Die gebürtige Litauerin Wanda Vrubliauskaite kam als 13-Jährige nach Berlin, war Zwangsarbeiterin, Trümmerfrau und schließlich 35 Jahre lang Wirtin der „kleinen Philharmonie“, einem Treffpunkt für Schwule. Ihr Engagement galt „ihren Jungs“ und Menschen mit HIV und Aids.

„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“.

Wie also erinnern wir uns an Menschen, die in der Aids- und Selbsthilfe oder in deren Umfeld etwas bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis?

Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich unsere Reihe „Erinnern und Gedenken“ in loser Folge.

Wanda starb am 20. April 1997 an den Folgen von Krebs. Wir dokumentieren hier die Trauerrede ihres Freundes Uli Meurer, der im August 2016 verstorben ist, und danken seiner Familie für die Genehmigung dazu.

 

Sehr geehrte Familie, sehr geehrte Trauergemeinde,

als ich vor einigen Tagen gebeten wurde, heute zum Abschied von Wanda Vrubliauskaite einige Worte der Erinnerung und des Abschieds zu sprechen, war mir nicht bewusst, dass dies eine Aufgabe war, die mich über Tage gefangen halten würde.

Je mehr ich über die fast zehn Jahre unserer Freundschaft nachdachte und über all die unzähligen Geschichten, die sie mir während dieser Jahre aus ihrem Leben erzählte, umso schwieriger gestaltete sich die Aufgabe, dies in einer komprimierten Form heute wiederzugeben.

Selten habe ich einen Menschen kennengelernt, der so viele Facetten in sich vereinigte wie Wanda.

Wanda Vrubliauskaite herrschte über viele kleine Welten

Sie war eine Matriarchin, sie herrschte über ihr Reich, oder besser über die vielen kleinen Welten, die ihr Reich ausmachten.

Ihr Thronsaal war der Platz hinter der Theke in der kleinen Philharmonie, von dort aus regierte sie, spann ihre Fäden und hielt ihre Umwelt außer Atem.

Ihre Weiten waren ihr Lokal, ihr Lebenswerk, auf das sie stolz war und auch sein konnte, ihre Familie, die ihr wichtig war – wenn es ihr auch manchmal schwerfiel, dies zu zeigen–, und ihr privater Freundeskreis: Künstler, Mitglieder der jüdischen Gemeinde, Geschäftsleute und andere Menschen, die ihr nahe standen.

Diese Welten hielt sie sauber auseinander und achtete darauf, dass sie sich nicht zu sehr mischten.

Sie fühlte sich als Berlinerin, hat sich aber nie einbürgern lassen

Ihr Wirkungskreis war in erster Linie Berlin. Wenn sie sich darüber hinaus engagieren konnte, ohne die Stadt verlassen zu müssen, was sie in den letzten Jahrzehnten vermied, so nahm sie das gerne an.

Wanda war 1936 als Dreizehnjährige nach Berlin gekommen, aus Kaunas, ihrer Heimatstadt in Litauen – eine Heimat, die sie emotional nie verlassen hat.

Obwohl sie sich als Berlinerin fühlte, hat sie sich nie einbürgern lassen in ihre Stadt, in ihr Wahlheimatland Deutschland.

Ihre Heimat Litauen hat sie emotional nie verlassen

Wanda lebte bis zuletzt mit dem Nansen-Pass, der vor Kurzem noch bis über das Jahr 2000 hinaus verlängert wurde, worauf sie stolz war und was ihr Sicherheit verlieh.

Unabhängig davon, dass ihr die Auseinandersetzung mit der deutschen Bürokratie äußerst suspekt war und dies eine große Hürde vor der Einbürgerung bedeutete, wäre es ihr wohl als Verrat an ihrer wahren Heimat erschienen, eine andere Staatsbürgerschaft anzunehmen.

Sie hatte immer vor, einmal wieder Litauen zu besuchen, und hatte Pläne dafür gemacht. Als die politischen Verhältnisse es dann erlaubten, hatte sie Angst vor dem, was sie dort vorfinden könnte.

