Carsten Schatz, aufgewachsen in der DDR, wurde nach seiner HIV-Diagnose vor über 25 Jahren zum Aids-Aktivisten. Heute sitzt er im Berliner Abgeordnetenhaus. Nicht nur was das Thema HIV angeht, ist er Optimist.

Carsten Schatz ist ein leidenschaftlicher Aids-Aktivist und Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses für Die Linke. Carsten ist Ostdeutscher. Er wurde 1970 auf der anderen Seite der Mauer in der ostdeutschen Kleinstadt Altenburg geboren. Er zog mit seinen Eltern nach Berlin, als er noch klein war, und war 19 Jahre später Zeuge des Mauerfalls. Ein historisches Ereignis, das sein Leben über Nacht veränderte.

1991, im Alter von 21 Jahren, teilte ihm sein Arzt unerwartet mit, dass er mit HIV infiziert ist. „Ein großer Schock, für mich war das ein Todesurteil.“ Die Dreifach-Kombinationstherapie, die ab 1996 verfügbar war, gab ihm seine Zukunft zurück. Er studierte weiter und begann eine erfolgreiche politische Karriere.

Heute, an einem kühlen Sonntagnachmittag, fast 25 Jahre nach der Diagnose, nimmt er sich die Zeit, um darüber zu sprechen, wie es damals in den hektischen 90er-Jahren war. Er erzählt mir von den Sachen, die ihn noch heute beschäftigen, und lacht, wenn ich ihn nach seinen Plänen für die Zukunft frage. In einem Vierteljahrhundert hat sich vieles verändert, aber eines ist klar: Der Idealist und Aids-Aktivist in ihm ist immer noch quicklebendig. „Wir sind noch nicht fertig. Ich möchte auch dann noch leben, wenn in Deutschland niemand mehr an Aids stirbt.“

Hinter der Mauer

„Heute spricht man sehr viel darüber, wie schlecht es den Menschen damals in der DDR ging, aber ich habe das überhaupt nicht so empfunden. Wie jedes Kind war auch ich Mitglied in der nationalen Jugendorganisation. Die war nicht unpolitisch, hat sich aber vor allem auf ‚Kinderkram‘ wie Singen, Fahrten aufs Land und Vogelbeobachtung konzentriert. Außerdem haben mich meine Eltern schon von klein auf dazu ermutigt, selbstständig zu denken und mich aktiv einzumischen, wenn ich sehe, dass etwas falsch läuft.

„Meine Eltern haben mich dazu ermutigt, mich aktiv einzumischen“

1988 beendete ich die Schule und musste zum Militär. Ich hatte mich damals bereits geoutet. Es dauerte einige Zeit, bis ich mit meiner Homosexualität umgehen konnte, aber andererseits hatte ich nie das Gefühl, dass ich etwas Falsches tat. Homophobie war kein Problem. Es gab sie, jedoch nur sehr subtil, und sie machte sich nur in kleineren Dingen bemerkbar. Ostberlin war sicherlich keine Wüste, was das schwule Leben anbelangt. Es gab viele Bars und Treffpunkte und reichlich Möglichkeiten für die Suche nach schnellem, spontanem Sex.

Bei der Armee war man meist weit weg von zu Hause stationiert. Viele hatten damit emotional ein Problem, aber mir war das egal. Ich machte eine Ausbildung zum Offizier und musste mich mit denjenigen beschäftigen, die sich schwer damit taten. Die Tatsache, dass ich im Militärdienst nur wenig Probleme hatte, finden Sie vielleicht befremdlich, aber ich bin während des Kalten Krieges aufgewachsen. Damals dachte ich, dass es gut ist, wenn beide Parteien gleich stark sind und dass das der beste Weg war, um das Gleichgewicht und damit den Frieden aufrechtzuerhalten. Als 1989 die Mauer fiel, sah ich die andere Seite der Medaille und zog nach Westberlin.

