Valery* floh 2008 aus der Ukraine nach Deutschland, weil ihn wegen Drogenbesitzes eine mehrjährige Freiheitsstrafe erwartete. Wie der HIV- und HCV-positive Mann in Berlin als „Illegaler“ überlebte und schließlich doch „legalisiert“ werden konnte, erzählte uns Sozialarbeiter Sergiu Grimalschi, der bei der Berliner Aids-Hilfe Valery betreut. Von Christine Höpfner

Valery stammt aus einer mittelgroßen Stadt in der Nordukraine. Er spritzte regelmäßig Drogen, ging aber auch regelmäßig seiner Arbeit nach: erst bei der Marine auf der Krim, danach als Zimmerer in seinem Heimatort. Über verunreinigte Spritzen hat er sich irgendwann HIV und eine Hepatitis C eingefangen. Dann erwischte ihn die Polizei mit Drogen. Als Valery erfuhr, dass er wegen Drogenerwerbs mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren rechnen musste, setzte er sich kurzerhand nach Deutschland ab. Das war 2008. Dem damals 27-Jährigen war klar: In einem ukrainischen Gefängnis hätte er weder eine HIV- und Hepatitis-C-Therapie noch eine Substitution bekommen.

„Er hat seine Situation als Chance zum Überleben gesehen“

In Berlin taucht Valery unter. Er lebt inkognito in russischsprachigen Haushalten, wo er – für Kost und Logis und etwas Geld für Zigaretten – alte kranke Menschen rund um die Uhr pflegt oder sich auch mal als Hausmeister verdingt und in einer Baracke hinter dem Haus des Besitzers wohnt. „Man hat ihn nicht wirklich ausgebeutet, aber seine Bezahlung war nur wenig mehr als symbolisch“, meint Sergiu Grimalschi. „Er hat sich durchgeschlagen und seine Situation auch gar nicht so kritisch gesehen, sondern als Chance zum Überleben.“

Irgendwann beginnt Valery zu kränkeln. Er kann nicht mehr arbeiten, ist völlig mittellos und teilweise auch obdachlos, bis im jemand eine Gartenlaube zum Wohnen anbietet. Valery zieht dort ein, baut auf dem kleinen Grundstück Kartoffeln an, sammelt im benachbarten Park Lindenblüten für Tee und zapft im Frühling den Saft von Birken. Er erntet alle möglichen Früchte, bereitet davon Kompott, macht Salzgurken ein. Das Know-how hat Valery von zu Hause mitgebracht. Er wuchs in verhältnismäßig einfachen Verhältnissen auf und weiß sich daher zu helfen.

„Zwei Jahre ernährte er sich nur von dem, was die Natur ihm gab“

Sein Sozialarbeiter ist davon schwer beeindruckt: „Unglaublich, was Valery alles aus diesem Fleckchen Erde herausgeholt hat! Und was manche alles auf sich nehmen, um in Freiheit zu leben!“ Zwei Jahre lang lebt Valery wie ein Mönch und ernährt sich sommers wie winters nur von dem, was die Natur ihm gibt. „So etwas“, glaubt Grimalschi, „hat es in Berlin seit der Nachkriegszeit wohl kaum mehr gegeben“.

Valery isst weder Fleisch noch Brot und hat sich eine eigene Theorie zurechtgelegt, wonach seine Naturheilmittel den Ausbruch der HIV-Erkrankung hinausgezögert hätten. „Interessanterweise war er in einer erstaunlich guten Verfassung, als er sich Jahre später einem Arzt vorgestellt hat“, erinnert sich Grimalschi.

