„HIV-Prävention und Drogenpolitik müssen feministisch gedacht werden!“

Im Dezember 2024 fand das globale AWID-Forum in Bangkok statt – ein Raum des solidarischen Austauschs über Feminismus, Gendergerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit. Wir sprachen mit Sasha Gurinova, Referentin für Internationales bei der Deutschen Aidshilfe.
Sasha, du hast viel Kontakt mit Communitys in anderen Ländern, nimmst häufig an Tagungen und Konferenzen teil. Was ist das AWID-Forum – und was hat Feminismus mit Aidshilfearbeit zu tun?
AWID ist ein Netzwerk für die Rechte von Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit und unterstützt seit mehr als 40 Jahren Bewegungen dabei, der Unterdrückung von Frauen feministische Realitäten entgegenzusetzen. So beschreibt AWID sich auf der Webseite, und genau das ist beim AWID-Forum in Bangkok passiert – die Organisator*innen und wir über 3.500 Teilnehmer*innen aus aller Welt haben eine feministische Realität geschaffen, einen Raum für den solidarischen Austausch. Und das hat sehr viel mit Aidshilfe-Arbeit zu tun, weil wir wissen: Prävention kann ohne die Förderung des Selbstbewusstseins und der Selbstbestimmung von Menschen und ohne den Abbau struktureller Benachteiligungen nicht erfolgreich sein, denn Stigmatisierung, Ausgrenzung und Unterdrückung behindern sie.
Wie sah die feministische Realität aus, die ihr da geschaffen habt? Was war anders als bei anderen Konferenzen?
Zum Beispiel die gelebte Solidarität, das Zuhören, das Anerkennen, dass alle Expert*innen sind und dass alle Erfahrungen wichtig und wertvoll sind. Außerdem war klar spürbar, dass wir alle aufeinander und auf uns aufpassen. Und es gab eine große Offenheit und Freundlichkeit. Niemand musste Angst haben, „dumme“ Fragen zu stellen oder „falsche“ Gedanken zu teilen, alle Fragen waren willkommen. Bei anderen Konferenzen gibt es immer Menschen, die alles kritisieren, die alles besser wissen, das gab’s hier überhaupt nicht.
Wie wurde sichergestellt, dass alle zu Wort kommen und niemand sich zu viel Raum nimmt?
Das geschah ganz selbstverständlich. Klar, es gab ein Awareness-Team, aber letztendlich waren alle davon getragen, dass wir voneinander lernen und gemeinsam etwas erschaffen wollen.
Sasha Gurinova über das AWID-ForumDas Besondere war die gelebte Solidarität, das Zuhören, das Anerkennen, dass alle Expert*innen sind und alle Erfahrungen wertvoll sind. … Das geschah ganz selbstverständlich.
Das habe ich zum Beispiel auch im Workshop „Unmothering the Woman“ erlebt. Da ging es um die Frage, ob eine Feministin eigentlich Mutter sein „darf“, was ich als Feministin vielleicht verliere, wenn ich Mutter werde. Und die Moderatorinnen hatten sich überlegt, dass sie einen Video-Podcast machen wollten – die Teilnehmer*innen sollten erzählen, und sie wollten aufzeichnen. Die ganze Technik war da, alles war wunderbar vorbereitet, aber schon nach zehn Minuten zeigte sich: Vor laufender Kamera funktioniert das nicht. Und dann haben die Moderatorinnen einfach die Kamera ausgemacht und der Workshop wurde zu einem Safe Space für den Austausch über diese Fragen, und es wurde ein sehr persönlicher und sehr intimer Workshop.
Waren eigentlich auch Männer beim AWID-Forum dabei?
Klar, Feminismus ist ja ein Thema und eine Aufgabe für alle, nicht nur für Frauen. Die meisten Männer waren queere Sexworker oder trans Männer, aber es haben auch cis Heteromänner teilgenommen.