Nach der Mauer

Portrait Carsten SchatzDie erste Phase nach dem Fall der Mauer war geprägt von sehr viel Offenheit. Jeder wollte mit dir sprechen, jeder wollte helfen. Das waren aufregende Zeiten! Hier um die Ecke können Sie noch einige meiner Graffitis an der Wand sehen. Ich habe damals geschrieben: Die Angst hat ein Ende!

„Menschen sollen selbst entscheiden können, wie sie ihr Leben leben möchten“

Es war eine gute Zeit, aber auch eine für Ernsthaftigkeit. Eine Zeit, in der man Dinge verändern konnte. Ich wollte, dass jeder sein Leben selbst bestimmen kann. Ich glaube das noch immer. Menschen sollten selbst entscheiden können, wie sie ihr Leben leben möchten.

Natürlich ist die Euphorie der ersten Monate verschwunden, aber das hat mir keinen Dämpfer versetzt, ich hatte das erwartet. Ich wohnte damals in einem besetzten Haus. Vom ersten Tag an haben wir sehr heftig diskutiert. Es gab interne Konflikte und auch Konflikte mit den Behörden. Aber alles in allem waren es glückliche Jahre.

Ja, das schwule Leben! Es hat Spaß gemacht, viel Spaß! Die Leichtigkeit und Offenheit bei allem, was mit Homosexualität zu tun hatte, waren fantastisch. Ich war viel unterwegs. Ich besuchte zum ersten Mal eine Sauna… Es war eine aufregende Zeit voller neuer Erfahrungen.

Aids und die große Traurigkeit

Ich erfuhr kurz vor Weihnachten 1991, dass ich HIV-positiv war. Das war das schlimmste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe. Ich war gerade einmal 21 Jahre alt… es kam völlig unerwartet. Ich war wegen einer anderen Geschichte im Krankenhaus und wurde ohne mein Wissen auf HIV getestet. Das war ein herber Schlag für mich! Ich bin explodiert, ich war wütend! Der Freund, der mich abholte, hatte am meisten darunter zu leiden. Ich konnte mich nicht mehr kontrollieren. Für mich war das ein Todesurteil. Ich ging davon aus, dass ich nicht älter als 25 werden würde.

„Männer mit Aids verschwanden einfach nach einiger Zeit“

Es ist eine Fehlannahme, dass Aids damals überall sichtbar war. Männer mit Aids verschwanden einfach nach einiger Zeit. Viele schämten sich und sprachen einfach nicht darüber. Ich brauchte ungefähr ein Jahr, um damit umgehen zu können. Im Sommer 1992 suchte ich Hilfe. Ich begann, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Warum sollte ich mich schämen? Ich fand Pluspunkt Berlin, eine kleine Aids-Organisation. Jeden Freitag trank ich Kaffee mit Schicksalsgefährten und fing dort bald als Volontär an. Vielleicht kann man das als den Beginn meiner Karriere als Aids-Aktivist ansehen.

Ich lebte von einem Tag zum nächsten, stellte aber drei Grundsätze dafür auf, wie ich leben wollte. Zuerst einmal wollte ich keine Probleme bekommen, dafür hatte ich keine Zeit. Ich wollte so gesund wie nur möglich leben, und schließlich habe ich nur die Dinge gemacht, die ich auch wirklich wollte.

1993 fand die internationale Aids-Konferenz in Berlin statt. Ich nahm daran teil und lernte dort einen Amerikaner kennen, in den ich mich total verliebte. Ich hatte Liebe noch nie so empfunden wie mit ihm, er war die Liebe meines Lebens. Er wohnte in Los Angeles, aber wir hatten dennoch eine Beziehung. Wir flogen einfach hin und her, um uns zu sehen. Im Sommer 1995 zog er nach Berlin. Er hatte bereits Aids. Einige Monate später wurde er sehr krank, und auch das war kurz vor Weihnachten. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Das war gar nicht so einfach, weil er sich ja mit einem Touristenvisum in Deutschland aufhielt. Er war praktisch illegal hier. Die Ärzte diagnostizierten ein schweres Lymphom in seinem Gehirn. Im Januar 1996 sagten sie, dass sie nichts mehr für ihn tun könnten. Seine Zukunftsaussichten waren gleich null. Er flog zurück nach Los Angeles, um zu sterben. Ich begleitete ihn, und er starb einen Monat später.