„Seine Angst, dass man ihn in die Ukraine zurückschickt, war größer als die Angst vor der Krankheit“

Valery hat lange Zeit keinen Kontakt zur Aidshilfe oder zu anderen Hilfseinrichtungen. Seine Angst, dass man ihn in die Ukraine zurückschickt oder hier ins Gefängnis steckt, ist weitaus größer als seine Angst vor seiner HIV- und HCV-Infektion. Zur Aidshilfe kommt Valery schließlich über die Tochter einer alten Frau, die er gepflegt hat. „Sie war meine Klientin“, erklärt Grimalschi. „Er kam in die Beratung, wollte aber nicht, dass wir zusammen Asyl beantragen.“

Doch Valerys Infektionen schreiten weiter voran, seine Gesundheit steht auf Messers Schneide. Noch dazu verliert er im Winter 2011/12 seine Bleibe in der Gartenlaube: Einige Leute störte es, dass er da wohnte, und holten die Polizei – da muss er verschwinden. In der Not entschließt sich Valery nun doch für einen Asylantrag, denn mit der Legalisierung bekäme er eine Krankenversicherung und könnte sich regulär medizinisch versorgen lassen.

„Wir haben mit allen Mitteln versucht, die Auslieferung zu verhindern“

Pech für Valery, dass die Ausländerbehörde über ihn schon im Bilde ist, weil die Ukraine, wie sich herausstellt, mit einem internationalen Haftbefehl nach ihm fahndet. Man nimmt ihn fest. Valery verbringt sechs Monate in Auslieferungshaft in der Berliner Justizvollzugsanstalt Moabit. „Wir haben mit allen verfügbaren Mitteln versucht, seine Auslieferung an die Ukraine zu verhindern“, erzählt Grimalschi. „Unter anderem mit der Begründung, dass eine HCV-Therapie für Valery dort nicht gewährleistet ist. Die brauchte er aber dringend, weil sich schon eine Leberzirrhose angebahnt hat.“

Ein ausführliches Gutachten der Kiewer Sektion der International AIDS Alliance überzeugt die Berliner Staatsanwaltschaft schließlich, dass es sich in Valerys Fall um ein ernstes Gesundheitsproblem handelt. Das Gutachten betrifft Valerys Schwester, die sich wie er übers Drogenspritzen mit Hepatitis C infiziert hat und als Häftling in der Ukraine bis heute keine HCV-Therapie bekommt. Durch die rasche, professionelle Unterstützung der Kollegen aus Kiew kann Valerys Auslieferung hinausgezögert werden.

Aus Verzweiflung fängt Valery wieder mit dem Heroinkonsum an

Der nächste Schritt ist ein Antrag der Aidshilfe auf Aufenthalt aus humanitären Gründen beim Berliner Kammergericht. Für die richterliche Entscheidung sollte die ukrainische Seite Fragen zur Hepatitis-C-Behandlung im Land beantworten, was sie aber innerhalb der festgesetzten Frist versäumt. Daraufhin kommt Valery frei, aber nur, um kurz darauf erneut von der Polizei festgenommen zu werden. Der Grund ist ein Auslieferungsantrag der Ukraine zusammen mit der Auskunft, dass die HCV-Behandlung in dem Land angeboten wird. Das zwingt die deutschen Behörden zum Handeln.

Valery sitzt ein
Valery war zweimal in der JVA Moabit in Auslieferungshaft.

Valery verbringt weitere acht Monate in der JVA Moabit. Aus Verzweiflung fäng er wieder mit dem Heroinkonsum an, nachdem er schon Jahre clean war. Seine Lage erscheint ihm vollkommen aussichtslos. In der JVA wird er weder substituiert noch antiretroviral behandelt: Ein Behandlungsbeginn habe keinen Sinn, so das Argument, wo doch jeden Tag mit seiner Auslieferung zu rechnen war.

Gegen die angekündigte Auslieferung legt die Berliner Aids-Hilfe erneut Widerspruch ein, diesmal mit der Begründung, dass für die Substitution wie auch die HIV- und HCV-Therapie in ukrainischen Gefängnissen bezahlt werden muss. Allein die Behandlung der Hepatitis C koste pro Monat rund 1.000 Dollar – viel zu viel für jemanden wie Valery. „Die Anwälte waren fähig“, urteilt Grimalschi, „aber das hat nichts genutzt: Der Widerspruch wurde abgewiesen“.