Wie darf man sich die Konferenz vorstellen? Fand das alles in großen Messehallen statt mit Vorträgen, Poster-Präsentationen und allem Drum und Dran?
Klar, für so viele Menschen braucht man natürlich große Räume, aber es gab auch viele kleine Räume, in die man sich zurückziehen konnte, wenn einem mal alles zu viel war, oder Räume, in denen man spielen oder sich einfach unterhalten konnte. Und es gab eine große Bühne, auf der ständig was los war. Eins der schönsten Bilder, die ich mitgenommen habe, sind die vielen Tänzer*innen auf der Bühne – Menschen aus Communitys in aller Welt, oft in traditioneller Kleidung, die einfach getanzt haben. Da war so viel Lebensfreude, Lachen und Befreiung. Außerdem gab es Performances, Ausstellungen, Gesang, Austausch zwischen den Generationen, politische Demos, Kunstaktionen, Möglichkeiten, mit den Händen was zu machen, unglaublich viel positive Energie und Kreativität.
Unterschied sich das Forum sonst noch von den großen internationalen Konferenzen im HIV-Bereich?
Ja, anders als zum Beispiel bei der Welt-Aids-Konferenz waren wir alle Community – und wir waren alle Expert*innen. Da gab es keinen abgetrennten Bereich nur für Wissenschaftler*innen und Funktionsträger*innen auf der einen und einen Community-Bereich auf der anderen Seite, in dem die Communitys unter sich bleiben. Das finde ich an solchen Konferenzen oft traurig: Da erzählt man sich als Community-Mitglied zum x-ten Mal, wie wichtig wir als Schlüsselgruppen sind – und niemand außer anderen Community-Mitgliedern hört zu. Auf dem AWID-Forum war nichts traurig, das war pure Freude. Auf Instagram gibt’s Videos und eine Reihe von Storys, die ein bisschen von der Atmosphäre widerspiegeln.
Singen, Lachen, Tanzen, Kunst – warum ist das wichtig?
Das alles ist Teil von Self Care, auf Deutsch Selbstfürsorge. Der Begriff kommt von Audre Lorde, einer Schwarzen Feministin, und steht für eine bewusste und revolutionäre Praxis, die die Beziehung zwischen persönlichem Wohlbefinden und gesellschaftlichem Wandel anerkennt. Lorde sagte, dass Selbstfürsorge keine Selbstgefälligkeit, sondern ein Akt des politischen Kampfes ist. Diese Perspektive war eine wichtige Grundlage für das AWID-Forum.
Sasha GurinovaAudre Lorde sagte, dass Selbstfürsorge ein Akt des politischen Kampfes ist. Diese Perspektive war eine Grundlage für das AWID-Forum.
Wer hat eigentlich das AWID-Forum finanziert?
Das sind ganz unterschiedliche Geldgeber*innen, von großen internationalen und bilateral arbeitenden Organisationen über private Stiftungen bis hin zu Frauen-Fonds. Das Tolle war, dass es die Möglichkeit gab, vor Ort mit Geldgeber*innen zu sprechen, und zwar auf Augenhöhe. Da ging’s nicht darum, sich irgendjemandem anzudienen, sondern das fand wirklich auf Augenhöhe statt. Die Forum-Teilnehmer*innen konnten sich selbst ein Bild machen: Wer ist diese Geldgeberin, passt sie zu unserer Arbeit, wollen wir ihr Geld?
Du warst für die Deutsche Aidshilfe auch bei einem Stand beteiligt. Worum ging es dort?
Den Stand haben wir gemeinsam mit Kolleg*innen der Metzineres-Kooperative aus Barcelona, einem Verein drogengebrauchender Frauen, der Eurasischen Harm-Reduction-Vereinigung, Harm Reduction International und dem Internationalen Netzwerk Frauen und Harm-Reduction organisiert. Unser Ziel war, drogengebrauchende Frauen für feministische Aktivist*innen sichtbar zu machen und zu zeigen: Die Stärkung der Rechte von Drogengebraucherinnen gehört auf die feministische Agenda. Vielen Feminist*innen ist nämlich gar nicht klar, dass HIV und auch Harm Reduction nicht nur ein Gesundheitsthema sind, sondern dass es hier um Geschlechtergerechtigkeit oder eher Geschlechterungerechtigkeit geht, um ungleich verteilte Ressourcen, um Gleichberechtigung.
