„Die neue Leitlinie stärkt die Autonomie von Schwangeren mit HIV“

Seit September 2025 ist sie öffentlich: die neue Deutsch-Österreichische Leitlinie zu HIV und Schwangerschaft. Wir haben mit der Leitlinienkoordinatorin Dr. Annette Haberl gesprochen.
Liebe Annette, wie wichtig ist die Leitlinie zu HIV und Schwangerschaft für die Praxis und was sind die wesentlichen Änderungen gegenüber der vorherigen Version?
Die Leitlinie ist eine wichtige Orientierungshilfe für Entscheidungen im klinischen Alltag. Ihre Empfehlungen basieren auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie Expert*inneneinschätzungen aus der Leitliniengruppe. Wenn ich die wesentlichen Änderungen der jetzigen Leitlinie im Vergleich zur vorherigen Version zusammenfassen soll, dann ist es ein Mehr an Normalität für Schwangere, die mit HIV leben, und auch für ihre Kinder. Konkret bietet die neue Leitlinie beispielsweise mehr Auswahlmöglichkeiten für die antiretrovirale Therapie in der Schwangerschaft. Die Intervalle für Viruslastkontrollen während Schwangerschaft und Stillzeit wurden deutlich verlängert und eine Postexpositionsprophylaxe für Neugeborene von Schwangeren [Anm. d. Red.: Behandlung des Neugeborenen mit HIV-Medikamenten über vier Wochen], die bereits länger virologisch supprimiert sind, wird nicht mehr empfohlen. Bei der Säuglingsernährung ist eine Entscheidung für das Stillen für Eltern mit HIV inzwischen eine echte Alternative zur Flaschennahrung. Insgesamt stärkt die neue Leitlinie die Autonomie von Schwangeren mit HIV und stellt eine informierte Entscheidungsfindung in den Mittelpunkt.
Wenn ich die jetzige Leitlinie im Vergleich zur vorherigen Version zusammenfassen soll, dann ist es ein Mehr an Normalität für Schwangere, die mit HIV leben, und auch für ihre Kinder.
Gelten die Empfehlungen der Leitlinie für alle Schwangeren mit HIV in Deutschland bzw. sind sie für alle umsetzbar?
Die Leitlinienempfehlungen gelten für Deutschland und Österreich – es ist ja die Leitlinie zweier Länder. Und ja, sie gilt für alle Schwangeren mit HIV. Allerdings erreichen wir nicht alle Schwangeren gleichermaßen. Eine Herausforderung stellen beispielsweise immer noch Menschen ohne Krankenversicherung dar, die sich manchmal erst zur Geburt vorstellen. Hier kommen wir mit unseren Leitlinienempfehlungen zur Vorsorge natürlich zu spät. Immerhin können wir in einem solchen Fall noch einen HIV-Test im Kreißsaal und die Postexpositionsprophylaxe für das Neugeborene anbieten. Das ist auch eine Leitlinienempfehlung, ebenso wie das Monitoring exponierter Kinder zum Ausschluss einer HIV-Übertragung.
Wie viele Geburten bei Menschen mit HIV gibt es in Deutschland pro Jahr etwa? Wie häufig kommt es zu HIV-Infektionen von Kindern und was sind die Gründe?
Nach Schätzungen des RKI gibt es in Deutschland jährlich etwa 500 bis 600 Geburten bei Menschen mit HIV. Genaue Zahlen liegen dazu nicht vor, weil die Daten außerhalb des HIV-Schwangerschaftsregisters bundesweit nicht systematisch erfasst werden. Und am Register beteiligen sich leider nicht alle Zentren. Die vertikale HIV-Transmissionsrate [Anm. der Red.: Übertragungsrate von der schwangeren Person auf das Kind] liegt bei entsprechenden Prophylaxemaßnahmen inzwischen unter 1 %. Die wenigen Fälle einer HIV-Übertragung während Schwangerschaft, Geburt oder Stillzeit, die wir bei uns noch sehen, werden regelmäßig vom RKI aufgearbeitet. In den meisten Fällen wurde zwar die HIV-Erstdiagnose bei der schwangeren Person in Deutschland gestellt, die Schwangerschaftsbetreuung und Geburt fanden aber im Ausland statt. Bei den in Deutschland geborenen Kindern wurde die HIV-Diagnose der Schwangeren häufig zu spät gestellt bzw. sind daraus keine Konsequenzen (zum Beispiel umgehender Therapiebeginn bei der schwangeren Person) gezogen worden. Und ja, es wird auch immer noch nicht allen Schwangeren ein Testangebot gemacht. Das ist wirklich eine verpasste Chance.