Wanda erzählte mit liebevollem Ton von ihrer Kindheit

Aufgewachsen war sie als jüngstes Kind einer großen, einfachen Familie, wie sie immer betonte. Ihr Vater war Stuckateur, Reichtümer waren keine vorhanden; aber den vielen Geschichten, die sie aus ihrer Kindheit berichtete lag immer ein sehr liebevoller Ton zugrunde. Viele der Lebensweisheiten, die sie weitergab, hatte sie von ihren Eltern mit auf den Weg bekommen.

Zu Beginn ihrer Berliner Zeit besuchte sie die Schule und wurde später, wie unzählige andere Osteuropäer, als Opfer des Naziterrors Zwangsarbeiterin in den Junkerswerken in Dessau.

Da sie aus dieser Zeit mehrere slawische Sprachen gut beherrschte, war sie nach der Befreiung als Dolmetscherin bei General Schukow tätig.

Tagsüber arbeitete sie als Trümmerfrau, abends in der Gastronomie

Nach politischen Schwierigkeiten mit den Sowjets konnte sie in die westlichen Besatzungszonen ziehen. Inzwischen hatte sie ihren Sohn Bernd zur Welt gebracht und musste ihre kleine Familie durch die schwere Nachkriegszeit bringen. Tagsüber arbeitete sie als Trümmerfrau und abends in der Gastronomie, was dann auch ihre Lebensbeschäftigung blieb.

Nach einer Zwischenzeit in Hamburg kehrte sie Anfang der sechziger Jahre nach Berlin zurück. In dieser Zeit vergrößerte sich ihre Familie, als sie Karin an Kindes statt annahm und sie fortan als ihre Tochter bezeichnete, so wie sie von Karins Sohn als ihrem Enkel sprach.

Mit der kleinen Philharmonie wurde Wanda Vrubliauskaite zu einer Legende

Nachdem sie einige Jahre das Vorläuferlokal der Kleinen Philharmonie zusammen mit Partnern geführt hatte, übernahm sie dann vor 35 Jahren das Lokal in eigener Regie, nannte es „Die kleine Philharmonie“ und wurde zu der Frau Wanda, wie viele von uns sie kannten. Das 35-jährige Jubiläum ihrer Lokaleröffnung im letzten Jahr war ein Termin, auf den sie stolz war und den sie unbedingt noch erleben wollte.

Wanda glaubte nicht, dass ein Vertretung ihren Ansprüchen genügen könnte

In den ersten Jahren führte sie das Lokal als Speiselokal. Sie hielt es 23 Stunden täglich offen, wovon sie die meiste Zeit anwesend war, weil sie nie glaubte, dass eine Vertretung ihren Ansprüchen genügen könnte Erst in den siebziger Jahren änderte sich der Charakter der kleinen Philharmonie.

In diese Zeit fiel ihre erste schwere Krebserkrankung, die sie nur dank ihrer unglaublichen Disziplin und ihres ausgeprägten Lebenswillens überlebt hat.

Sie hat dabei Federn gelassen, aber die Erfahrungen aus dieser langen Krankheit und der Art, wie sie diese überwunden hat, haben sie für ihr restliches Leben geprägt.

Neuanfang nach der ersten Krebserkrankung

Nachdem sie sich um ihr Lokal anderthalb Jahre nicht selber kümmern konnte – in der Zwischenzeit wurde es fast ein Jahr von ihrem Sohn weitergeführt –, musste sie danach einen regelrechten Neuanfang wagen.

Während ihrer schweren Krankheit waren es vor allem die schwulen Männer unter ihren Gästen, die sich mit um sie gekümmert haben. So machte sie mit geliehenem Geld und Kredit bei den Brauereien eine neue kleine Philharmonie für diese Zielgruppe auf. Eine schöne Erfahrung war für Wanda, dass auch einige von anderen früheren Gästen wieder bei ihr verkehrten und ihr bis zum Schluss die Treue hielten, trotz des veränderten Charakters des Lokals.

Wanda liebte Geschichten

Unendlich viele Geschichten ranken sich um diese Jahre.

Wanda liebte Geschichten, sie konnte wunderbar erzählen, hörte aber auch gerne zu, kommentierte, gab Ratschläge, oft auch ungefragt und scharte ihre Kneipenfamilie um sich.