„Die Richterin hat nach ihrem Gewissen entschieden“

Der Fall geht abermals vors Kammergericht – und nimmt dort endlich eine positive Wendung. Eine Richterin hatte angeordnet, dass Valerys Sozialarbeiter angehört wird. „Ich sollte alles vortragen zum Krankheitsverlauf und zur Versorgungslage in der Ukraine. Die Richterin nahm meine Aussage als Grundlage für ihre Entscheidung und hat verfügt, dass Valery vorerst nicht in die Ukraine ausgewiesen werden kann, weil er dort mit Sicherheit sterben wird.“

Grimalschi, selbst Migrant, ist begeistert vom Verhalten der Richterin: „Auf den höheren Ebenen der deutschen Justiz finden sich immer wieder Menschen, die nach ihrem Gewissen entscheiden. Eigentlich haben ja nur noch die Unterschrift und der Stempel der Richterin gefehlt, sie hätte diesen Menschen und die Akte gar nicht sehen müssen. Aber sie hat sich dafür die Zeit genommen und mich angehört.“

So also hat Valery nun doch sein Aufenthaltsrecht bekommen. Er bezieht jetzt Leistungen gemäß Asylbewerberleistungsgesetz, ohne dass ein Asylantrag gestellt wurde. Sein aus humanitären Gründen gewährter Aufenthalt ist zeitlich begrenzt, das heißt, man wird immer wieder überprüfen, ob sich die Gesundheitsversorgung in der Ukraine verbessert.

„Die neuen HCV-Medikamente haben Valerys Leben gerettet“

Valery ist heute 33 Jahre alt. Er nimmt Medikamente gegen HIV, ist in Substitutionsbehandlung und hat unlängst seine HCV-Therapie erfolgreich abgeschlossen. Er bekam die neuen Medikamente, die eine deutlich kürzere Behandlungsdauer ermöglichen. Für Grimalschi ist klar: „Das hat Valerys Leben gerettet. Mit der alten HCV-Therapie wäre er auch in Deutschland nicht gesund geworden.“ In die Berliner Aids-Hilfe kommt er immer noch regelmäßig: Sergiu Grimalschi ist zuständig für Valerys psychosoziale Betreuung, die bei einer Substitution vorgeschrieben ist.

In Marzahn hat Valery jetzt ein eigenes Zimmer in einem Wohnheim. Aber er sammelt weiterhin seine Früchte. „Er sagt, das wirkt positiv auf seine Gesundheit, weil es ihn entspannt. Ich bring dir gern mal Lindenblüten von ihm mit, weil er mich damit zuschüttet“, lacht Grimalschi.

Keine Arbeitserlaubnis und ein bisschen einsam

Es läuft ganz gut bei Valery. Schade nur, dass er keine Arbeitserlaubnis hat. Er möchte gern arbeiten, und sein Sozialarbeiter hätte auch einen Posten für ihn als Hausmeister in einem Hotel. „Die würden ihn gern halbtags einstellen, aber ohne dieses Papier geht leider gar nichts. Deshalb müssen wir die Arbeitserlaubnis jetzt einklagen.“ Valery spricht bisher nur recht wenig Deutsch, da ist er nicht wirklich weitergekommen. Aber die Aidshilfe hat es jetzt geschafft, ihn in einer Sprachschule anzumelden, wo er ab August einen Deutschkurs machen wird.

Doch, eigentlich läuft es ganz gut bei Valery. Nur, dass er sich ein bisschen einsam fühlt. Er wünscht sich eine Beziehung, hat bisher aber niemanden gefunden. Und er schämt sich immer noch wegen seiner HIV-Infektion. „Für Leute wie Valery haben wir in der Aidshilfe zwar Angebote, wie zum Beispiel eine Freizeitgruppe, die sich regelmäßig trifft. Aber dort sind alle schon vergeben“, bedauert Grimalschi. Immerhin hat Valery einen Freund, mit dem er ein gleiches Schicksal teilt – aber eben keine Beziehung. Und das setzt ihm manchmal ziemlich zu.

 

 

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Christine Höpfner

Christine Höpfner war langjährige Mitarbeiterin der Deutschen AIDS-Hilfe. Sie ist feste freie Redakteurin von magazin.hiv.

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