Flüchtlingspolitik

„Irgendjemand muss jetzt anfangen, die Betonwände zu durchbohren“

Von Christine Höpfner
Der Internist Christoph Weber arbeitet seit 15 Jahren im HIV-Bereich der Tagesklinik am Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin, wo man sich auch um Menschen ohne Krankenschein kümmert. Wir haben ihn zur Versorgung dieser Patienten befragt.

Christoph, wie viele Menschen ohne Krankenversicherung behandelt ihr im Auguste-Viktoria-Klinikum?

Wir führen bisher keine Statistiken über Patienten, die ohne Krankenschein bei uns auftauchen. Wir nehmen sie auf, weil sie krank sind und zu uns geschickt werden oder von selbst in die Rettungsstelle kommen. Erst in der Folge kriegen wir dann mit, ob jemand krankenversichert ist oder nicht. Zahlen gibt’s dazu also keine, aber wir werden jetzt so langsam damit anfangen, Buch darüber zu führen.

Von welchen Stellen werden sie an euch verwiesen?               

Das kommt auf die Grunderkrankung an. Handelt es sich um Menschen mit HIV, werden sie zum Beispiel von der Berliner Aids-Hilfe zu uns geschickt, von niedergelassenen HIV-Ärzten oder von Allgemein- und Fachärzten, die in der Nähe von Sammelunterkünften praktizieren. Nichtversicherte mit anderen Erkrankungen kommen dagegen nicht so häufig zu uns – sie scheinen vom MediBüro auf niedergelassene Ärzte verteilt zu werden. Aber ab und zu fragt das MediBüro bei uns an, ob wir Untersuchungen wie beispielsweise Gastroskopien oder radiologische Untersuchungen durchführen können.

Um welche Krankheiten geht es dabei vor allem, auch um Hepatitis C?

Eigentlich geht es querbeet. Auch Menschen mit Hepatitis C sind darunter, meist Menschen aus Osteuropa, zum Beispiel aus der Ukraine oder aus Russland. Wenn sie keinen Krankenschein haben, sind sie verzweifelt auf der Suche nach einer Behandlung und fragen dann bei uns an, ob wir etwas für sie tun können. In der Regel führen wir dann Voruntersuchungen durch, um zu sehen, ob eine dringliche Indikation zur Behandlung besteht oder ob noch ein bisschen Zeit ist, was meist dann der Fall ist, wenn noch keine Leberzirrhose vorliegt.

Bleiben wir bei Menschen mit HIV: Wie ist ihr Zustand, wenn sie zu euch kommen? Vielleicht schon so, dass man denkt, oh Gott, da muss sofort behandelt werden?

Bei den „Sans Papiers“, also den Menschen ohne Papiere, haben wir das ziemlich oft, aber auch bei anderen Migranten wie etwa Asylbewerbern. Einige sind bereits lebensbedrohlich erkrankt, wenn sie nach Deutschland kommen – das sind diejenigen, die wir am häufigsten sehen. Bei diesen kritischen Fällen handelt es sich um Leute, die entweder bereits wissen, dass sie HIV-infiziert sind, oder die auf der Flucht erkrankt sind und vermuten, dass der Grund eine HIV-Infektion sein könnte.

„Es gibt eine Parallelwelt, die minderversorgt oder gar nicht versorgt ist“

Vor allem bei den „Sans Papiers“ steht der Gesundheitsaspekt ohnehin nicht an erster Stelle. Deshalb kommen sie meist erst dann zu uns, wenn sie Symptome haben, die sie nicht mehr übergehen können. Und wir sehen dabei Dinge, die wir bestimmt schon seit 10 Jahren nicht mehr in dieser Form gesehen haben: schwerste Fälle von PCP, schwerste Kaposi-Sarkome. Es gibt also eine Parallelwelt, die minderversorgt oder gar nicht versorgt ist, und auf der anderen Seite ein relativ stabiles Versorgungssystem für versicherte Patienten.

Kannst du sagen, aus welchen Ländern die Flüchtlinge mit HIV vor allem kommen?

Ein Teil dieser Patienten stammt aus der Ukraine und aus Russland – beides schon seit Jahren Länder mit hoher HIV-Prävalenz –, ein anderer Teil aus Afrika, aber nicht zwingend aus denjenigen Gebieten, wo die HIV-Epidemie besonders dramatisch ist. Oft sind es Leute, die aus politischen Gründen geflohen sind, wie etwa aus Eritrea und dem Maghreb oder auch aus Ländern wie Syrien, Iran und Irak. Und viele von ihnen sind wahrscheinlich Männer, die auch Sex mit Männern gehabt haben. Aber das erfährt man nicht so leicht, weil sie sich anders definieren.

Und wie ist die Geschlechterverteilung?  