Bei allem wahrte sie Diskretion und erzählte nur weiter, was sie für unbedenklich hielt, wusste Informationen aber auch bewusst einzusetzen.

Sie hatte weniger Gäste als zahlende Familienmitglieder, wie ihr Sohn es ausdrückt. Ihre Lokal war ihr Salon, ihr Wohnzimmer, in dem sie jeden Tag Jour-fixe hatte und das sie liebevoll mit Erinnerungsstücken, Geschenken und Mitbringseln ihrer Gäste dekorierte, Gegenständen, die fast immer einen Bezug zu ihr hatten oder sie kommentierten.

Sie liebte es zu kuppeln, Beziehungen unter ihren Gästen zu stiften. Als ich vor sieben Jahren meinen Freund bei ihr kennenlernte, war sie entzückt und gab alles ihr Mögliche, um die anfangs zarten Banden zu festigen.

Dabei setzte sie auf ihre Hexenkräfte – ein Nimbus, den sie kultivierte – und belegte unsere Beziehung mit einem Spruch, der bis heute wirkt.

Neben Wanda Vrubliauskaite konnte es keine andere geben

Wanda duldete keine weibliche Konkurrenz in ihrem Lokal. Weibliche Gäste – bis auf ganz wenige Ausnahmen – durften sich nicht im vorderen Teil des Lokals aufhalten, der war ihr und ihren Jungs vorbehalten.

Die Kneipe war ihr Leben, sie war die geborene Wirtin. Ihr Lokal war auf sie zugeschnitten, die Gäste kamen wegen ihr.

Bei ihren Geschäften fragte man so nicht so genau nach

Ohne sie wird der kleinen Philharmonie die Seele fehlen. Sie war geschäftstüchtig, ohne eine Geschäftsfrau im größeren Sinne zu sein. Ihre vielen kleinen Geschäfte, bei denen man nicht so genau nachfragte, brauchte sie wie die Luft zum Atmen.

Dabei war sie nicht merkantil orientiert, das Erworbene verschenkte sie, spendete es oder bewirtete davon die Gäste kostenlos mit den beliebten Stullen.

Was sie gab, gab sie freiwillig, es durfte nicht erfragt werden. Bei allem hatte sie eine hohe Geschäftsmoral ihren Gästen und Geschäftspartnern gegenüber.

Für ihre eigene Familie war die Zeit häufig zu knapp, ihr Geschäft, das Lokal, nahm die meiste Zeit ihres Lebens in Anspruch.

Trotzdem war ihr die Familie wichtig, die Geburt ihrer Enkelin Katharina vor sieben Jahren erfüllte sie mit Stolz.

Wanda war fasziniert vom Normbruch und hielt Freunden die Treue

Wanda faszinierte der Normbruch, das Gegen-die-gesellschaftlichen-Regeln-Leben, das Außergewöhnliche.

Bei all ihrer Faszination für das gesellschaftlich Außenstehende und Anderssein war sie aber insgesamt ein moralischer Mensch. Treue zu Freunden, Treue in der Partnerschaft, das Halten von Versprechen waren für sie Werte, die ihr wichtig waren und deren Einhaltung sie kompromisslos einklagte.

Letztlich aber hatte sie dann doch meist Verständnis für allzu menschliches Verhalten, das diesem Anspruch nicht immer genügen konnte.

„Was man an Liebe gibt, bekommt man auch zurück“

Auch vor ihrem Engagement für Menschen mit HIV und Aids war sie karitativ tätig gewesen. Sie hatte Leidens- und Elendserfahrungen in ihrem Leben gemacht, und aus dieser Erfahrung heraus half sie – der Freitisch für die Schüler der Schauspielschule der HdK, damals noch gegenüber ihrem Lokal, Gaben für Altenheime und vieles andere.

Das Prinzip nach dem sie dabei handelte war eine ihrer einfachen Lebensweisheiten: „Was man an Liebe gibt, bekommt man auch zurück.“ Die vielen Urkunden und Dankesbriefe, von denen einige ihr Lokal schmückten, und die Ehrennadel für Hilfsbereitschaft, die ihr der Berliner Senat vor einigen Jahren verlieh, zeugen davon.

