Reportage, in der der Autor zum ersten Mal als Dragqueen in einem queeren Club auftritt

Hallo, hallo, Küsschen, Küsschen, Umarmung. Alle Menschen in der „Monster Ronson’s Ichiban“-Karaokebar schauen mich an. Ich bin ein Mann, aber heute trage ich 15-Zentimeter-Absätze. Und drei Lagen Make-up. Vier Strumpfhosen. Schaumstoff an den Oberschenkeln und am Hintern. Eine blonde Perücke, die Dolly Parton nicht besser hätte aussuchen können.

Du bist aber groß

Die Schuhe schlüpfen von meinen Füßen, ich werde kurz unsicher. Nicht fallen, weitergehen, mit dem Po wackeln. Menschen, die ich nicht kenne, sagen mir, dass ich toll aussehe. Als Mann passiert mir das selten. Jeder dreht sich zu mir um. „Du bist aber groß“, sagen sie. Knapp 2,07 Meter, denke ich. Meine Arbeitskollegen und Freunde, die mich an diesem Abend unterstützen, übersehen mich trotzdem. Erst als ich „Hallo“ sage und vor ihnen stehe, erkennen sie, wer die große Blonde ist.

Heute trete ich das erste Mal als Drag Queen auf. Dafür habe ich „Dicki Minarsch“ erfunden, mein Drag-Alter-Ego. Sie und Sebastian, wie ich als Mann heiße, haben nicht viel gemeinsam. Für den heutigen Abend hieß es: Raus aus Sebastians Ralph-Lauren-Hemd, rein in Dickis Pailletten-Fummel, der fast den Hintern entblößt. Mission completed, würde ich sagen.

Bis vor einiger Zeit verurteilte ich Männer, die als Drag Queens aufgetreten sind. Das war mir zu schwul. Ich wollte mit solchen Menschen nicht in Zusammenhang gebracht werden. Ich dachte, ich sei eine andere Art Schwuler. Auf den CSD wollte ich nicht gehen, weil mir das auch zu schwul war. Was ich damit eigentlich meinte: Ich war mir selbst zu schwul.

Ich hatte ein Problem mit meiner eigenen sexuellen Identität – und es war mir nie bewusst, weil es in unserer Gesellschaft so normal ist, sich als schwuler Mann für sich selbst zu schämen. Das habe ich mit dem Ende meiner letzten Beziehung festgestellt. Ich habe mir Männer ausgesucht, die sich ihrer Sexualität schämen – und mir daraufhin vorgenommen, dass sich etwas ändern musste.

Spätestens seit RuPaul’s Drag Race, einer Art Casting-Show für Drag Queens, die seit 2009 ausgestrahlt wird, ist die Kunst der Drag Queens im Mainstream angekommen (auch dank Formaten wie Queer Eye). Sie macht der großen Masse greifbar, wieso Typen in Kleidern auftreten. Kleiner Spoiler: Es macht sehr viel Spaß. Und somit wurden Männer in Frauenkleidern, die zu Musik tanzen und den Mund mitbewegen, auf einmal cool. Bands wie Hurts drehten Musikvideos mit Drag Queens, RuPaul’s Drag Race-Kandidatinnen wurden berühmt und sehr erfolgreich, Miss Fame zum Beispiel ergatterte einen Werbedeal mit L’Oréal, und sogar die heterosexuelle Heidi Klum bekommt ein neues ProSieben-Format mit Drag Queens.

Ich fing an, schwule Literatur zu lesen. Mich mit meinen wahren Wünschen, meiner Identität auseinanderzusetzen. Und: Mich als der zu akzeptieren, der ich bin. Es ist sehr anstrengend, die ganze Zeit darüber nachzudenken, wer man sein soll, und nicht der zu sein, der man eigentlich ist.

Irgendwann dachte ich, vielleicht kann ich mich besser verstehen, wenn ich die eigene Identität quasi einmal über Bande spiele – wenn ich ein anderer werde. Oder besser gesagt: eine andere.

