Vitamin D ist wegen seiner Bedeutung für die Knochen bekannt und mittlerweile auch in der HIV-Medizin ein Thema. Siegfried Schwarze, Mikrobiologe und HIV-positiv, über die Potenziale dieses Wirkstoffs

Siegfried, wie bist du auf das Thema „Vitamin D“ gekommen?

Es muss 2009 gewesen sein, als ich zum ersten Mal drauf gestoßen bin. Damals las ich einen Artikel zu der Frage, warum Menschen unterschiedliche Hautfarben haben. In Afrika beispielsweise schützt dunkle Haut vor zu viel Sonnenlicht, was aber auch bedeutet, dass der Körper weniger Vitamin D produziert. In unseren Breiten nehmen dunkelhäutige Menschen viel zu wenig Sonnenlicht auf – die Folge ist eine Vitamin-D-Unterversorgung oder sogar ein Mangel. Bei Hellhäutigen dagegen kann auch bei geringerer Sonneneinstrahlung noch genügend Vitamin D gebildet werden. Damit hatten sie, evolutionsgeschichtlich betrachtet, auf der Nordhalbkugel einen Überlebensvorteil. Aber durch die heutige Innenraum-betonte Lebensweise wird auch bei heller Haut nicht mehr genug Vitamin D produziert.

Durch den Artikel ist mir bewusst geworden, wie wichtig dieser Wirkstoff für den Organismus ist. Und wenn mein Interesse für etwas geweckt ist, verbeiß ich mich darin. So habe ich eben auch erfahren, dass Vitamin D gar kein Vitamin ist, sondern ein Hormon, genauer: ein Steroidhormon, das der Körper selbst produzieren kann.

Und was bedeutet das?

Steroidhormone beeinflussen ganz verschiedene lebenswichtige Prozesse. Fast alle Körperzellen haben auf ihrer Oberfläche einen Rezeptor für Vitamin D, über den seine hormonartige Wirkung vermittelt wird. Man vermutet, dass ein Drittel aller menschlichen Gene von Vitamin D kontrolliert wird – das ist enorm und zeigt, dass weit mehr als nur die Knochengesundheit davon abhängt.

„Ein Drittel aller Gene wird von Vitamin D kontrolliert“

Und wie alle Steroidhormone unterliegt auch Vitamin D einem Rhythmus. Kortison beispielsweise folgt einem natürlichen Tagesrhythmus: Seine Konzentration im Blut ist tagsüber und nachts jeweils unterschiedlich hoch. Geschlechtshormone wie Östrogen und Gestagen haben dagegen einen Monatsrhythmus. Und Vitamin D folgt offensichtlich einem Jahresrhythmus, weil es hauptsächlich in den hellen, sonnigen Monaten durch UV-Licht gebildet wird.

Aber Vitamin D kann doch auch über die Nahrung aufgenommen werden.

Ja, schon. Aber Nahrungsmittel enthalten nur sehr wenig Vitamin D. Um es in ausreichender Menge aufzunehmen, müsste man täglich zum Beispiel zwei Kilo Zuchtlachs oder 50 bis 100 Eigelb verspeisen – das ist ziemlich unrealistisch. Entscheidend für einen ausreichenden Vitamin-D-Spiegel ist, dass man genug Sonnenlicht abbekommt.

Wie hoch sollte der Vitamin-D-Spiegel denn sein?

Ein Problem ist die Definition des Normwerts. Die Medizin hat lange Zeit nur auf die Knochengesundheit gestarrt. Aber das ist nur das unterste Ende der Fahnenstange, weil der  Vitamin-D-Spiegel, der zur Vorbeugung von Osteoporose oder Rachitis nötig ist, mit 20 bis 30 Nanogramm pro Milliliter Blut relativ niedrig ist. Ich selbst orientiere mich eher an Blutwerten von Menschen, die viel an der Sonne sind wie etwa Landschaftsgärtner, Bademeister oder Dachdecker, oder auch an denen von Wildtieren in ihrer natürlichen Umgebung. Und da ist man bei Werten von 60 bis 100 Nanogramm pro ml/Blut.

„Ich orientiere mich an Blutwerten von Bademeistern oder Dachdeckern“

Und wie erreicht man einen optimalen Vitamin-D-Spiegel?