Darauf legte sie aber auch Wert. Das Geben war ihr selbstverständlich, den Dank erwartete sie ebenso selbstverständlich und klagte ihn ein – eine durchaus liebenswerte, menschliche Schwäche.

Wanda Vrubliauskaite wollte die Gesellschaft mitgestalten

Wanda konnte es nicht ertragen, abseits zu stehen, sie mischte sich ein und wollte aktiv sein. Sie wollte die Gesellschaft, in der sie lebte, mitgestalten.

Sie war lange Jahre aktives Mitglied in der SPD und unterstützte ihre Partei im Wahlkampf. Willy Brandt war gelegentlich Gast in ihrem Lokal – darauf, dass er einmal mit Robert Kennedy bei ihr einkehrte und Bier und Berliner Buletten verzehrte, war sie immer stolz. Sie wandte sich erst von ihrer Partei ab, als sie ihren Ansprüchen einer sozialen Partei nicht mehr genügte.

Doch im Vergleich zu dem, was sie seit Anfang der Aids-Krise für Menschen, die mit HIV und Aids leben, geleistet hat, waren dies alles nur Kleinigkeiten.

Sie wusste, was es heißt zu leiden, sie konnte mitleiden und sie half

Sehr früh schon hatte sie begriffen, dass mit HIV etwas auf ihre schwulen Gäste zukommt, das enorme Auswirkungen haben und die ohnehin schon gesellschaftlich diskriminierte Gruppe noch weiter in Abseits drängen wird. Sobald sie merkte, dass die ersten Betroffenen unter ihren Gästen zu finden waren, wurde sie tätig.

Sie hatte in ihrem Leben erfahren, was es heißt zu leiden, sie konnte mitleiden und sie half. Sie erzählte ihre Krankheitsgeschichte, erzählte, wie sie auch durch Essen ihren Krebs besiegt hatte, und fütterte ihre infizierten Gäste.

Die „kleine Philharmonie“ war früh ein Ort für Menschen mit HIV und Aids

Lange bevor die Berliner Aids-Hilfe der Ort war, an dem sich die HIV-Positiven trafen, gab es eine Gesprächsrunde in ihrem Lokal. Sie kämpfte innerhalb der schwulen Szene gegen die Ausgrenzung von Menschen mit HIV und Aids. Dabei ging sie so weit, dass sie auch ihr liebe Gäste aus dem Lokal wies, wenn diese sich über die ihr selbstverständliche Anwesenheit von HIV-Positiven beschwerten.

Bevor sie die Tradition des roten Buches einrichtete, in dem Gäste des Lokals ihre Spenden für Betroffene eintragen konnten, gab sie von ihren eigenen Mitteln. Sie veranstaltete Feste und Tombolas und gab den Erlös für die Erkrankten.

Wanda war der Berliner Aids-Hilfe nahe, übte aber auch Kritik

Als die Berliner Aids-Hilfe dann in Räume in ihrer Nachbarschaft einzog, war die kleine Philharmonie für Jahre so etwas wie die Betriebskantine der Aids-Hilfe. Positivengruppen, Ehrenamtlergruppen und die Festangestellten trafen sich nach Feierabend, und oft ging die Arbeit dort weiter.

Sie verhehlte nie, dass sich dies positiv auf ihren Umsatz auswirkte, trotzdem bezog sie Stellung, kommentierte und kritisierte die Aktivitäten der Aids-Hilfe. Sie tat dies immer parteiisch im Sinne der Betroffenen.

Sie kritisierte Unflexibilität und Bürokratie, sie war oft Anwältin derjenigen, die sich aus Angst vor Offenlegung ihrer Infektion nicht in die Räume der Aids-Hilfe wagten.

Ihre Kritik leitete sie immer mit den Worten ein: „Ich spucke nicht in ein Glas, aus dem ich trinke, aber was ihr euch da geleistet habt geht so nicht.

