie einfach etwas, und sie versucht immer wieder aufs Neue, ihre Freiheit mit anderen zu teilen.

Sie wirkt neugierig und wach und interessiert sich für so vieles. Liest aktuelle feministische Literatur, trifft sich zu Kaffeekränzchen mit ihren syrischen Nachbarn, freut sich auf Zeit mit ihrer Enkeltochter oder werkelt in ihrer Wohnung rum. Immer wieder verändert sie hier etwas, renoviert oder legt unter uralten Schichten einen traumhaften Küchenboden frei … Zwischendurch brüht sie dann einen ihrer gefühlten 100 Tees auf, und weiter geht’s. „Ich bin nicht nur HIV+, ich bin auch ganz viel anderes“, sagt sie. Ihren 60. Geburtstag will Charlotte übrigens mit den neuen Freund_innen aus der Transition-Initiative feiern – und sicher kommen einige aus der HIV-Selbsthilfe mit dazu. Dafür sei ihr schon jetzt Sonne fürs Fest und Sonne im Herzen gewünscht!

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