Den erreicht man mit einer Vitamin-D-Gabe von 20.000 bis maximal 60.000 Einheiten pro Woche. Bei einer Überdosierung kommt es zu Nierensteinen, wovor die Ärzte eine Höllenangst haben. Aber mit therapeutischen Dosierungen kommt man nie in einen gefährlichen Bereich, der beginnt frühestens bei 250 Nanogramm pro ml/Blut. In einer aktuellen US-amerikanischen Studie hat man den Teilnehmern ein halbes Jahr lang 20.000 bis 60.000 Einheiten pro Tag verabreicht – nichts ist passiert. Auch übers Sonnenlicht kann man sich nicht vergiften: Wenn der Körper genug Vitamin D hat, produziert er einfach keines mehr.

Ärzte halten oft wenig von Vitaminpräparaten.

Aber viele futtern pfundweise Vitamin-D-Pillen! Auch ich bin kein Freund von Vitamin-A-, -C- oder -E-Präparaten: Sie wirken entweder gar nicht oder sind schädlich. Doch hier handelt es sich um eine Hormon-Ersatztherapie: Wer nicht genug Vitamin D hat, muss es eben zuführen. Das wäre bei einer Menge Leute nötig: Laut Robert-Koch-Institut sind hierzulande rund 60 Prozent der Bevölkerung Vitamin-D-unterversorgt, wobei der Normwert ohnehin schon zu niedrig angesetzt ist.

„60 Prozent der Bevölkerung Deutschlands sind unterversorgt“

Bei einem Mangel dauert es allerdings Monate, bis man mit Vitamin-D-Gaben auf einen vernünftigen Blutwert kommt. Der Diabetologe Dr. Raimund von Helden, der seit 2005 zum Vitamin-D-Mangel forscht, empfiehlt deshalb eine sogenannte Set-up-Therapie mit hohen Vitamin-D-Gaben innerhalb weniger Tage.

Wie macht sich ein Vitamin-D-Mangel überhaupt bemerkbar?

Zwar gibt es Anzeichen, die auf einen Mangel hinweisen, aber die sind ziemlich unspezifisch wie zum Beispiel Lidzucken, rissige Fersen, weiße Flecken in den Nägeln oder Leistenschmerzen. Wer solche Symptome hat, muss also nicht unbedingt einen Vitamin-D-Mangel haben. Aufschluss gibt letztlich nur eine Blutuntersuchung im Labor.

Was weiß man denn nun Genaues über die Wirkung von Vitamin D? Gibt’s dazu Studien?

Zig Krankheiten sind mit einem Vitamin-D-Mangel assoziiert, etwa chronisch entzündliche Erkrankungen wie Rheumatoide Arthritis, Morbus Crohn oder Multiple Sklerose. Aber Studien gibt’s dazu leider kaum. Ein paar Wirkungen sind immerhin nachgewiesen. In Finnland beispielsweise werden Nahrungsmittel mit Vitamin D ergänzt – Diabetes vom Typ 1 kommt daher dort so gut wie nicht vor. Schweizer Studien in Altersheimen haben gezeigt, dass durch Vitamin-D-Gaben die Zahl der Stürze schnell und stark zurückgegangen ist, weil die Muskulatur wieder gut funktioniert. In weiteren Studien konnte durch Vitamin D auch die Zahl von Knochenbrüchen und von Krankheitsschüben bei Multipler Sklerose verringert werden.

Vitamin D hilft übrigens auch bei Schuppenflechte. Meiner Frisörin, die diese Hautkrankheit hat, brachte ich Vitamin-D-Pillen mit. Nach einem Monat sagte sie zu mir: „So gut war’s noch nie, nicht mal bei der Kortison-Therapie!“

„Bis der Mallorca-Urlaub auf Kassenrezept kommt – das wird dauern“

Früher wurden doch auch Tuberkulose-Kranke mit Sonnenkuren behandelt.

So wie in Thomas Manns „Zauberberg“. In der Schweiz gab’s damals Heliotherapie-Zentren, wo man Tb-Patienten einfach in die Sonne gelegt hat. Dann wurde dieser Ansatz durch die Antibiotika vergessen. Aber jetzt besinnt man sich wieder darauf. In den Bergen ist die Sonneneinstrahlung auch im Winter sehr hoch, bei uns dagegen ist von Oktober bis März nix drin mit Vitamin D durch UV-Licht. Bis der Mallorca-Urlaub auf Kassenrezept kommt – das wird dauern!