Ihre Nähe zur Aids-Hilfe war immer eine kritische und oft ein notwendiges Regulativ für zu große Betriebsblindheit und zu große Distanz von den Zielgruppen der Arbeit.

Das Café Viktoria für Patienten mit HIV und Aids hat sie bis zu ihrem Tod begleitet

Ihr Kind im Sinne ihres ehrenamtlichen Engagements war das Café Viktoria, das Patientencafé im Auguste-Viktoria-Krankenhaus. Sie war Mitinitiatorin und hat dieses ehrenamtliche Projekt, das seit vielen Jahren wöchentlich ein Sonntagscafé für Patienten des Krankenhauses organisiert, bis zu ihrem Tod begleitet.

Sie organisierte edle Kuchen zu Sonderpreisen –„Die sind ja schließlich krank und das Krankenhausessen ist schlecht„ – und arbeitete selber mit. Sie sprach mit den Patienten, unter denen viele Gäste ihres Lokals waren, sie munterte auf und sie half vielen, die kein Geld hatten, auch finanziell.

Ihre Gäste wurden mit Nachdruck zum Spenden aufgefordert

Wenn die Spenden, die sie gesammelt hatte, dabei nicht ausreichten, legte sie das Fehlende aus ihrer eignen Tasche dazu. Ihre Gäste können berichten, mit welchem Nachdruck sie zum Spenden aufgefordert wurden. Sie hatte dabei eine Überzeugungskraft, der man sich nicht entziehen konnte.

Ihre Freude und ihr Stolz, wenn am Ende des Jahres eine große Summe zusammengekommen war, motivierte sie, die Summe im nächsten Jahr noch zu übertreffen und ihre Akquise zu intensivieren.

Wanda hatte Ideen und wollte sie umsetzen

Im Lauf der Jahre habe ich an vielen Projekten gemeinsam mit ihr arbeiten können. Es war nicht immer einfach, aber es hat meist sehr viel Spaß gemacht.

Sie brauchte keine schriftlichen Konzepte, das war ihr eher fremd. Sie hatte eine Idee und setzte diese um. Dabei erwartete sie von anderen die gleiche Disziplin, die sie zeigte, und war kritischen Einwänden gegenüber nicht immer aufgeschlossen.

Die Deutsche AIDS-Hilfe hat sie zum Ehrenmitglied ernannt

Für sie hatte alles sofort zu geschehen, sie war ungeduldig, weil sie wusste, dass Menschen ihre Hilfe brauchten.

Zwei Projekte haben wir nicht mehr geschafft: Wir wollten zusammen ihre Biografie schreiben und haben dies jahrelang auf später verschoben. Zuletzt fühlt sie sich nicht mehr stark genug dafür. Das andere war ein kleiner Birkenwald im Tiergarten zum Andenken an unsere verstorbenen Freunde. Einen Baum im AVK hatte sie vor Jahren pflanzen lassen, nun wollte sie etwas Größeres. Vielleicht werden wir das noch schaffen.

Ihr Engagement war nicht nur auf Berlin beschränkt, immer wieder hat sie unter anderem die Arbeit der Kollegen in München unterstützt, Geschenke für Kranke geschickt oder auch dort mit Geld geholfen.

Nach der Wende war es ihr eine Genugtuung, auch Aktivitäten in ihrem Heimatland durch Geld- und Sachspenden zu unterstützen.

Die Deutsche AIDS-Hilfe hat sie für ihr außergewöhnliches Engagement im letzten Jahr zu ihrem Ehrenmitglied ernannt, eine Ehrung, die sie mit einer größeren persönlichen Geldspende in ihr rotes Buch kommentierte.

Ein sehr lebendiger Mensch, dem Muße fremd war

Dabei war sie immer im Zweifel, ob sie genügt, ob ihre Arbeit ausreicht. Oft hat sie gefragt: Was kann ich noch tun? Es ist so viel Elend mit dieser Krankheit.

Sie freute sich über die Ehrungen, über die gute Presse, die sie erhielt. Auf der anderen Seite kokettierte sie damit, dass es ihr auch peinlich sei, wenn zu viel Aufhebens um ihre Person gemacht wurde.

