Interview

„Ein Leben als atmende Kunstinstallation“: Vaginal Davis über ihre erste Werkschau

Von Ahmed Awadalla
Foto einer Person mit roter Perrücke und nach vorn gestreckten Armen in einem grün-gold gestrichenen Raum
Vaginal Davis, My Pussy Is Still in Los Angeles (I Only Live in Berlin), 2012, performt im Rahmen von Pacific Standard Time: Art in L.A., 1945–1980, Southwest Law Library (ehemals Bullocks Wilshire Department Store), Los Angeles, Foto © Hector Martinez

Vaginal Davis, legendäre Queer-Ikone und Kulturagitatorin, lebt seit über zwei Jahrzehnten in Berlin. Seit ihrem Umzug aus Los Angeles ist sie zu einer Schlüsselfigur der Underground- und der institutionellen Kunstszene der Stadt geworden. Dabei ist sie für ihre genreübergreifenden Performances, ihre radikale Ästhetik und ihre prägnanten politischen Kommentare bekannt. Im Interview mit Ahmed Awadalla spricht Davis über ihre Erfahrungen in Berlin, ihren künstlerischen Werdegang und die Überschneidungen von Kunst, Identität und Aktivismus.

Davis‘ erste große Einzelausstellung in Deutschland – Fabelhaftes Produkt – ist derzeit vom 21. März bis 14. September 2025 im Berliner Gropius Bau zu sehen. Die Ausstellung gibt einen umfassenden Einblick in ihr facettenreiches Schaffen und zeigt großformatige Installationen, Gemälde, Videos und Filme, Zines, Texte, Musik und Performances. Außerdem werden ihre zahlreichen Gemeinschaftsprojekte vorgestellt, darunter die Installation Choose Mutation mit dem Berliner Kunstkollektiv CHEAP, in der Fotografien von Annette Frick gezeigt werden. Fabelhaftes Produkt lädt die Besucher in Davis‘ Universum ein. Dort, wo Punk auf Glamour trifft, sich queerer Aktivismus mit Schwarzer Gegenkultur überschneidet und Widerstand und Begehren nebeneinander existieren.

Interview mit Vaginal Davis

Awadalla: Vaginal Davis, danke, dass Sie sich Zeit für uns nehmen und uns einen Einblick in Ihr Leben gewähren. Ihre Werke haben es so vielen von uns – über Generationen und Grenzen hinweg – ermöglicht, Performance, Politik, Lust und Überleben in einem neuen Licht zu sehen.

Sie haben Berlin als eine „in seiner Trostlosigkeit rohe, poetische Schönheit“ beschrieben und seine mürrische Unverblümtheit als eine Art Erleichterung gegenüber dem Los Angeles empfunden, das Sie hinter sich gelassen haben. Über dieses Gefühl der Freiheit – Raum zum Atmen zu finden – haben schon viele Schwarze US-Künstler*innen gesprochen und dies insbesondere der unerbittlichen Gewalt ihres Staates gegenübergestellt. Der Ruf Berlins als queere Oase kann jedoch manchmal die strukturellen Ungleichheiten verschleiern, die vor allem für Migrant*innen und Menschen, die Rassismus erleben oder sich außerhalb der dominanten queeren Ästhetik bewegen, weiterhin gelten. Wie hat sich Ihre Beziehung zu dieser Stadt im Laufe der Jahre entwickelt? Haben Sie das Gefühl, dass sich Berlin selbst verändert hat?

Vaginal Davis: Meine Beziehung zu Berlin reicht weiter zurück als die zwanzig Jahre, die ich hier nun schon lebe. Das erste Mal war ich Anfang der 1980er‑Jahre in Deutschland und Berlin. Wie die meisten ignoranten Amerikaner*innen kannte ich mich mit europäischer Geografie nicht aus. Ich dachte, Berlin läge mitten in Deutschland. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, auf eine Karte zu schauen – bis ich mit dem Zug ankam und zu meinem Entsetzen feststellte, dass ganz Berlin im Osten lag. In dieser östlichsten aller Städte nahe der deutsch-polnischen Grenze wurde dazu noch eine falsche westliche Präsenz geschaffen.