Zu wenig Sonne macht außerdem depressiv, und es gibt Hinweise darauf, dass Vitamin-D-Gaben psychisch stabilisieren und antidepressiv wirken. Ich hab’s bei mir selbst gemerkt: Seit ich die Pillen nehme, kratzt mich nicht mehr, was mich früher gestresst hat. In Kuba ist mir aufgefallen, wie entspannt und zufrieden die Leute dort leben, obwohl es ihnen wirtschaftlich viel schlechter geht als der hiesigen Bevölkerung, was sicherlich auch mit dem sonnigen Klima zu tun hat.

Inwiefern profitieren nun Menschen mit HIV von Vitamin-D-Gaben?

Sie haben ja die gleichen Gesundheitsprobleme wie alle anderen Leute auch und deshalb auch den gleichen Nutzen von einer Ersatztherapie. Ich zum Beispiel krieg dank Vitamin-D-Tabletten keinen Herpes mehr. Vitamin D hat einen entscheidenden Einfluss aufs Immunsystem, doch auch hier stehen wissenschaftliche Belege noch aus.

„Dank Vitamin-D-Tabletten krieg ich keinen Herpes mehr“

Untersucht werden müsste zum Beispiel, warum die Hepatitis-B-Impfung bei Menschen mit HIV nicht so gut anschlägt und ob sich das durch Vitamin-D-Gaben verbessern ließe. Zu beachten ist übrigens auch, dass das HIV-Medikament Efavirenz den Vitamin-D-Spiegel senkt, weshalb man ihn gegebenenfalls überprüfen lassen soll.

Wird bei HIV-Positiven der Vitamin-D-Spiegel automatisch gemessen?

Wenn der Arzt mit dem Thema vertraut ist, wird er ihn messen. Oder er verschreibt seinen HIV-Patienten gleich eine Jahrespackung Vitamin D, ohne erst den Spiegel zu messen – beides kostet ungefähr gleich viel. Ob an Vitamin D gedacht wird, hängt maßgeblich vom einzelnen Arzt ab. Gut ist die Versorgung erfahrungsgemäß in Großstädten, schlecht in ländlichen Regionen.

Kommen die Krankenkassen für die Präparate auf oder muss man sie selbst bezahlen?

Die Kassen übernehmen die Kosten nur bei einem nachgewiesenen Vitamin-D-Mangel. Ist dieser behoben, muss man das Präparat selbst bezahlen. Aber das sollte einem die Gesundheit schon wert sein – 30 Euro pro Jahr kriegt man schon noch zusammen.

Du beklagst, dass man noch viel zu wenig über die Wirkung von Vitamin D weiß. Warum wird sie denn nicht erforscht?

Weil die Substanz viel zu billig ist! Untersucht wird nur, was großen Gewinn verspricht – auch wenn es einen großen Teil der Bevölkerung betrifft und man dadurch viel Geld sparen könnte. Aber niemand, auch die Politik nicht, ist am Sparen interessiert, weil alle daran verdienen.

„Untersucht wird nur, was großen Gewinn verspricht“

Das ist wie in der Drogenpolitik: Die würde ganz anders aussehen, wenn es wirklich darum ginge, von Menschen Schaden abzuwenden. Man müsste die Forschungspolitik ändern, Forschung müsste vom Staat statt von gewinnorientierten Unternehmen finanziert werden. Aber so wird nur entwickelt, was dann Tausende kostet, wie beispielsweise neue Hepatitis-C-Medikamente.

Wichtig sind aber nicht nur klinische Studien, sondern auch die Beobachtungen und Erfahrungen des einzelnen Arztes – aber die sieht man in keiner einzigen Studie abgebildet!

Eine letzte Frage: Als Therapie-Aktivist bist du viel in der Positiven-Selbsthilfe unterwegs – jetzt auch in Sachen Vitamin D? Unlängst war von dir als „Vitamin-D-Papst“ die Rede …

Na, wer hat das denn gesagt! Also, Vitamin D ist jetzt nicht mein Hauptthema, auch wenn ich es für sehr wichtig halte und bei Gelegenheit anspreche. Das mache ich beispielsweise bei Positiventreffen im Waldschlösschen, wenn’s um die Frage geht, was ich selbst für meine Gesundheit tun kann. Und zusammen mit der Deutschen AIDS-Hilfe habe ich das gerade erschienene med.info 04 zu vitamin d erstellt, in dem das Wichtigste zum Thema zusammengefasst ist.

Siegfried, vielen Dank für das Gespräch!

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Über

Christine Höpfner

Christine Höpfner war langjährige Mitarbeiterin der Deutschen AIDS-Hilfe. Sie ist feste freie Redakteurin von magazin.hiv.

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