Als ich vor einigen Tagen im Gespräch mit ihrem Sohn fragte, was ich heute sagen soll, meinte er. Sprechen Sie sie nicht heilig.

Das liegt nicht in meiner Absicht, und es würde ihr nicht gerecht. Wanda war ein Mensch mit Fehlern, kleinen und großen, wie wir alle.

Wanda hat gerne gelebt und sehr bewusst

Mein Rückblick auf ihr Leben, auf unsere Freundschaft ist ein ganz liebevoller.

Ich werde mich immer an die vielen frühen Abendstunden erinnern, in denen wir in ihrem Lokal zusammensaßen. Sie erzählte dann aus ihrem Leben und erboste sich im Nachhinein über das eine, während sie sich über anderes köstlich amüsieren konnte. Dabei hatte sie ein phänomenales Gedächtnis und erinnerte sich an Einzelheiten, die schon sehr lange zurück lagen.

Wanda hat gerne gelebt und sehr bewusst, sie war ein sehr lebendiger Mensch, dem Muße fremd war.

Sie pflegte ihre Eitelkeit und war deshalb auch immer äußerst gepflegt, selbst als es ihr in den letzten Jahren nicht mehr gut ging.

Man musste sie schon besser kennen, um zu erkennen, dass es schon seit vielen Jahren mit ihrer Gesundheit nicht mehr zum Besten stand, aber sie tat alles, damit es niemand bemerkte.

Dabei half ihr ihre Disziplin, vielleicht auch zum Nachteil. Sie schenkte dem, was in ihrem Körper vorging, keine Beachtung. es war ihr nicht wichtig, sie hatte zu viel anderes zu erledigen.

Auch hierbei wie gelegentlich in ihren Erzählungen neigte sie zur Übertreibung. Sie überschätzte ihre Kräfte und gönnte sich nicht die verdiente Ruhe. Sie hätte ja etwas verpassen können.

Was bleibt von einem so prallen Leben?

Gestern wurde ich von der Presse um Informationen für einen Nachruf auf Wanda gebeten. Ich wurde gefragt, wie ich denn die Bilanz ihres Lebens ziehen würde.

Ich halte es für unmöglich, ein Leben in Soll und Haben zu bilanzieren, jedes Leben, besonders aber ein so pralles.

Toleranz und Würde sind untrennbar mit Wanda verbunden

Wanda war ein gläubiger Mensch. Sie glaubte an Gott, ohne der Kirche nahe zu sein. Wenn nach ihrem Tod das eintritt, woran sie glaubte, wovor sie sich auch fürchtete, wird diese Bilanz dort geschehen.

Zwei Begriffe sind aber untrennbar für mich mit Wanda verbunden – Toleranz und Würde.

Toleranz, die sie lebte und die sie von anderen einforderte, und ihre Würde, die ihr heilig war, die sie nie aufgab und deren Verletzung sie ahndete.

Es fällt mit schwer, in dem Zusammenhang mit Wandas Tod von Trauer zu reden. Ich bin traurig, dass ein Mensch, den ich geliebt habe, gestorben ist.

Für Wanda gehörte der Tod zum Leben dazu, ein Bewusstsein, das wir heute fast verloren haben. Sie hat viele Menschen sterben sehen und in den letzten Jahren einige ihrer Freunde beim Sterben begleitet.

Sie hat ein erfülltes Leben gelebt und ist im Kreis ihrer Familie gestorben, ohne leiden zu müssen.

Die Frage, wann es für einen Menschen Zeit ist zu gehen, kann niemand beantworten, und das ist gut so.

Es wird für uns alle ein Trost sein, dass sie in uns weiterlebt, in dem, was sie geleistet hat, in unseren Erinnerungen.

Ich bin mir sicher, dass die Menschen, die Wanda gekannt haben, sie für den Rest ihres Lebens nicht vergessen werden, und das ist für mich die schönste Form des Weiterlebens.

Eine schöne Formulierung fand ich in der Anzeige der Familie: Nach langer schwerer Krankheit hat sich der Kreis eines erfüllten Lebens geschlossen.

Liebe Wanda, danke für deine Freundschaft – möge dir die Erde leicht sein.

Uli Meurer

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