Zwei Wochen bevor ich als Dicki Minarsch auftreten soll, steige ich in den fünften Stock eines 60er-Jahre-Baus und habe das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Als würde ich einem Geheimpakt angehören. Einer Verschwörung. Und ein bisschen ist es auch so. Heute proben wir das erste Mal das Make-up für meine Drag-Performance. Wir, das sind ich und meine Drag Mother Morgæn Wood Callisto. Wir sind seit ein paar Monaten befreundet. Ich denke, es wäre doch bestimmt lustig, wenn ich als Drag auftreten würde. Also bitte ich Morgæn, mir zu helfen, mich vom Mann zur gestanden Drag Queen zu mausern – und im besten Fall auch aufzutreten. Damals ahne ich noch nicht, wie tief mich dieser Auftritt bewegen würde. Morgæn, deren echten Namen ich hier nicht nennen darf, ist bereit, mir zu helfen. Und sie hat tatsächlich einen Spot in der „Monster Ronson’s Ichiban“-Karaokebar ein paar Wochen später. Jeden Dienstag treten dort Drag Queens auf. Sie fragt mich, ob wir das zusammen machen möchten, sie teilte ihren Spot mit mir.

Kein Wunder, dass ich mich im Treppenhaus auf dem Weg zu ihr fühle, als würde ich etwas Verbotenes tun. Homosexuelle verstecken sich auch 25 Jahre nach Abschaffung des Paragraphen 175 noch. Wenn wir Händchen halten, wenn wir uns küssen, wenn wir uns zur Drag Queen schminken – alles ist mit einer Scham behaftet, egal wie tolerant sich unsere Szene-Kieze geben oder die Gesellschaft, weil Männer jetzt endlich auch einander heiraten dürfen. Es gibt eine Welt außerhalb dieser Wohlfühloasen: die echte Welt. Wo Homophobie auch heute noch allgegenwärtig ist, wo sie uns anstarren oder sogar schlagen.

Als meine Drag Mother wird sich Morgæn von nun an um mich kümmern. Das ist ganz normal unter Drag Queens, es ist gewissermaßen ein Generationenvertrag: Jede Drag Queen hatte eine Drag Mother, die ihr geholfen hat, sich zu finden. Morgæn hat Vanessa Jupiter und jetzt habe ich Morgæn.

Während sie mich schminkt und an mir rumzupft, denke ich über meine eigene Entwicklung nach. Als Mensch. Als Sebastian, als der ich hier heute sitze. Heute schlüpfe ich in einen BH, ein Kleid, ziehe eine Perücke auf und trage Tage später auch hohe Schuhe und merke auf einmal, dass ich das tue, was ich als Kind schon tat: die Kleider meiner Schwester tragen, die Schuhe meine Mutter anziehen, mit Make-up spielen, Barbies frisieren. So war ich eben als Kind. Ich mochte auch immer Autos und pinkel mich auch heute noch ein bisschen ein, wenn ich einen V8-Motor grölen höre.

Aber ich denke auch, dass ich wahrscheinlich auf V8-Motoren stehe, weil ich es muss. Weil es andere von mir erwarten und es männlich ist, auf Autos zu stehen. Auf Barbies, schöne Kleider und hohe Schuhe abzufahren hingegen nicht. Als Kind bin ich trotzdem zu Karneval als Erdbeere gegangen, in roter Strumpfhose und im roten Tutu – das hat verdammt viel Spaß gemacht. Für mich war es ganz natürlich.

Aber Verwandte sagten mir, ich solle nicht so mit dem Po wackeln, das gehöre sich nicht. Kindergarten und Schule trugen ihr Restliches bei, ich passte mich an. Die strahlend rote Erdbeere, die ich als Kind war, verschwand.

Ich traute mich nicht, das zu tun, was ich eigentlich wollte: mir High Heels an die Füße schnallen und ein Tutu tragen. Wieso auch nicht? Ich war ein Kind und ich glaube, der Mensch, der wir als Kind waren, ist die wahrste und authentischte Version von uns. Das waren ganz ungefiltert wir. Die Person, die wir heute sind, ist eine Mischung aus uns selbst und anderen Einflüssen wie der Gesellschaft, den Eltern, Traumata, Erfahrungen und so weiter.