Aus dem Bauch heraus würde ich sagen: Die Männer kommen eher aus den osteuropäischen und den islamischen Ländern, die Frauen eher aus Subsahara-Afrika.

Wie geht ihr vor, wenn sich herausstellt, dass ein Patient keine Papiere hat?

In so einem Fall überlegen wir zusammen mit den Flüchtlingen und der Berliner Aids-Hilfe, ob und wie ein Asylantrag gestellt werden kann, damit der Patient wenigstens über das Asylbewerberleistungsgesetz krankenversichert ist. Das klappt manchmal, aber eben nicht immer. Wo das nicht möglich ist, müssen wir schauen, wie die Leute so weit versorgt werden können, dass sie nicht an opportunistischen Infektionen erkranken. Aber wer schon mit einem schlechten Immunsystem und mit schwerwiegenden Erkrankungen kommt, wird bei uns auf Station behandelt – auch ohne Krankenversicherung.

„Wer zu uns kommt und krank ist, wird behandelt. Das ist unser Credo“

Habt ihr dafür ein spezielles Budget?

Nein. Wir sagen: Wer zu uns kommt und krank ist, wird behandelt. Das ist unser Credo, und davon lassen wir uns auch nicht abbringen. Und wir würden die betreffende Person so lange schützen, wie es uns möglich ist, denn wenn jemand andauernd mit der Angst lebt, dass er auffliegt, kann eine Behandlung nicht erfolgreich sein. Glücklicherweise haben wir einen Abteilungschef, der in dieser Sache eine ganz klare Position hat.

Es kann also gar kein Standardverfahren für alle Fälle geben.

Richtig, denn jeder Fall ist ein individuelles Problem, für das es eine individuelle Lösung braucht. Das alles kostet allerdings viel Zeit und unheimlich viel Energie – eigentlich ist diese Situation absolut untragbar. Denn zum Alltagsgeschäft kommen ja zusätzliche Fragen hinzu: Wie finde ich einen Übersetzer? Hat der Patient alles verstanden? Weiß er, wie es weitergeht? Wovor hat er Angst? Damit müssen wir uns intensiv auseinandersetzen, weil man anders gar nicht behandeln kann.

Wie schafft ihr es, unter diesen schwierigen Bedingungen eine gute Versorgung sicherzustellen?

Wir haben Anfang dieses Jahres ein Projekt begonnen, in dem wir mit Sozialarbeitern der Berliner Aids-Hilfe und niedergelassenen Ärzten, die im HIV-Bereich tätig sind, zusammenkommen, um gemeinsam einzuschätzen, ob ein Patient akut von Erkrankung bedroht ist oder nicht, und um festzustellen, wer noch Kapazitäten hat, um jemanden zu behandeln. Es geht hier also um eine engere Absprache und eine bessere Zusammenarbeit zwischen Aidshilfe und medizinischen Einrichtungen im Sinne des Schöneberger Modells, quasi ein „Schöneberger Modell 2.0“.

Klar ist: Ohne die niedergelassenen Ärzte, die gerade in der Versorgung von HIV-Positiven ohne Krankenschein so viel leisten und dabei ja auch Risiken eingehen, würden wir Klinikärzte das alles gar nicht schaffen. Es gibt da sehr pfiffige Ärzte, die sehr gute Medizin für Menschen machen, die sie dringend brauchen, und dafür muss man ihnen ein großes Lob aussprechen!

„Ohne die niedergelassenen Ärzte würden wir das alles gar nicht schaffen“

Aber auch in anderen Bereichen tut sich was. Die Schwulenberatung beispielsweise will sich um Unterkünfte für Menschen kümmern, die wegen ihrer sexuellen Identität fliehen mussten, damit sie nicht in Sammellagern leben müssen. Im Moment scheint aus vielen Akteuren so etwas wie ein Netzwerk zu entstehen, woraus sich irgendwann vielleicht ein Konzept entwickelt. Die Leute arbeiten mehr und mehr zusammen, und daraus könnte etwas Gutes entstehen.

2015 werden für Berlin etwa 15.000 weitere Flüchtlinge erwartet. Auf euch wird also noch mehr Arbeit zukommen.

15.000 ist im Grunde keine schockierende Zahl, wenn man bedenkt, dass nur ein minimaler Prozentsatz der Flüchtlinge nach Europa kommt. Aber die Flüchtlingspolitik kann so, wie sie jetzt ist, keinesfalls weiterlaufen. Der Senat und letztlich die Bundesregierung sind hier gefordert. So wie es für Flüchtlinge eine Arbeitserlaubnis geben muss, muss es für sie auch einen unkomplizierten Zugang zur medizinischen Versorgung geben. Und zwar möglichst bald, sonst kollabieren die zivilgesellschaftlichen Projekte. Daran kann der Staat ja nun überhaupt kein Interesse haben. Denn wenn die wegbrechen, steht er dümmer da als vorher.

