Leben mit HIV

„Am Tag der Geburt war alles anders“

Von Inga Pylypchuk
Eine schwangere Person umfasst den Bauch mit ihren Händen, von hinten wir sie von einer anderen Person umfasst.
© white-studio/photocase.de

Jule ist 34, lebt mit HIV und ist zum zweiten Mal schwanger. Im Gespräch mit Inga Pylypchuk erzählt sie von ihren Erfahrungen mit Ärzt*innen und Geburtskliniken.

Jule, kannst du ein bisschen von deiner Lebenssituation erzählen?

Ich wohne in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen mit meinem Mann und meinem Sohn und bin im sozialen Bereich tätig. Mit HIV lebe ich seit meiner Geburt. In meiner Familie wissen alle Bescheid, aber nicht mein Arbeitgeber. Mein Sohn ist etwas älter als ein Jahr und jetzt erwarten wir unser zweites Kind. Es soll im Juni kommen.

Wie waren deine Erfahrungen mit der ersten Schwangerschaft? Hast du dich in deiner Selbstbestimmung eher gefördert oder eher gehindert gefühlt?

Am Anfang der Schwangerschaft hatte ich gute Erfahrungen. In meiner niedergelassenen gynäkologischen Praxis wurde ich gut beraten. Meine Gynäkologin war auch schon im Vorfeld der Schwangerschaft sehr professionell im Umgang mit HIV. Dann war ich noch zum Vorgespräch an der Medizinischen Hochschule Hannover, wo ich die HIV-Ambulanz eh regelmäßig besuche, und das lief ebenfalls gut. Ich hatte mich vorher informiert und wusste genau, was ich wollte: eine Spontangeburt [Anm. d. Red.: Lange Zeit wurde Menschen mit HIV eine Kaiserschnitt-Entbindung empfohlen], keine Neo-PEP [Anm. Postexpositionsprophylaxe für das Kind, das heißt Behandlung des Neugeborenen mit einem HIV-Medikament] und auf jeden Fall stillen. Der Arzt hat mich darin bestärkt und ich war zufrieden. Wir haben uns zusammen die Leitlinien angeschaut, alles durchgesprochen, er hat meine Blutwerte überprüft und meine Wünsche aufgenommen. „Alles kein Problem,“ hat er gesagt. Doch am Tag der Geburt war plötzlich alles anders.

Das Klinikpersonal ist in diesen Fragen oft nicht gut informiert.

Wie war es dann?

Als ich auf die Wöchnerinnenstation kam, musste ich zuerst einen Anamnesebogen ausfüllen. Ich habe gefragt, wo denn meine Akte sei, die bereits vorbereitet wurde. Aber irgendwie gab es keine Verbindung zwischen der Pränataldiagnostik, der Wöchnerinnenstation und dem Kreißsaal. Also habe ich alles noch einmal detailliert aufgeschrieben: meine Werte und meine Wünsche. Dann hat mir eine Krankenschwester ein paar Flyer gegeben. „Den Flyer zum Stillen nehme ich schon mal raus, den brauchen Sie ja nicht,“ sagte sie. Ich erwiderte: „Doch, das ist möglich mit einer Viruslast unter der Nachweisgrenze, lesen Sie die Leitlinien.“ Daraufhin antwortete sie, dass HIV-positive Frauen bei ihnen auf Station normalerweise nicht stillen. Ich war auf 180 und sagte, dass das alles bereits besprochen wurde und ich stillen darf. Danach brachte sie mich einfach auf mein Zimmer und sagte nichts mehr.

Wie erklärst du dir das?

Das Klinikpersonal ist in diesen Fragen oft nicht gut informiert. Ich habe mich dann bei einer Oberärztin beschwert. Sie meinte, es tue ihr leid, dass die Schwestern es nicht wussten. Das war für mich sehr ärgerlich, aber ich konnte dagegenhalten. Es gibt jedoch Frauen, die sich durch solche Kommentare stark verunsichern lassen. Die dann denken: „Oh, wenn sie das so sagt, vielleicht sollte ich lieber nicht stillen,“ und es aufgeben. Ich wünsche mir einfach, dass Frauen an dieser Stelle ausgewogen beraten werden. Dass nicht Ängste in den Vordergrund geschoben werden, sondern dass sie sachlich informiert werden – insbesondere darüber, dass Frauen mit supprimierter Viruslast stillen können. Generell sollte mehr über die Vorteile des Stillens gesprochen werden und die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Klinik besser laufen.

Wie lief es dann weiter?

36 Stunden später kam mein Sohn auf die Welt. Die Geburt verlief gut. Aber was ich noch nicht erwähnt habe: Die Geburt musste fünf Wochen früher eingeleitet werden, aufgrund von Schwangerschaftskomplikationen – das hatte nichts mit HIV zu tun. Mein Sohn musste daher zunächst unter Beobachtung bleiben. Auch bei den Kinderärzten fehlte die Information über meine Viruslast, sie haben während der ersten Untersuchung noch einmal bei meinem Mann nachgefragt, ob darüber etwas bekannt sei, da wir uns gegen die Neo-PEP entschieden hatten.