In Morgæns Wohnzimmer stehen zwei Stühle, etliche Make-up-Paletten und ein paar Perücken. Morgæn experimentiert mit verschiedenen Foundations rum, trägt immer wieder Puder auf. Es geht an die Augen, die Lippen. Meine Augenbrauen werden komplett abgeklebt, damit sie diese ein Stück weit höher neu aufmalen kann. Alles an mir wird neu gemacht.“Was möchtest du für deine Performance? Wie soll es werden?“, fragt Morgæn. „Nuttig“, sage ich. Geprägt von Britney Spears, Christina Aguilera und Co. glaube ich an sexuell emanzipierte Frauen, die Alice Schwarzer die nicht lackierten Fingernägel hochrollen lassen. Sexuell emanzipiert zu sein heißt, sich so freizügig, so sexy zu zeigen, wie man eben möchte. Genau das will ich, denke ich: aufreizend sein.

Ich denke aber auch an das Kind im Erdbeer-Kostüm, das in diesem Moment sehr viel Spaß hat. Freiheit. Regeln brechen, auf die Meinung der anderen scheißen. Hier in diesem Moment, als mir Morgæn die Perücke aufsetzt, fühle ich mich wie ein Rebell und zeige all denen, die mir in der Schule „Schwuchtel“ hinterhergerufen haben, den Mittelfinger. Ich mache, was ich will, ihr Ficker.

Das Make-up ist fertig. Und der Song steht auch: „Glam“ von Christina Aguilera. Ein schneller Popsong, in dem es um das geht, was der Titel verspricht. Mit dem Song ergibt sich der Rest: Schuhe? 15 Zentimeter! Kleid? Kurz, mit Glitzer und Fransen! Queen? Yes, guuurl!

Ich sehe mich zum ersten Mal im Spiegel und kann es kaum glauben: Ich sehe fucking gut aus. Eine kurze blonde Perücke, ein super enges Kleid und eine blaue Felljacke unterstreichen mein Make-up. Unter mehreren Strumpfhosen trage ich Schaumstoff, der zurechtgeschnitten wurde. Dieser sorgt dafür, dass ich Kurven habe.

In der Nacht vor meinem Auftritt schlafe ich schlecht. Ich bin den ganzen Tag aufgekratzt. Ich fahre wieder zu Morgæn in die Wohnung. Dort pinselt sie in meinem Gesicht rum, um es zu einem anderen zu machen. Ich werde mich zum ersten Mal der Welt als Dicki Minarsch zeigen, auch für Morgæn wird der Abend zu einer Premiere. Sie tritt zum ersten Mal als Drag King, also als Mann, auf. Für gewöhnlich treten Frauen als Drag Kings auf. Heute ist aber alles egal, wir scheißen nicht nur auf die Regeln der Anderen – wir machen unsere eigenen.

Fünf Stockwerke tiefer, dreißig Minuten später. Wir warten aufs Taxi. Ich habe bereits ein paar Horrorgeschichten von Fahrern gehört, die ihre Kunden homophob beleidigt haben. Es klingt kitschig, aber ich glaube, dass Gott auf uns aufpasst. Es kann nichts schief gehen, wir sind zu weit gekommen, denke ich, steige in den schwarzen Toyota ein und versuche zu atmen. Heute bin ich dem Himmel 15 Zentimeter näher.

Ankunft an der Bar. Ich muss die vorbeifahrenden Autos abwarten. Aufregung. Show Time. Der blonde Berg an Kunsthaar ist wahrscheinlich das Erste, was die Leute vor der Bar hinter dem Auto erblicken. Ich stöckele Richtung Eingang. Etwas wackelig ist es in den Schuhen – bisher hatte ich nur in meiner Küche und im Schlafzimmer geübt, darin zu laufen. Die Berliner Gehwege sind ein anderes Kaliber. In der Bar führt mich Morgæn vorbei am Empfang, der Garderobe, den Menschen. Alle schauen mich an. Wir verschwinden backstage.