Sasha GurinovaDie Stärkung der Rechte von Drogengebraucherinnen gehört auf die feministische Agenda. Hier geht es um ungleich verteilte Ressourcen.
Und was habt ihr mit dem Stand erreicht?
Wir haben uns mit Aktivist*innen aus ganz vielen Ländern, die sich für die Rechte von Frauen und ihre Gleichberechtigung einsetzen, über die Verbindungen zwischen HIV, Drogenpolitik und Feminismus ausgetauscht. Wir haben über unsere Arbeit geredet und über das Leben von Frauen mit HIV in unterschiedlichen Ländern, die mehrfach marginalisiert sind – durch ihren HIV-positiven Status, durch Drogenkonsum und aufgrund von patriarchalen Strukturen. Diese Gespräche, Energie und Mut der Frauen* haben mich unglaublich inspiriert, trotzt der vielen Probleme wie Armut, Gewalt in Beziehungen, fehlender Finanzierung oder restriktiver Gesetze.
Wie macht sich Geschlechterungerechtigkeit im Bereich HIV-Prävention und Harm Reduction bemerkbar?
Zum Beispiel dadurch, dass Frauen über die Hälfte aller Menschen mit HIV stellen, aber nicht entsprechend viel Ressourcen für sie bereitstehen und sie oft auch nicht in Entscheidungspositionen sind. Oder darin, dass Frauen viel öfter in Armut landen als Männer, auch, weil sie oft diejenigen sind, die die Care-Arbeit leisten. In der Gewalt gegen Frauen und ganz besonders in der Gewalt gegen trans Frauen oder drogengebrauchende Frauen. Oder nehmen wir das Beispiel Kondome: Viele Menschen wissen überhaupt nicht, dass es neben dem „klassischen“ Kondom, für das man ja auf die Mitwirkung von Männern angewiesen ist, auch interne Kondome gibt, auch Femidome genannt, mit denen sich Frauen und auch Menschen mit einer anderen geschlechtlichen Identität selbstbestimmt schützen können – die sind aber wesentlich teurer als die anderen Kondome und oft auch schwer oder gar nicht zu bekommen.
Gab es bei den Menschen, mit denen du gesprochen hast, Aha-Momente, konntest du und konntet ihr neue Perspektiven eröffnen?
Ich denke schon. Viele Gesprächspartner*innen waren zum Beispiel noch nie dem Gedanken begegnet, dass es selbstbestimmten Drogenkonsum gibt. Drogenkonsum ist für viele negativ besetzt, ganz besonders, wenn es um drogengebrauchende Mütter geht. Dass Drogenkonsum und Harm Reduction, also die Verhinderung von Schäden durch den Drogenkonsum, auch ein feministisches Thema sind, war für sie überraschend.
Sasha GurinovaVielen Feminist*innen ist gar nicht bewusst, wie wichtig das Thema mentale Gesundheit auch für Frauen mit HIV oder für Drogengebraucher*innen ist.
Ein anderes Beispiel ist das Thema mentale Gesundheit. Vielen Feminist*innen ist gar nicht bewusst, wie wichtig dieses Thema auch für Frauen mit HIV oder für Drogengebraucher*innen ist. Ich denke da zum Beispiel an die Workshops zum Thema Schwangerschaft und HIV, die die Deutsche Aidshilfe in Tadschikistan unterstützt. Da fahren Peers in kleine Dörfer, die sonst kaum Kontakt zur großen weiten Welt haben, und informieren über das Thema. Und dann haben ältere Frauen plötzlich einen Aha-Moment, weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben davon hören, dass es postnatale Depressionen gibt – und plötzlich begreifen, was ihnen damals passiert ist.