Ich war 26 und wollte mit diesem Mann zusammen alt werden. Das war ein derartiger Verlust. Ich fühlte mich völlig leer. Ein weiterer großer Schlag, der mich heftig mit meinem eigenen Schicksal konfrontierte.

Einige Monate später auf der Aids-Konferenz in Vancouver erhielten wir die Nachricht von den Dreifachkombinationen. Ich dachte, oh mein Gott, warum kam das nicht ein paar Monate früher? Dann wäre all das nicht passiert. Wissen Sie, ich handle gern! Und wenn man sich in einer Situation befindet, in der man einfach nichts tun kann wie bei ihm…

Ich hasste das. Es war einfach furchtbar!

Die politische Karriere des Carsten Schatz

Ich hatte mich bereits seit jungen Jahren in der Lokalpolitik engagiert, aber 1996 bekam ich eine Stelle bei der PDS. Nein, meine HIV-Erkrankung war für sie überhaupt kein Problem. Die Arbeit hat mir geholfen! Durch die tägliche Routine eines Jobs kommt man besser durch schwierige Zeiten. Ich arbeite gern. Ich würde hundert Mal lieber bei der Arbeit sterben, statt herumzusitzen und nichts zu tun. Heutzutage ist es ganz normal, zu arbeiten und HIV zu haben. Gott sei Dank! Damals war ich einer der wenigen, die einen Job hatten.

„Ich wollte die Welt verändern“

1997 fing ich mit der Einnahme der Medikamente an, und dadurch bekam ich eine neue Zukunft. Ich begann mit dem Studium. Endlich. 1999 habe ich neben meiner Arbeit für die PDS Kurse in Geschichte, Politik und Philosophie belegt.

Warum ich mich ausgerechnet für die Politik entschieden habe? Die Antwort darauf ist einfach: Ich wollte die Welt verändern und glaube, dass die Politik am besten dafür geeignet ist. Meine Großeltern sagten immer: ‚Wenn du etwas verändern willst, musst du das auch organisieren. Finde Gleichgesinnte, gründe eine Gruppe, sprecht miteinander und achtet auf das, was gerade passiert.‘ Mich motiviert, wenn etwas funktioniert. In einer Gruppe gibt es viel Energie! Aber ich liebe auch die Politik! Ich mag Gespräche und Diskussionen. Manchmal vertritt man dieselbe Meinung, manchmal eben nicht. Das macht nichts, es bringt einen immer ein Stück weiter. Ich mag den Zynismus nicht, dem man heute so oft begegnet.

Meine Stärken? Puh…Ich glaube, dass ich immer versuche, ich selbst zu sein. Mir selbst treu bleiben, das ist mein Ausgangspunkt. Die Menschen merken das. Ich lege immer alle meine Karten auf den Tisch. Wenn wir nicht einer Meinung sind, dann können wir darüber sprechen. Ich möchte andere einbeziehen und ihnen helfen, diese Mitwirkung zu gestalten. Ich möchte, dass Menschen Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Ich glaube an diese Arbeitsweise und denke, das ist der einzige Weg, um Dinge zu erledigen.

Die PDS, in der ich angefangen hatte, schloss sich 2007 mit einer anderen Partei zusammen, woraus Die Linke entstand. 2001 wurde ich zum Mitglied des lokalen Parteikomitees gewählt. Danach wurde ich fünfmal wiedergewählt. 2011 beendete ich meine Tätigkeit als Parteisekretär, um als Kandidat für das Abgeordnetenhaus hier in Berlin zu kandidieren. Es war eine seltsame Wahlnacht. Wir hatten als Partei nicht gut abgeschnitten. Zuerst sah es so aus, als wäre ich nicht gewählt worden, aber als ich nach Hause kam, sah ich im Fernsehen meinen Namen als neugewähltes Parlamentsmitglied. Aber eine Nachzählung ergab, dass dies doch nicht der Fall war. 2013 wurde aufgrund eines Todesfalls ein Sitz frei, und ich wurde Mitglied des Abgeordnetenhauses.