Aber noch verlässt er sich ja darauf, dass da immer welche einspringen.

Die Zeit ist mehr als reif, dass die Abschreckungspolitik durch eine Zuwanderungspolitik abgelöst wird. Alles, was angeblich abschrecken soll, hat ja nicht funktioniert. Entweder man akzeptiert, dass weiterhin Zehntausende im Mittelmehr ertrinken und einige, die es bis hier nach Deutschland schaffen, an eigentlich leicht zu therapierenden Krankheiten leiden oder sogar versterben, weil man ihnen nicht helfen will. Oder man sagt sich: So geht’s nicht weiter, wir müssen grundsätzlich etwas daran ändern.

„Alles, was angeblich abschrecken soll, hat ja nicht funktioniert“

Gibt‘s in Berlin so etwas wie einen Runden Tisch, wo Politik, Ärzte und zivilgesellschaftliche Initiativen gemeinsam nach Lösungen suchen?

Dazu gibt es zumindest verschiedene Initiativen. Zum Beispiel will die Deutsche AIDS-Hilfe im Dezember zusammen mit Vertretern aus Medizin, Politik und Wissenschaft, aus Gesundheitsämtern, Aidshilfen, der Deutschen Aids-Stiftung und Organisationen wie beispielsweise Ärzte der Welt einen Fachtag zum Thema „Zugang für alle, auch in Deutschland“ veranstalten. Da wird es nicht darum gehen, ob man auf Änderungen dringen soll, sondern wie man sie durchsetzt. Und alle Aktionen und Demonstrationen, die es in Berlin in den letzten Monaten dazu gegeben hat, zielen in dieselbe Richtung. Ich denke, der Senat wird dem Ganzen gegenüber positiver gestimmt sein, wenn er erfasst, welche Probleme auf ihn zurollen.

In Bremen und Hamburg bekommen Flüchtlinge eine Gesundheitskarte. Auch in Berlin scheint es Interesse an diesem Modell zu geben.

Das ist kein wirklicher Schritt hin zu einer besseren medizinischen Versorgung, sondern bloß eine Maßnahme, mit der die Behörde Geld spart. Wer diese Chipkarte bekommt, muss nicht erst zum Sozialamt, um dort um einen Krankenschein zu bitten, sondern kann selbst entscheiden, wann er medizinische Hilfe in Anspruch nimmt oder sich Medikamente holt. Fürs Erste ist das zwar ganz gut, aber uns geht es ja um etwas anderes, nämlich den tatsächlichen Zugang zur Regelversorgung – ohne jede Einschränkung.

Nun sagen die Ökonomen ja immer, das geht nicht, das ist zu teuer.

Das ist absurd! Wenn jemand mit Medikamenten stabilisiert werden kann, ist das letztlich doch viel billiger als Intensivstation und lange Krankenhausaufenthalte, wofür der Staat ja auch die Kosten übernehmen muss, weil es sich um Notfälle handelt. Aus England weiß man, dass es nicht nur epidemiologisch und individuell, sondern auch ökonomisch durchaus sinnvoll ist, alle Menschen in die Regelversorgung zu bringen und sie mit HIV-Medikamenten zu versorgen. Auch in Frankreich werden Ausländer ohne legalen Status zu den Bedingungen der regulären Versorgung in öffentlichen Krankenhäusern oder Arztpraxen versorgt, ohne dass sie der Polizei gemeldet werden.

„Es gibt keinen Grund, warum das im reichsten Land Europas nicht gehen soll“

Es gibt also keinen Grund, warum das in Deutschland, dem reichsten Land Europas, nicht gehen soll. Das dient lediglich zur Abschreckung, weil man dem Gerücht aufsitzt, dass Leute in Osteuropa oder Afrika sich darüber informieren, wo man in Europa die beste medizinische Versorgung bekommt. Was für ein Unsinn! Die meisten Flüchtlinge wissen doch gar nicht, wie das Gesundheitssystem hier funktioniert, also können sie sich vorher auch nicht informiert haben.

Was glaubst du, wie es weitergeht: Wird die Politik jetzt endlich Nägel mit Köpfen machen? Und könnte Berlin vielleicht eine Vorreiterrolle übernehmen?

Ich finde, irgendjemand muss jetzt anfangen, die Betonwände zu durchbohren. Da könnte der Berliner Senat durchaus mal Vorreiter sein, denn immerhin profitiert Berlin am meisten vom Zuzug und der Präsenz von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. Jemand sollte jetzt den Mut haben und sagen: Gut, wir versuchen ein besonderes Modell, das dann vielleicht ins ganze Land ausstrahlt. Wir jedenfalls wollen mit dem Senat darüber sprechen!

Das Interview führte Christine Höpfner

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