Knast für einvernehmlichen schwulen Sex: Erst 2004 wurde der wahrscheinlich letzte 175er-Häftling nach zehnjähriger Freiheitsstrafe entlassen. Manuel Izdebski über eine unglaubliche Geschichte und den Irrsinn der Kriminalisierung

Rund 50.000 Schwule wurden in der Bundesrepublik nach Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs wegen ihrer Homosexualität verurteilt. Erst ab 1969 wurde der einvernehmliche Sex unter erwachsenen Männern nicht mehr bestraft – erwachsen hieß damals noch: mindestens 21 Jahre alt.

Allerdings blieb der Paragraf in einer Jugendschutzversion bis 1994 erhalten und sorgte für ein unterschiedliches Schutzalter bei hetero- und homosexuellen Kontakten: Während homosexuelle Handlungen mit Minderjährigen grundsätzlich verboten waren, galt für heterosexuelle Kontakte ein absolutes Schutzalter von 14 Jahren.

Aus der Zeit von 1969 bis 1994 stammen zusätzliche 4.500 Verurteilungen. Zu den Opfern dieser Kriminalisierung gehört Frank Schneider (Name von der Redaktion geändert), der 1994 in einem spektakulären Berufungsprozess zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Sein Vergehen: Er hatte als damals Anfang 30-Jähriger mehrfach einvernehmlichen Sex mit einem 17-jährigen Jugendlichen.

„Während wir schon auf einem CSD tanzten, saßen andere von uns noch im Knast“

Wahrscheinlich ist Schneider der letzte 175er-Häftling der Bundesrepublik. Erst 2004 wurde er nach vollständiger Verbüßung seiner Freiheitsstrafe aus der Haft entlassen. Drei Gnadengesuche und mehrere Anträge auf vorzeitige Entlassung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe lehnte die Justiz ab. Dass sein Vergehen nur wenige Monate nach dem Prozess durch die Abschaffung des Paragrafen 175 gar kein Straftatbestand mehr war, blieb ohne Bedeutung, denn Schneider hatte eine einschlägige Vorstrafe: Er war schon einmal wegen Sex mit einem 16-jährigen Jugendlichen verurteilt worden – für Heterosexuelle keine Straftat.

„Während wir schon auf einem CSD tanzten, haben andere von uns noch im Knast gesessen“, kommentiert der Historiker Alexander Wäldner den Fall. Er forscht seit 15 Jahren zur Verfolgung der Homosexuellen. Auf das Schicksal von Frank Schneider wurde er durch einen Zufall aufmerksam: „Wir haben überhaupt nicht daran gedacht, dass noch jemand im Gefängnis sitzen könnte“, sagt er.

Historiker Alexander Wäldner
Alexander Wäldner (Foto: privat)

Frank Schneider lebt heute fern seiner Heimat zurückgezogen in einer fremden Stadt. Er ist Frührentner und muss seine kleine Rente durch Grundsicherung aufstocken. Die Verurteilung hat seine bürgerliche Existenz vernichtet. Sein gesamter Besitz wurde während der Haft aufgelöst. Als verurteilter Sexualstraftäter konnte er nie wieder Fuß fassen und eine Arbeit finden. Eine Interviewanfrage lehnte er trotz Zusicherung auf Anonymität ab. Schneider will an das dunkle Kapitel seiner Lebensgeschichte nicht erinnert werden. Über einen Dritten hält Alexander Wäldner zu ihm Kontakt. Er beschreibt ihn als Mann aus einfachen Verhältnissen, der vor seiner Haftstrafe als Hilfsarbeiter seinen Lebensunterhalt verdiente und nie eine schwule Identität entwickelt habe. Auch habe sich seine einfache Bildung im Prozess als Nachteil erwiesen. „Andere hätten sich besser vor Gericht darstellen können“, erklärt Wäldner.

„Wiedergutmachen kann man das nicht, aber man kein ein Zeichen setzen“

Schneiders Schicksal zeugt vom Irrsinn der Kriminalisierung. An ihm vollzog die deutsche Justiz noch einmal mit aller Härte die staatliche Verfolgung der Homosexuellen, nur wenige Monate vor dem endgültigen Aus des berüchtigten Paragrafen.

Schneider gehört zu den Fallgruppen, die laut Eckpunktepapier von Bundesjustizminister Heiko Maas einen Anspruch auf Entschädigung als Opfer des Paragrafen 175 erheben können. Dafür muss der Bundestag nun ein entsprechendes Gesetz verabschieden, das die verurteilten Männer auch rehabilitiert.

„Wiedergutmachen kann man das nicht“, sagt der Historiker Wäldner, „aber man kann ein Zeichen setzen!“

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