Du hast in Bangkok auch einen Workshop zum Thema Mutterschaft und Drogen angeboten. Wie lief der ab?
Der Workshop stieß auf riesiges Interesse und war voll. Am Anfang haben wir uns einen Film zum Alltag von drogenkosumierenden Müttern in verschiedenen Ländern angesehen und uns danach über unsere eigenen Erfahrungen und Geschichten in Bezug auf das Stigma HIV, Drogen und Mutterschaft ausgetauscht. Da gab es ganz viele Fragen, gerade von Leuten, die sich noch nicht mit dem Thema beschäftigt hatten, und wir haben auch über negative gesellschaftliche Vorurteile gegenüber drogengebrauchenden Müttern gesprochen. Dank der vertrauensvollen Atmosphäre konnten wir alle unsere Gedanken teilen, Fragen stellen und respektvoll miteinander diskutieren.
Was waren das zum Beispiel für Erfahrungen und Geschichten, über die ihr euch ausgetauscht habt?
Besonders eindringlich war für mich die Erzählung einer Frau aus Kenia. Sie ist mit einer drogenkonsumierenden Mutter großgeworden, die sie als sehr liebevoll beschrieb. Aber sie hat sehr darunter gelitten, dass der Drogenkonsum ihrer Mutter ein riesiges Tabu war, niemand durfte davon wissen und die Mutter konnte auch nie jemanden um Hilfe bitten.
Zum Thema Drogenkonsum gab es sogar eine Karaoke-Nacht unter dem Titel „Sex, Drugs, and HIV“. Was hat es damit auf sich?
Bei der Karaoke-Nacht konnten alle, die wollen, einen Song singen, der für sie mit dem Thema zu tun hat, und dann den anderen erzählen, welche Bedeutung das Lied für sie hat. Ein Klassiker war natürlich „Rehab“ von Amy Winehouse, aber wir hatten auch Sexarbeiterinnen und Frauen mit HIV, die da gesungen und aus ihrer ganz persönlichen Geschichte erzählt haben.
Du hast schon viel von der solidarischen Atmosphäre und der Energie und der Kreativität auf dem Forum erzählt. Wie war es dann, nach einem Konferenztag wieder in den Alltag zurückzukehren?
Diese Atmosphäre hat uns eigentlich die ganze Zeit begleitet. Einmal zum Beispiel war ich im Bus zum Veranstaltungsgelände unterwegs und eine Teilnehmerin sprach mit ihrer Sitznachbarin über Menstruationstassen. Die kannte die noch gar nicht und war begeistert. Und in kürzester Zeit diskutierte der halbe Bus über Menstruationstassen, es gab „Shopping-Tipps“ und viel Lachen.
Wenn du erzählst, wird die Energie spürbar, die du in Bangkok erlebt und mitgebracht hast. Wie trägst du das weiter, wie bringst du Feminismus in die HIV-Prävention?
Das ist Teil meiner täglichen Arbeit. Gemeinsam mit meinen Kolleg*innen versuche ich, Sichtbarkeit für frauenspezifische Themen, für das Thema Frauen mit HIV und für das Thema drogenkonsumierende Frauen herzustellen. Ich setze mich dafür ein, dass Ressourcen für frauenspezifische Themen bereitgestellt werden. Und ich versuche, gemeinsam mit anderen Räume für den solidarischen Austausch zu öffnen – wie auf dem AWID-Forum in Bangkok. Die Möglichkeit, mich in einem so internationalen, intersektionalen Kontext zu beteiligen, und die vielen verschiedenen Erfahrungen von trans Menschen, Sexarbeiter*innen und Menschen aus indigenen Communitys, die ich dort kennenlernen durfte, haben mir neue Ideen und Perspektiven für die internationale Arbeit der Deutschen Aidshilfe gegeben.
Vielen Dank für das Gespräch!
Diesen Beitrag teilen