Drogen

quapsss: Neue Wege für Chemsex-User

Von Holger Wicht
Ausweg
Das innovative Gruppenangebot quapsss eröffnet Möglichkeiten, Autonomie und sexuelle Lust ohne Drogen zurückzugewinnen. Es startet im Januar in sechs Städten. Projektleiter Urs Gamsavar erläutert das Pilotprojekt im Interview.

Immer mehr schwule Männer haben Probleme mit dem Konsum pyschoaktiver Substanzen beim Sex. Im professionellen Hilfesystem fehlen spezielle Angebote. Die Deutsche Aidshilfe und ihre Mitgliedsorganisationen starten nun ein innovatives Angebot: quapsss (kurz für „Qualitätsentwicklung in der Selbsthilfe für MSM*, die psychoaktive Substanzen im sexuellen Setting konsumieren).

Mit eigens ausgebildeten Trainer_innen werden Gruppenangebote initiiert, die genau die Bedürfnisse dieser speziellen Zielgruppe treffen und Probleme mit Chemsex ganzheitlich angehen. Los geht’s im Januar 2020 zunächst in sechs Städten: Berlin, Kassel, Frankfurt/Main, Hamburg, Köln und München.

Herr Gamsavar, warum braucht es ein neues bundesweites Modellprojekt?

Im Modellprojekt QUADROS haben wir eine Bestandsaufnahme durchgeführt und die Erkenntnis gewonnen, dass Chemsex-User im bestehenden Hilfssystem der Drogenberatungsstellen mit ihren spezifischen Bedürfnissen schlecht andocken können. Zugleich wissen wir aus dem SIMDIS-Projekt, dass Selbsthilfekonzepte im Prinzip hilfreich sein können. Entsprechende Angebote werden aber bisher zu wenig wahrgenommen.

Woran liegt das?

Zum einen, weil die Chemsex-Praktizierenden von diesen Angeboten kaum erfahren. Es ist grundsätzlich nicht einfach, diese Männer zu erreichen. Außerdem spielt eine große Rolle, in welcher Sprache die Angebote kommuniziert werden. Allein der Begriff Selbsthilfe wirkt auf viele einfach nicht sexy, innovativ und dynamisch, sondern eher altbacken.

Was machen Sie anders?

Bisherige Programme sind in der Regel auf wenige, sehr intensive Wochen angelegt. Manche setzen Abstinenz voraus, das heißt die Leute müssen bereits einen Entzug oder eine Therapie hinter sich haben. Oder es gibt offene Gruppen. Die können zwar auch hilfreich sein, aber dort entstehen meist nicht die geschützte, vertrauensvolle Atmosphäre, die man braucht, um intensiv über sehr persönliche Themen zu sprechen. Wir gehen darum einen anderen Weg: Unser Gruppenangebot wird die Teilnehmer über ein Jahr durch einen Prozess begleiten. Es braucht einfach seine Zeit, bis sich Sucht- und Sexualitätsstrukturen verändern.

Das heißt, die Teilnehmer müssen nicht „clean“ sein, wenn es losgeht?

Nein, Abstinenz ist weder Voraussetzung, noch muss sie das Ziel sein. Es gibt diesbezüglich nur eine Regel: Die Leute sollen nach Möglichkeit 24 Stunden vor den Gruppenmeetings nichts konsumiert haben.

Urs Gamsavar ist Projektleiter von quapsss (Bild: DAH)

An was für Menschen richtet sich Ihr Angebot?

An alle, die Substanzen wie Crystal, Ketamin, GHB/GBL oder ähnliches konsumieren und sagen: „Ich hab’s nicht mehr im Griff. Ich möchte etwas ändern.“ Wichtig ist die Bereitschaft, sich auf einen längeren, intensiven Prozess einzulassen. Quapsss bietet keine Therapie, aber es geht schon darum, sich zu reflektieren und etwas in Gang zu bringen. Mit den eigenen Themen und Problemen konfrontiert zu sein, kann phasenweise auch weh tun. Andererseits kann so ein Gruppenprozess mit klaren Zielen sehr heilsam sein.

Was passiert konkret in dem Programm?

Es geht darum, Kompetenzen zu entwickeln und zu stärken, die die Chemsex-User brauchen, um wieder selbstständig zurecht zu kommen. Das passiert mithilfe von fünf Trainingseinheiten, die jeweils eine zentrale Fähigkeit zum Ziel haben.

Wie wird das ganz konkret aussehen?

