The only Gay in the Village
Aus meiner Zeit als Skilehrer kenne ich das Prinzip, aus Kontrasten zu lernen. Man lässt seine Schützlinge ein paar Kurven fahren und dabei bewusst einen bestimmten Fehler machen. Dann sollen sie Kurven ohne den Fehler fahren. Soweit sie das können. So erfahren sie am eigenen Leib, wie es besser geht. „Das ist ja erstaunlich!“, rufen sie dann oft begeistert.
Eine ähnliche Erfahrung habe ich kürzlich in New York gemacht, als ich am World Pride teilnahm. Nur umgekehrt.
Pride ist die englische Bezeichnung für Christopher Street Day, was seltsam ist. Man könnte ja denken, Christopher Street Day sei eine englische Bezeichnung. Tatsächlich wird dieser schöne Name fast nur in Deutschland verwendet. Weltweit sagt man Pride. Und dieses Jahr war der sogenannte World Pride in New York. Gefeiert wurde der 50. Jahrestag der Aufstände in der Christopher Street.
Äußerlich war es der Aufstand gegen eine Polizei-Razzia in der Bar Stonewall Inn. Eine weltweite Bewegung wurde daraus, weil darin ein innerer Aufbruch lag: Jetzt ist Schluss. Wir lassen uns nicht weiter erniedrigen. Wir nehmen uns das Recht und die Freiheit, unsere Leben zu leben. Es ist der unverzichtbare Moment des Durchbruchs, den jeder queere Mensch in seinem Coming-out erlebt, zur Nachahmung empfohlen durch ein historisches Ereignis. Deswegen mag ich den Namen Christopher Street Day.
Ich sage es ganz offen: Einen Teil der World-Pride-Demonstration habe ich unter Tränen zurückgelegt. Ich weinte vor Glück. Ich fühlte mich getragen von der Menge, zu Hause und aufgehoben. Fast möchte ich sagen: wie nie. 30 Jahre nach meinem Coming-out und nach unzähligen öffentlichen Auftritten als schwuler Mann löste sich ein tiefer Schmerz in Tränen auf. Ich finde, das sagt einiges.
Als junger Mann habe ich beim Christopher Street Day in Berlin auch schon mal vor Rührung geweint. Auf der Ladefläche eines LKW tanzend, sah ich nach vorne wie nach hinten eine endlose Menge von Menschen. Ich war nicht mehr allein. Wir waren viele. Ich war in Sicherheit.
Damals weinte ich hinter einer Sonnenbrille. Es waren nur wenige Tränen. Ich wischte sie eilig mit dem Handrücken fort und trank weiter Sekt und Dosenbier.
In den USA ist Alkohol in der Öffentlichkeit verboten. Niemand trank, und ich sowieso nicht mehr. Ich trug auch keine Sonnenbrille, obwohl ich eine regenbogenfarbene vom Designmuseum geschenkt bekommen hatte. Ich brauche zum Lesen mittlerweile 1,5 Dioptrien und möchte die Brillen nicht ständig wechseln, wenn ich was auf Instagram poste. Ich empfinde das als erniedrigend.
In New York feiern übrigens auch nicht einfach alle durcheinander wie in Berlin. Wer zu einer Gruppe oder Organisation gehört, marschiert die Straßen entlang. Alle anderen – ob queer oder solidarisch – stehen hinter endlosen Absperrgittern, jubeln den Marschierenden zu wie Popstars und rufen „Happy Pride!“. Die winken und jubeln zurück. Es werden Hände geschüttelt und Blicke getauscht.
Weil ich aus Deutschland stamme, durfte ich im deutschen Block mitlaufen. Zwischen Kerlen in bayerischen Trachten und Stewardessen mit Merkel-Frisur. In der Hand hielt ich ein Regenbogen-, ein Europa- und ein Deutschlandfähnchen. Ich hatte kurz gezögert, dann aber gedacht: Hier kann man’s mal tragen.
Als einer von 300.000 lief ich durch die Straßen New Yorks, mehr als drei Millionen Menschen jubelten. Vermutlich die größte Versammlung queerer Menschen auf diesem Planeten aller Zeiten. Es war überwältigend.