Generell sollte mehr über die Vorteile des Stillens gesprochen werden und die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Klinik besser laufen.

Da mein Sohn fünf Wochen zu früh kam, trank er schwach und das erste Anlegen hat im Kreißsaal zunächst nicht geklappt. Als ich dann drei Stunden später fragte, ob wir es noch einmal mit dem Anlegen versuchen könnten, war die Antwort der Schwester: „Wenn Sie meinen …“ Sie hat mich überhaupt nicht unterstützt. Generell war die Einstellung der Schwestern in dieser Hinsicht: „Muss das denn sein?“

Wir waren zehn Tage im Krankenhaus. Die ganze Zeit habe ich abgepumpt, mehr oder weniger alleine Stillversuche unternommen und mich bemüht, eine Stillberatung zu bekommen. Erst am letzten Tag haben wir endlich eine Beraterin gesehen. Sie war super und hat sehr hilfreiche Tipps gegeben. Aber wenn ein Kind zehn Tage lang aus der Flasche trinkt, klappt das mit dem Stillen oft nicht mehr, mein Sohn hatte eine Saugverwirrung. Letztendlich habe ich sieben Monate lang pumpgestillt.

Wie fühlst du dich jetzt in deiner zweiten Schwangerschaft? Helfen dir deine Erfahrungen?

Ganz unabhängig von HIV vergeht die zweite Schwangerschaft viel schneller als die erste. Und ich muss nicht so viel vorbereiten, weil mein erster Sohn noch so klein ist. Was den Umgang mit HIV betrifft, bleibt es eine Herausforderung. Erstens gibt es in der Nähe keine Klinik, die in Frage kommt, wir müssen weit fahren. Meine Wünsche sind die gleichen wie beim ersten Mal. Ich spreche darüber, aber man weiß nie, wie es dann auf der Station tatsächlich läuft.

Ein Arzt sollte im Jahr 2025 auf dem aktuellen Stand sein und nicht auf dem der 1990er Jahre.

Ich habe nach einer besseren Geburtsklinik gesucht, aber bisher keine gefunden. Eine, die wir besucht haben, hatte sogar noch strengere Regeln. Der Chefarzt konnte zunächst nicht glauben, dass wir unser Kind auf natürlichem Wege gezeugt haben. Selbst wenn das nicht sein Fachgebiet ist – ein Arzt sollte im Jahr 2025 auf dem aktuellen Stand sein und nicht auf dem der 1990er Jahre.

Auf jeden Fall. Was würdest du anderen schwangeren Frauen raten?

Jule: Sich vorzubereiten. Auf die Geburt kann man sich vielleicht nicht ganz vorbereiten, aber auf diese Gespräche schon. Sich informieren und souverän bleiben.

Was wünschst du dir von den Kliniken?

Ich wünsche mir, dass Ärzt*innen und das Personal die aktuellen Leitlinien kennen und sich daran halten. Dass sie nicht ihre eigenen Regeln aufstellen und man nicht ständig diskutieren muss. Und dass die Kommunikation untereinander funktioniert – damit Frauen nicht immer wieder alles neu erklären müssen.

Am meisten hasse ich den Satz: „Bei uns war das aber schon immer so.“

Traut den Frauen mehr zu! Sie können sehr wohl Verantwortung für sich selbst und ihre Kinder übernehmen.

Außerdem wünsche ich mir einen respektvollen Umgang – und das betrifft das gesamte Gesundheitssystem, nicht nur Geburts- oder Unikliniken. Ich wurde schon so oft aus reiner Neugier gefragt, wie ich mich infiziert habe und wie ich damit lebe. Ich will diese übergriffigen Fragen nicht beantworten müssen, sondern einfach medizinisch betreut werden.

Du hast selbst an den neuen Leitlinien zu HIV und Schwangerschaft mitgearbeitet, die im März 2025 vorgestellt werden. Gab es Punkte, die umstritten waren? Wie findest du die neuen Leitlinien?

Bei den pädiatrischen Kapiteln gab es schon Diskussionen – zum Beispiel darüber, ob man wirklich weniger Kontrollen zulassen kann. Aber im Großen und Ganzen werden die neuen Leitlinien den Frauen und auch den Kindern das Leben etwas erleichtern.

Was mich oft stört, ist die Annahme, dass die Geburt eines Kindes das Leben so sehr verändert, dass Frauen es nicht mehr schaffen, ihre Medikamente zu nehmen. Da denke ich immer: Traut den Frauen mehr zu! Sie können sehr wohl Verantwortung für sich selbst und ihre Kinder übernehmen. Wenn die Gesundheit meines Kindes davon abhängt, nehme ich meine Medikamente doch erst recht zuverlässig.

Spielt HIV generell eine Rolle in deinem Muttersein?

Ich würde sagen: Nein. Das Einzige, woran ich denken muss, ist, wie ich meine regulären Termine in der HIV-Ambulanz und die 200 Kilometer zur Klinik – bald mit zwei Kindern – organisiere. Mein Mann nimmt sich dafür frei, dann geht es. Die Logistik bleibt das größte Problem.

Danke für dieses Gespräch. Ich wünsche dir alles Gute bei der Suche nach einer Klinik und für die Geburt!

Danke.


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