Es geht los mit Kommunikation: Zunächst lernen sich die Teilnehmer kennen und bauen Kontakt auf. Wir unterstützen sie dabei. Ziel ist eine Vertrauensbasis, um in intime Bereiche vordringen zu können. Im zweiten Modul geht es dann um Sex. Was bedeutet Sexualität für mich? Wie habe ich Sexualität bisher erlebt? Welche Bedürfnisse befriedige ich dadurch?

Es geht also nicht gleich um das Problem, sondern erstmal um Bedürfnisse?

Richtig. Denn Chemsex ist für viele schwule Männer zunächst einmal die Antwort auf ganz andere Fragen und Probleme. Die Männer konsumieren zum Beispiel, weil sie intensivere sexuelle Erlebnisse suchen, weil sie Ängste haben oder um Scham und Selbstwertprobleme zu überwinden, die ihre Sexualität behindern. Es geht also um tiefe Bedürfnisse. Das gilt es zu würdigen. Erst im dritten Modul stehen dann Konsum und Sucht im Vordergrund.

Welche positiven Fähigkeiten setzen Sie den genannten Problemen entgegen?

Unter anderem Autonomie und Selbstbestimmung: Darum geht es im vierten Modul.

Das sind große Themen! Mit welchen Fragestellungen gehen Sie da vor?

Wofür schäme ich mich? Lebe ich wirklich meine tatsächlichen Bedürfnisse oder erfülle ich vor allem Erwartungen? Gehe ich in den Sexclub oder auf Sexpartys, weil man das in der schwulen Szene eben so macht oder weil ich es wirklich möchte und es mich erfüllt? Die Antworten auf solche Fragen können den Weg weisen zu dem, was man wirklich will und dazu motivieren, eigene Wege zu entwickeln und selbstbewusst umzusetzen.

Das klingt plausibel, aber ist das Problem mit solchen Reflexionen wirklich zu lösen? Viele Chemsex-User berichten, sie können sich Sex ohne Drogen einfach nicht mehr vorstellen. Er erscheint ihnen nicht mehr lohnend, nicht intensiv genug.

Deswegen geht es am Ende des Programms darum, sich intensiv mit der eigenen Körperwahrnehmung auseinanderzusetzen. Viele haben die Fähigkeit verloren, einen sexuellen Bezug zu ihrem eigenen Körper herzustellen. Die Körperwahrnehmung ist stark eingeschränkt. Es geht darum, sich selbst wieder feiner zu spüren, sich zu sensibilisieren für das eigene Empfindungsvermögen. Wir geben Anregungen, wie man Lustempfinden unabhängig von Drogen zurückgewinnen kann.

Wie werden die Gruppen angeleitet?

Wir haben speziell für dieses Programm Gruppenleiter ausgebildet. Darunter sind Aidshilfe- und Drogenberater ebenso wie Ex-User. In den ersten drei Monaten werden die Gruppenleiter alle Treffen begleiten. Dann ziehen sie sich zurück. Die Teilnehmer haben bis dahin schon Erfahrungen miteinander und wissen selbst, wie man die Treffen gestalten kann. Sie können dann ihre eigenen Themen in den Vordergrund stellen. Die Leiter kehren aber regelmäßig zurück, um die verschiedenen Trainings-Module durchzuführen.

Welches Ziel steht idealerweise am Ende dieser zwölf Monate?

Alle Teilnehmer sollen beim Einstieg ihre persönlichen Ziele ganz individuell bestimmen: Welche Veränderungen möchte ich erreichen, etwa im Umgang mit Drogen oder Sexualität? Das kann Abstinenz sein oder der Wunsch, Sexualität auch wieder ohne Drogen erleben zu können. Manche wollen vielleicht weniger oder anders konsumieren. Wir möchten hier nichts vorgeben. Zum Abschluss des Projektes werden wir dann evaluieren, inwieweit die Module und die Gruppen geholfen haben, an diesen individuellen Zielen zu arbeiten.

Was machen Sie mit den Ergebnissen des Pilotprojektes?

Wir werten das Projekt mit einem Online-Fragebogen und freiwilligen Gruppengesprächen aus. Vieles werden wir sicherlich im Laufe des Projektes anpassen, denn wir kennen ja zum Beispiel die Motivationen, Ziele und Interessen der Teilnehmer noch gar nicht. Letztlich geht es auch darum, Erkenntnisse zu gewinnen, wie Angebote beschaffen sein müssen. Denn eines ist sicher: Dieses Thema wird weiter unser Engagement und unsere Kreativität fordern.

Interview: Axel Schock, Holger Wicht

 

Infos für Fachleute

Infos für an der Teilnahme Interessierte

Kontakt: Urs Gamsavar, Tel. 030 69 00 87 205, urs.gamsavar@dah.aidshilfe.de

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