Viren im Dornröschenschlaf: Was es mit „Latenz“ auf sich hat
Das Phänomen der Latenz ist sowohl bei Viren als auch bei menschlichen Genen zu beobachten. Wenn wir verstehen, wie unser Körper die Ablesung eigener Gene und auch von HIV regelt, könnten wir Wege zur HIV-Heilung finden.
Das Phänomen der Latenz in der Biologie bedeutet, dass etwas „ruht“ oder „inaktiv“ bleibt, obwohl es grundsätzlich aktiv werden könnte. Dieses Prinzip ist sowohl bei Viren wie HIV als auch bei der Regulation menschlicher Gene während der Embryonalentwicklung und im späteren Leben zu beobachten. Wir beginnen gerade erst zu verstehen, wie unser Körper die Ablesung eigener Gene oder auch von HIV regelt. Diese Kenntnis könnte in der Zukunft wichtige Hinweise für eine mögliche Heilung der HIV-Infektion liefern.
Es besteht die Hoffnung, dass durch ein besseres Verständnis der Latenzmechanismen Verfahren entwickelt werden, mit denen HIV endgültig abgeschaltet werden kann
Virensequenzen im Erbgut
Man geht davon aus, dass das Erbgut des Menschen zu etwa 8-10 % aus Sequenzen besteht, die ursprünglich aus Viren stammen. Man nennt sie „Humane endogene Retroviren“ (HERV). Es handelt sich dabei um Viren, die vor langer Zeit Menschen und ihre Vorläufer infiziert haben und sich, ähnlich wie HIV, in das Erbgut integriert haben. Im Gegensatz zu HIV sind diese Viren aber dauerhaft „stumm geschaltet“; allerdings können diese Viren unter besonderen Umständen, z. B. in Krebszellen oder bei bestimmten neurologischen Erkrankungen, dennoch reaktiviert werden. Wie unser Körper dies genau anstellt und warum das bei HIV (noch?) nicht funktioniert, ist aktuell Gegenstand intensiver Forschung.
Gene unter Kontrolle
Unser Körper hat ein ganzes Arsenal an Methoden zur Regulation der Gentätigkeit. Während der Embryonalentwicklung müssen viele Gene aktiv sein, die der Entwicklung und des Wachstums des Körpers und der Organe dienen. Ist diese Entwicklung abgeschlossen, müssen diese Gene stumm geschaltet werden – sonst würde der Körper unkontrolliert weiter wachsen. Unkontrolliertes Wachstum ist eine Eigenschaft von Krebszellen und darf in einem gesunden Organismus nicht vorkommen.
Aber auch im erwachsenen Organismus müssen Gene fein reguliert werden: So muss die Produktion vieler Stoffe, wie Botenstoffen oder Hormonen je nach Bedarf gesteuert werden. Das bedeutet, dass auch die Ablesung der entsprechenden Gene sehr genau an den gerade herrschenden Bedarf angepasst werden muss. Der Körper verfügt also über eine Vielzahl von Kontrollmöglichkeiten der Genexpression – vom „Ein-/Aus-Schalter“ von Genen bis hin zu „Zählern“, die festlegen, wie oft ein Gen abgelesen werden soll.
Den HIV-Wecker abstellen
So weit wir es heute verstehen, nutzt HIV zum Teil diese zelleigenen Mechanismen für seine Latenz. Nach der Infektion der Zielzelle baut sich HIV in das menschliche Erbgut ein und versetzt sich selbst dabei in eine Art Schlafzustand. Gleichzeitig installiert das Virus aber einen „zellulären Wecker“ (das Tat-Protein), der bei einer Aktivierung der Zelle, z. B. durch Entzündungen oder Immunreaktionen, HIV wieder erweckt und den Vermehrungszyklus des Virus fortsetzt. Gelänge es, diesen „Wecker“ zu blockieren und HIV in seiner latenten Form zu verriegeln, könnte das Virus keinen Schaden mehr anrichten, obwohl es immer noch im Erbgut des Menschen vorhanden wäre. Damit wäre HIV zu einem weiteren HERV geworden, das zwar noch im Erbgut schlummert, aber eben nicht mehr aufwacht.
Gelänge es, HIV in seiner latenten Form zu verriegeln, könnte das Virus keinen Schaden mehr anrichten, obwohl es noch im Erbgut vorhanden wäre.
Es gibt noch zahlreiche weitere Mechanismen, die zur Zeit erforscht werden. Eine Möglichkeit, die Ablesung eines Gens zu verhindern, liegt in der „epigenetischen Modifikation“. Darunter versteht man die chemische Veränderung der DNA-Bestandteile (z. B. durch Methylierung), die der Maschinerie der Zelle signalisieren, dieses Gen zu ignorieren. Das Schwierige daran ist, gezielt nur die Gene von HIV abzuschalten und die restlichen Gene der Zelle so zu belassen, wie sie sind. Solche epigenetischen Modifikationen, z. B. durch Histon-Deacetylase-Inhibitioren, werden bereits in Studien zur gezielten Aktivierung von HIV untersucht. Dies ist allerdings die genau entgegengesetzte Strategie, mit der versucht wird, HIV gezielt zu „wecken“, um es für das Immunsystem sichtbar und bekämpfbar zu machen. Andere Methoden zur gezielten Stummschaltung werden derzeit in Zellkulturen und Tierexperimenten untersucht.
Ablesen und Zählen der HIV-Gene verhindern
Eine weitere Forschungsrichtung nutzt die Tatsache, dass das menschliche Erbgut (DNA), damit es überhaupt in die Zelle passt, sehr eng „aufgewickelt“ sein muss. In dieser stark verknäuelten Form sind die meisten Gene unzugänglich und abgeschaltet. Um ein Gen abzulesen, muss die Zelle an der Stelle dieses Gens das Erbgut durch spezielle Werkzeuge (Enzyme) entwirren. Gelänge es nun, diese Entwirrung der HIV-Gene gezielt zu blockieren, könnten diese HIV-Gene nicht mehr abgelesen werden und das Virus bliebe in seiner Latenz gefangen. Auch hier besteht aber das Problem, wie man gezielt das Entwirren der HIV-Gene verhindert ohne den Rest des genetischen Materials zu beeinträchtigen.
Eine letzte Möglichkeit zur Kontrolle von HIV ist der so genannte Promotor. Dabei handelt es sich um eine regulatorische Gensequenz, die am Beginn des eingebauten Virus liegt. Diese Sequenz funktioniert wie ein Zähler, der festlegt, wie oft die Gensequenz von HIV abgelesen werden soll. Verriegelt man diesen Promotor, setzt man den Zähler praktisch auf Null und HIV wird überhaupt nicht abgelesen – es bleibt in der Latenz. Aber andere Gene haben eben auch Promotoren, die strukturell sehr ähnlich sind.
Latenzforschung gibt Hoffnung
Es ist also im Prinzip immer das gleiche Problem: Wie beeinflusse ich die regulatorischen Mechanismen so, dass nur HIV stummgeschaltet wird und der Rest der Zelle normal funktioniert? Dass dies möglich sein muss, beweist die Zelle selbst sowohl durch die perfekt orchestrierte Genregulation im Rahmen der Embryonalentwicklung als auch durch das Phänomen der HERVs, die zum Teil mit HIV vergleichbar sind. Es besteht also die berechtigte Hoffnung, dass durch ein besseres Verständnis der Latenzmechanismen eines Tages Verfahren entwickelt werden, mit denen HIV endgültig abgeschaltet werden kann – was einer Heilung gleichkäme.
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