2015 und die Zukunft…

Es gibt nur wenige Gründe, um über das deutsche Gesundheitssystem zu klagen, auch was HIV und Aids anbelangt. Es gibt viele erfahrene Ärztinnen und Ärzte, das ist das Wichtigste. Wenn Leute zu mir kommen und mich um Rat fragen, sage ich immer: ‚Such dir nicht den nettesten oder am schnellsten verfügbaren Arzt aus, sondern den erfahrensten. Das ist das Beste für dich.‘

„Wir haben alles, um sicherzustellen, dass niemand in Deutschland an Aids stirbt“

Vor zehn Jahren dachte ich, die Deutsche AIDS-Hilfe sei träge geworden. 2008 kandidierte ich deshalb für die Mitgliedschaft im Vorstand. Ich wurde gewählt und habe sechs Jahre lang versucht, Menschen über den Kampf gegen HIV und Aids aufzuklären. Wir sind noch nicht fertig damit. 2015 starben in Deutschland immer noch 600 Menschen an Aids – das sollte nicht passieren. Wir haben das Geld, das Wissen, die Infrastruktur und eine gut organisierte Gesellschaft, also alles, was man benötigt, um sicherzustellen, dass niemand in Deutschland an Aids stirbt. Wenn wir das schaffen, wäre das ein wunderbares Signal für andere Länder: Wir können Aids besiegen.

Als Mitglied des Abgeordnetenhauses bin ich Sprecher für viele verschiedene Themen wie EU-Angelegenheiten, LGBTI-Politik oder Solidarität, aber ich bin nicht für Gesundheitspolitik zuständig. Meine HIV-Infektion spielte durchaus eine Rolle, als ich das Amt 2013 annahm. Hätte ich meinen HIV-Status angeben sollen? Ich hatte mich dafür entschieden. Wegen der ganzen Medienaufmerksamkeit wurde ich sofort zu einem bekannten Mitglied des Abgeordnetenhauses, während die meistern Berliner keine Ahnung haben, wer meine Kollegen sind.

Meine Pläne für die Zukunft? Oh, was für eine Frage! Ich hatte nie erwartet, so lange zu leben – das ist also etwas, worüber ich mich freue. Ich lebe seit Jahren mit einem neuen Partner zusammen, auch das macht mich froh. Nun, was noch? Ich glaube, vieles macht mich glücklich, auch persönliche Dinge…

„Ich bin in jeder Hinsicht ein Optimist“

Ich bin in jeder Hinsicht ein Optimist und habe Hoffnung, was die Zukunft angeht. Ich setze mir Ziele, egal, ob ich sie zu einhundert Prozent erreichen werde oder nicht. Man muss es auf jeden Fall versuchen. Sich Ziele zu setzen, gibt deiner Arbeit eine Richtung. Alles wird in Bewegung gesetzt. Während des Prozesses merkt man allmählich, wie weit man bereits gekommen ist und was man noch tun muss.

Um mich selbst zu beschreiben, verwende ich gern das Bild eines Steinewerfers. Ab und zu werfe ich einen Stein in einen Teich. Das verursacht Wellen, die sich ausbreiten. Wenn ich in Zukunft noch einige Steine mehr werfen kann, wird mich das glücklich machen.“

Text: Erwin Kokkelkoren

Fotos: Marjolein Annegarn

Übersetzung: Agentur MacFarlane

Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Stone Thrower“ (deutsch: „Steinewerfer“) auf atlas2018.org, der Website zum Projekt „ATLAS2018“, mit dem die niederländischen Künstler Erwin Kokkelkoren und Bert Oele die Geschichten von Menschen mit HIV aus aller Welt erzählen (wir berichteten auf magazin.hiv). 2018 sollen die Porträts und Interviews auf der Welt-Aids-Konferenz in Amsterdam präsentiert werden. Eine Auswahl stellen wir hier vor und danken Erwin Kokkelkoren und Bert Oele für das Recht zur Zweitveröffentlichung.

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