Wenn noch Entscheidungen auf der Grundlage veralteter Informationen getroffen werden, kann das für Schwangere zur Herausforderung werden.
Was sind in der Praxis die größten Probleme bei der Versorgung von Menschen mit HIV in der Schwangerschaft, bei der Geburt und in der Stillbegleitung?
Nicht überall funktioniert die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen HIV-Schwerpunkt, Gynäkologie/Geburtshilfe und Pädiatrie optimal. Wenn dann teils noch Entscheidungen auf der Grundlage veralteter Informationen getroffen werden, kann das für Schwangere zur Herausforderung werden. Das Thema Stillen ist hier ein gutes Beispiel. Obwohl auch schon die vorherige Leitlinie klare Empfehlungen zum Stillen im Kontext von HIV gegeben hat, wurden diese nicht in allen Zentren sofort umgesetzt. Das hat insgesamt wirklich lange gedauert und in einigen Kliniken wird Schwangeren mit HIV auch heute noch vom Stillen abgeraten. Das liegt natürlich auch daran, dass die Zahl der Schwangeren mit HIV in Deutschland eben relativ klein ist und daher geburtshilfliche und kinderärztliche Abteilungen nicht jeden Tag mit dem Thema zu tun haben. Und wie immer im klinischen Alltag fehlt oft einfach die Zeit, sich mit anderen Fachrichtungen zusammenzusetzen und ein interdisziplinäres Vorgehen auf Grundlage der aktuellen Leitlinie zu erarbeiten. Insgesamt hat sich aber schon viel getan, nicht zuletzt auch durch das Engagement von Schwangeren mit HIV, die eine leitliniengerechte Behandlung eingefordert haben.
Was ist zu tun, um die Versorgung von Menschen mit HIV in punkto Schwangerschaft, Geburt und Stillen zu verbessern und die Informationslage bei allen Beteiligten – Menschen mit HIV selbst, Berater*innen in Aidshilfen, pro familia und Co., Gynäkolog*innen, Hebammen, dem medizinisch-pflegerischen Personal in Geburtsstationen, Stillberater*innen usw. – zu verbessern?
Selbstkritisch würde ich sagen, dass wir einfach mehr aus unserer „HIV-Blase“ rausgehen müssen. Dazu gehört, dass wir die neuen Leitlinienempfehlungen so schnell wie möglich auch bei Gynäkolog*innen, Geburtshelfer*innen, Hebammen und Kinderärzt*innen bekannt machen. Lokale Treffen oder auch Tagungen der beteiligten Fachrichtungen bieten hier eine Möglichkeit. Beratungsstellen für Schwangere sowie lokale Aidshilfen sollten die wesentlichen Punkte der Leitlinie auf jeden Fall auch kennen.
Wir müssen die neuen Leitlinienempfehlungen so schnell wie möglich auch bei Gynäkolog*innen, Geburtshelfer*innen, Hebammen und Kinderärzt*innen bekannt machen.
In einigen Behandlungszentren haben sich auch Einleger im Mutterpass als einfache und äußerst effektive Möglichkeit bewährt, aktuelle Informationen interdisziplinär weiterzugeben.
Zum Schluss sei noch erwähnt, dass Informationen aus der HIV-Schwangerschaftsleitlinie demnächst auch komprimiert (z. B. als Flussdiagramm) online zur Verfügung stehen sollen. Dazu wurde innerhalb der Leitliniengruppe bereits eine entsprechende Arbeitsgruppe gebildet.
Vielen Dank für das Interview, Annette!
Dr. Annette Haberl ist seit 1996 Ärztin im HIVCENTER der Universitätsmedizin Frankfurt am Main, wo sie seit 1998 eine interdisziplinäre Sprechstunde für Schwangere mit HIV anbietet; am HIVCENTER leitet sie außerdem den Bereich „HIV und Frauen“. Seit 2000 organisiert und leitet Dr. Haberl die jährliche Fachtagung „HIV & Schwangerschaft“. Gemeinsam mit Prof. Dr. med. Georg Behrens koordinierte sie die Überarbeitung der Deutsch-Österreichischen Leitlinie zur HIV-Therapie in der Schwangerschaft und bei HIV-exponierten Neugeborenen“.
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