Schlafende Viren wecken

Von Holger Wicht
Wie könnte HIV eines Tages wieder aus dem Körper entfernt werden? Auf dem Weg zu einer Antwort auf diese große Frage ist die Wissenschaft wieder ein kleines Stückchen voran gekommen.

Forscher des italienischen Gesundheitsinstituts Istituto Superiore di Sanità (ISS) haben eine Wirkstoffkombination entwickelt, die latente HI-Viren aus ihren Reservoirs lockt – und gemeinsam mit einer Antiretroviralen Therapie (ART) unschädlich machen könnte. Bisher erwischt die Methode allerdings nur einen Teil der Viren, und das auch nur im Reagenzglas. Die Ergebnisse ihrer Versuche haben die Wissenschaftler gerade in der Fachzeitschrift Retrovirology veröffentlicht.

HIV ist schwer aus der Reserve zu locken.

Das Problem, das die Forschung zu lösen hat, ist knifflig: Bisher lässt sich mit einer ART zwar die Virusvermehrung stoppen. Doch selbst wenn keine Viren im Blut mehr nachweisbar sind, bleibt HIV in vielen verschiedenen Körperzellen erhalten, es schlummert gewissermaßen und kann sich von dort aus jederzeit wieder vermehren, wenn nicht mehr genügend antiretrovirale Substanzen im Blut sind.

Setzt man zum Beispiel die ART irgendwann ab, schießt die Viruslast wieder in die Höhe.

Wie also bekommt man die „Schläfer“ zu fassen? Schon länger gibt es die Idee, diese HIV-infizierte Zellen künstlich zu aktivieren, damit sie dann einfach, wie alle Körperzellen, irgendwann eines natürlichen Todes sterben. Die ART würde dabei verhindern, dass sich das Virus nach der Aktivierung vermehren könnte.

So lassen sich die Viren zum Beispiel mit so genannten Histon-Deacetylase-Hemmern aus der Reserve locken. Histon-Deacetylasen (HDACs) sind körpereigene Enzyme, die HIV benötigt, um in der Latenz zu verharren. Blockiert man das Enzym, wird das Virus freigesetzt.

„Shock and kill“ könnte eine Lösung sein.

Die Idee ist gut, aber leider haben HDACs mehrere wichtige Funktionen bei der Steuerung des Zellwachstums. Der HDAC-Hemmer ist darum nicht nur für HIV schädlich, sondern auch für den Patienten.

Die Italiener haben nun möglicherweise einen Weg gefunden, dieses Problem zu umgehen. Sie verwendeten nur geringe, weniger toxische Dosen eines bestimmten HDAC-Hemmers und fügten einen weiteren Wirkstoff hinzu: Buthionin-Sulfoximin. Dieser Stoff reduziert einen anderen Stoff in den Körperzellen, Gluthation. So werden die Zellen mit den Viren unter oxidativen Stress gesetzt, was die Vermehrung des Virus zusätzlich anregt. „Shock and kill“, nennen die Wissenschaftler dieses Verfahren.

Und siehe da: Die Medikamente erwischten in den Laboren des ISS trotz der geringen Dosis eine erkleckliche Anzahl Viren (wenn auch nicht alle). Dabei starben die HIV-infizierten Zellen tatsächlich ab, die gesunden hingegen lebten weiter. Die Ergebnisse der Italiener könnten somit eines Tages ein Baustein zur lang erhofften Eradizierung (Entfernung) von HIV werden.

Experten warnen allerdings vor Überschwang. „Die Frage ist immer: Klappt das auch beim Menschen und gelingt es wirklich, HIV aus jeder Zelle herauszulösen – im Knochenmark, im Gehirn, im zentralen Nervensystem insgesamt“, sagt Professor Jürgen Rockstroh, Präsident der Deutschen Aids-Gesellschaft. „Der Sprung von einem gelungenen Experiment in der Grundlagenforschung zu einem Medikament ist gewaltig groß.“

„Vorerst nur eine Hoffnung aus dem Reagenzglas.“

Das zeigt auch die „molekulare Schere“, mit der deutsche Forscher vor zwei Jahren für Aufsehen gesorgt haben. Die Schere besteht aus Enzymen, so genannten Rekombinasen, und kann HIV aus infizierten Zellen wieder herausschneiden. Auch das funktioniert bisher nur im Experiment und noch lange nicht beim Menschen. Bei diesem Verfahren zur Eradizierung lautet die große Frage: Wie bekommt man den Wirkstoff in die Zellen hinein?

„Es gibt die Möglichkeit der Heilung“, resümiert Rockstroh, „aber im Juni 2009 bleibt sie vorerst eine Hoffnung aus dem Reagenzglas.“

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