1987 will Mario Röllig zu seinem Geliebten in den Westen fliehen – und landet in Stasi-Haft. Der Dokumentarfilm „Der Ost-Komplex“ widmet sich dem Leben eines Zeitzeugens und hinterfragt zugleich die Aufarbeitung von DDR-Geschichte.

Der 15. Januar ist für aufrechte Sozialist_innen ein Pflichttermin. Nicht nur die Parteiprominenz der Linken von Gregor Gysi bis Sahra Wagenknecht und internationale Gäste wie Alexis Tsipras, sondern auch einstige Mitglieder des SED-Kaders marschieren nach Berlin-Friedrichsfelde, um Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts zu gedenken.

Nicht wenige der Kundgebungsteilnehmer_innen trauern wehmütig der niedergegangenen DDR nach, manche bringen mit Plakaten auch ihre treue Verehrung für Stalin zum Ausdruck. Ganz friedlich und würdig geht das Totengedenken allerdings nicht immer vonstatten. Denn da ist auch noch eine Gruppe, die sich mit Kerzen und Schildern um einen kleinen Gedenkstein versammelt hat. Er erinnert an die „Opfer des Stalinismus“, für manche Demoteilnehmende eine Provokation. Es wird gespuckt, gepöbelt, sich gezofft. Parolen, Beschimpfungen und Vorwürfe fliegen wild durcheinander.

Ideologischer Grabenkrieg

Wer steht sich hier gegenüber? Opfer und Täter? Verlierer und Gewinner der Geschichte? Unverbesserliche, Staatsverräter, Profiteure?

Dieser ideologische Grabenkrieg, der Kampf um die Deutungshoheit über die DDR-Geschichte, ist eines der Leitthemen, die sich durch Jochen Hicks „Der Ost-Komplex“ ziehen. Mario Röllig, den der Berliner Filmemacher („Out in Ost-Berlin“, „Ich kenn keinen – Allein unter Heteros“) ins Zentrum seiner neuen Kinodokumentation gestellt hat, ist nicht nur eines jener politischen Opfer, derer mit der Mahnwache gedacht werden soll. Er hat es sich auch selbst zur Lebensaufgabe gemacht, aktiv an das erlittene Unrecht zu erinnern und über den „Unrechtsstaat“ aufzuklären.

Als Jugendlicher hatte der Ost-Berliner in einem Budapester Thermalbad einen Westberliner Politiker kennengelernt und eine Liaison mit dem um einiges älteren Mann begonnen. „Ein Machertyp. Solche Männer gab es in Ost-Berlin nicht“, erklärt Röllig die damalige Faszination. „Mit 17 fand ich das natürlich wie ‚Denver-Clan‘.“

1987 versucht er zu ihm in den Westen zu fliehen. An der ungarisch-jugoslawischen Grenze wird Röllig jedoch festgenommen. „Ich konnte die Freiheit schon sehen. Ich hätte den Sand fressen mögen, weil ich es nicht geschafft habe.“

Traumatische Wiederbegegnung mit dem Peiniger

Nach drei Monaten Stasi-Haft wird er im Rahmen einer allgemeinen Amnestie entlassen und kurze Zeit später schließlich ausgebürgert. In West-Berlin muss er dann allerdings erfahren, dass der Mann, für den er das alles auf sich genommen hat, ein verheirateter Familienvater ist.

Ende der 1990er-Jahre begegnet Röllig, der mittlerweile als Verkäufer im KaDeWe arbeitet, dort ausgerechnet jenem Stasi-Offizier, der ihn einst beim Verhör quälte. Die traumatische Wiederbegegnung führt zu einem völligen Zusammenbruch. Mario Röllig unternimmt einen Suizidversuch, entwickelt Depressionen und wird schließlich, auch bedingt durch eine HIV-Diagnose, arbeitsunfähig.

Mario Röllig in Hohenschönhausen
Zeitzeuge Mario Röllig im Hof der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen

Rölligs Biografie wird in „Der Ost-Komplex“ erst nach und nach aufgeblättert. Jochen Hick reiste dazu mit ihm nicht nur zu den Schauplätzen der gescheiterten Flucht, er begleitet ihn auch bei Führungen durch die Stasi-Gedenkstätte, zu Vorträgen bei Schulklassen und sogar zu einem CDU-Ortsverband – wo Röllig als offen schwules Parteimitglied nicht nur auf Verständnis stößt.

Auch wenn er mit anderen Mitstreiter_innen bei Veranstaltungen ehemaliger SED-Politiker_innen – wie etwa Egon Krenz – demonstriert, prallen Welten aufeinander. Auf der einen Seite stehen jene Menschen, die die Verbrechen des DDR-Systems anklagen. Auf der anderen diejenigen, die Methoden wie Bespitzelungsterror und Schießbefehl verteidigen, Kritik an der DDR auch ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer noch als Staatsverrat betrachten und damit das Leid von Menschen wie Mario Röllig rechtfertigen.

Weder Held noch Vorzeige-Opfer

In solchen Szenen erscheint Verständigung oder gar Versöhnung chancenlos: Die einen fühlen sich nicht schuldig, und die anderen warten auf eine Entschuldigung jener, die ihr Leben zerstört haben, um mit dem Kapitel DDR endlich abschließen zu können.

Jochen Hick zeichnet seinen Protagonisten als grundsätzlich sympathischen Menschen, bleibt aber dennoch auf kritischer Distanz; er stilisiert ihn weder zum Helden noch zum Vorzeige-Opfer. Rölligs Dauereinsatz als inzwischen routiniertem Zeitzeugen gewinnt Hick so manch befremdliche ironische Momentaufnahme ab: etwa, wenn er ein Interview eines Reporters mitfilmt, der Röllig durch den Zellentrakt im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen gehen lässt und fernsehtaugliche Bilder der Betroffenheit zu inszenieren versucht.

Rölligs Eltern wiederum, einst getreue SED-Parteigenoss_innen, blättern in ihrem Fotoalbum und zeigen stolz die Bilder ihrer diversen Autos, die sie sich nach der Wende angeschafft haben. Allesamt Westfabrikate, versteht sich. Anders als ihr Sohn haben sie den Wechsel der Systeme offenbar ohne Gram und Verletzung gemeistert.

„Der Ost-Komplex“. D 2016. Regie und Buch: Jochen Hick. Mit Mario Röllig, Egon Krenz, Kurt Biedenkopf, Alexis Tsipras, Klaus Lederer, Sahra Wagenknecht. 90 Minuten, bundesweiter Kinostart am 17. November.

Website zum Film: www.der-ost-komplex.de

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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