In dem kleinen Raum kann man sich kaum umdrehen. Ich sehe nackte Menschen, einen Schminktisch, eine Pole-Dance-Stange. Eigentlich ist die Garderobe eine Karaoke-Kabine. Winzig. Da ich schon komplett hergerichtet bin, müssen wir nichts mehr tun. Nichts, womit ich mich ablenken kann, und dann, dann geht alles wahnsinnig schnell. Nach einem kurzen Intro sind wir dran, stehen an der Seite der Bühne. 22:30 Uhr. Ich höre meinen Namen, nicht „Sebastian“, sondern „Dicki Minarsch“, und es fühlt sich trotzdem an, als wäre es mein Name.

Aufstehen, Requisiten mitnehmen, auf die Bühne gehen. Stehen. Rücken zum Publikum. Atmen. Die ersten Takte. Christina Aguileras Stimme erklingt. Ich drehe mich um – Applaus. Tatsächlich, die Leute jubeln mir zu, sie mögen mich. Ich gehe die ersten Schritte – nochmal Applaus. Ich schwinge die Hüften, ich fummle an mir rum, ich ziehe die erste Jacke aus – wieder Applaus.

Die 3:39 Minuten, die unser Song dauert, vergehen im Flug. Im wahrsten Sinne: Ich fliege über die Bühne, Morgæn an meiner Seite. Zum krönenden Abschluss streckt sie ihren nackten Hintern gen Publikum. Ich feuchte den Zeigefinger meiner rechten Hand an, lege ihn auf ihre rechte Pobacke. Unsere letzte Szene, die Leute tosen.

Am nächsten Tag merke ich erst, wie sehr mich die Performance und die Vorbereitungen geschlaucht haben. Ich bin müde. Mein Handy vibriert immer wieder. Freunde schicken mir Videos und Fotos, sie sind stolz auf mich. Wenn ich die Bilder von mir als Drag sehe, macht mich das jedoch traurig.

Das Gefühl des Glücks und der Freiheit, das ich gestern gespürt habe, lässt nach. Es wird mir bewusst, dass das nicht die Norm ist. Nicht jeder kann so sein, wie er ist oder wie er sein möchte. Menschen werden angefeindet, ausgegrenzt, verletzt. Dabei steckt unter der Perücke, all dem Make-up, in den hohen Schuhen nur ein Mensch, der sich nichts mehr und weniger wünscht, als er selbst sein zu dürfen, und für eben diese Person, die er ist, geliebt zu werden.

Mit dem Ende meiner Performance, in dem Moment, in dem ich das Kleid und damit auch Dicki Minarsch wieder abgelegt habe, habe ich etwas gelernt: Ich muss mir die Freiheit nehmen, ich selbst zu sein. Niemand wird sie mir schenken, außer ich selbst.

Mir kann zwar immer noch jemand sagen, dass ich nicht so sehr mit dem Hintern wackeln soll, wie damals als Kind. Allerdings kann ich mich heute ohne ein Gefühl der Abhängigkeit widersetzen. Ich muss keinen Teil von mir begraben wie damals das Erdbeer-Kostüm. Heute weiß ich, dass ich das Recht habe, so viel mit dem Po zu wackeln, wie ich will.

Ich bin froh, dass ich während meines Auftritts als Dicki Minarsch nicht gestolpert und hingefallen bin. Aber auch das wäre OK gewesen. Stolpern, Hinfallen, das gehört zum Leben. Ich bin bei meinem Auftritt vielleicht nicht gefallen, dafür aber symbolisch viele Male zuvor in meinem Leben. Und eben diese Stürze haben mich auch dorthin gebracht, wo ich heute bin: An meinen Schreibtisch, an dem ich diesen Text schreibe. In 15-Zentimeter-Hacken. Dieser Text ist ursprünglich auf VICE.de erschienen.

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