Dieses Mal ließ ich die Tränen laufen. Und obwohl ich nur ein Körnchen Sternenstaub in einem queeren Universum war, bemerkten viele Menschen am Rande der 7th Avenue, dass ich weinte und lächelten mir zu. Weil sie wussten, warum mir die Tränen kamen. Wir kannten einander. Wir gehörten zusammen.
Eine Frau mit Sonnenbrille stand am Rand und hatte am Absperrgitter vor sich zwei Schilder befestigt. Das erste hätte ich in dieser Menschenmasse sicher komisch gefunden, hätte ich es nicht sofort verstanden: „You are not alone! I’m your Mom today!“ Das zweite versprach: „Free Mom Hugs“. Ich habe mich gerne von ihr drücken lassen.
Am Ende des Tages, als es dunkel geworden war, leuchteten die Spitzen des Empire State Buildings und des neuen World Trade Centers in Regenbogenfarben. Der Zug wollte nicht enden. Wer wollte, konnte an diesem Tag von 12 Uhr mittags bis Mitternacht an der Christopher Street stehen und sein Leben an sich vorbeiziehen lassen. New York war Pride.
Und dann war es vorbei. In den schwulen Bars guckten die Männer jetzt wieder aneinander vorbei. Die Lokale und Geschäfte, die Regenbogenfahnen nur für den besonderen Anlass aufgehängt hatten, nahmen sie wieder ab. Man hatte sie schon vorher erkannt, denn ihre Fahnen hatten noch Falten vom Zusammenlegen. Es waren Neuanschaffungen gewesen.
In den folgenden Tagen erforschte ich New York und trug dabei weiter mein neues Stonewall-50-Bauchtäschchen in Regenbogenfarben. Es dauerte ein bisschen, bis mir klar wurde: Ich war jetzt ein One-Man-Pride-March. The only Gay in the Village. Nicht im West Village, wo sich das Stonewall Inn befindet, und nicht im Greenwich Village. Aber zum Beispiel in Harlem, wo es mehr baptistische Kirchen gibt als in Deutschland Apotheken.
Irgendwo zwischen den Apotheken saßen ein Mann und eine Frau auf der Treppe vor einem Haus. Als ich gerade vorbeigegangen war, ließ die Frau eine unverständliche Bemerkung fallen, die das Wort „gay“ enthielt. Der Mann antwortete höhnisch. Oder hatte ich mir das nur eingebildet?
Immerhin, vor einer Mormonen-Kirche grüßten mich zwei attraktive junge Missionare in schnieken weißen Hemden so freundlich, als würden wir gerade die erste Szene eines einschlägigen Pornos drehen. Ich vermute allerdings, dass sie mich eher retten wollten.
„Blow your head away!“, riet mir hingegen ein paar Straßen weiter ein Mann im Vorbeigehen.
Hatte er das wirklich gesagt? Ich war mir ziemlich sicher.
Mit der kostenlosen Staten Island Ferry setzte ich über in ein Vorstadt-Idyll, bewacht von einem grauen Klotz mit der Aufschrift H&M. „The Party is over!“, rief mir ein Mann entgegen, noch bevor ich den Hafen ganz verlassen hatte.
War es hier gefährlich für einen wie mich? Ich überlegte, ob ich das Bauchtäschchen abnehmen sollte. Aber zwei Tage nach dem Worldpride wieder im Schrank verschwinden? „Stonewall isn’t over yet!“ war nicht ohne Grund einer der häufigen Sätze beim World Pride. Und manchmal ist Stonewall eben ein Bauchtäschchen.
Tapfer verrichtete ich meinen Gang durch die Gemeinde und nahm dann rasch die Fähre zurück nach Manhattan, wie einer der sein Kaff verlässt und in die Großstadt zieht.
Zurück in Berlin erzählte ich einer Freundin von meinen Erlebnissen. Sie fand sie nicht so beunruhigend wie ich. In der Aussage „The Party is over!“ wollte sie nicht einmal einen schwulenfeindlichen Hintergrund erkennen. „Ich bin ja auch genervt vom Karneval der Kulturen und froh, wenn er vorbei ist“, sagte sie.
Ich will zurück zu meiner Mami.
Holger Wicht ist der Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe. Was er hier schreibt, spricht für sich.
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