Wir alle sollten uns bewusst machen, dass es weder in dieser noch in der nächsten Welt so etwas wie Zufluchtsorte oder sichere Räume gibt. Berlin ist sicherlich kein Wundermittel. Berlin war eine geteilte Stadt und entwickelte sein eigenes Tempo und Wesen, das im Gegensatz zu dem gefährlichen Kapitalismus stand, der andere Großstädte erfasste. Aber diese Schonfrist ist vorbei. Wir sehen uns jetzt einer neuen Form der Wirtschaft gegenüber, die noch keinen Namen hat, die aber den modernen Kapitalismus wie ein Luftschloss erscheinen lässt. Es geht um nebulöses Hinzurechnen und Abziehen von Nullen.

Wir alle sollten uns bewusst machen, dass es weder in dieser noch in der nächsten Welt so etwas wie Zufluchtsorte oder sichere Räume gibt. Berlin ist sicherlich kein Wundermittel.

Vaginal Davis

Die Eliten dieser Welt sind gar nicht so wohlhabend, wie sie uns glauben machen wollen. Sie können nicht mehr einfach in einen Banktresor gehen und ihre Geldscheine zählen. Geld ist in der Tat die Wurzel allen Übels, von Streitigkeiten und Aufruhr. Der Reichtum der herrschenden Klasse konzentriert sich an einem sehr dunklen Ort, einem teuflischen Nährboden, der nur auf Spekulationen und computergenerierten Modellen und Formeln der Gier beruht. Millionär, Milliardär, Billionär. Das ist alles Schwindel, Gaunerei, ein großer wogender Betrug, um den Status quo aufrechtzuerhalten. Es gibt keine Länder oder Nationen mehr, sondern nur noch eklige, langweilige, nichtssagende Konzerne und ihre hochtechnologischen industriellen Todeskomplexe.

Ted Soqui, Ron Athey und Vaginal Davis (Courtesy: die Künstlerin und Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin)

Awadalla: Ihre Arbeit war schon immer unverblümt radikal – und sich selbst als „Drag Terrorist“ zu bezeichnen, ist sowohl eine Provokation als auch eine Absichtserklärung. Sie selbst haben einmal gesagt, Sie seien “too gay for the punks and too punk for the gays” („zu homo für die Punks und zu punk für die Homos“). Dabei bewegten Sie sich durch Räume, in die Sie nicht wirklich passten – in denen Sie sich aber trotzdem ihren Platz erobert haben. Was bedeutet es, dass Ihre Werke nun im Gropius Bau gezeigt werden, einer Institution, die sich so sehr von der Underground-Szene unterscheidet, aus der Sie hervorgegangen sind? Entspricht diese Art der Anerkennung eher dem Geist Ihrer früheren Werke, oder schafft sie eine neue Dynamik in der Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit Ihrer Kunst?

Vaginal Davis: Als man das erste Mal in Los Angeles auf mich aufmerksam wurde, war ich noch ein Teenager. Ich habe mich nie als radikal oder als Provokateurin gesehen, ich habe mich noch nicht einmal als Künstlerin verstanden. Der Ausdruck Drag Terrorist wurde auch nicht von mir geprägt. Dieser Begriff stammt von dem verstorbenen Queer-Theoretiker der NYU, Dr. José Esteban Muñoz. In meinen Anfängen ging es lediglich darum, auf natürliche Weise kreativ zu sein, und das fühlte sich für mich zu dieser Zeit und an diesem Ort einfach richtig an.

Erst in den frühen 1990er‑Jahren machten mir Leute wie der Schriftsteller Dennis Cooper oder die Kuratorin Lia Gangitano klar, dass ich bereits ein umfassendes Werk geschaffen hatte. Meine sexuelle Frustration hat meine künstlerischen Bestrebungen immer wieder beflügelt. Die erste große Institution, die mich als Künstlerin sah, war das Institute of Contemporary Art in Boston unter der kuratorischen Leitung der damals sehr jungen Lia Gangitano und Laura Nix vom lesbischen Performance-Kollektiv Fishnet. Ihr Festival Dress Codes war auch für Catherine Opie, Lyle Ashton Harris und Carmelita Tropicana eine institutionelle Premiere. Ich war Institutionen gegenüber schon immer misstrauisch, weil ich das Gefühl habe, sie nicht ändern zu können, sie dafür aber einen selbst verändern – und ich meine nicht zum Besseren. Aus dem Grund habe ich in den 1980er- und 1990er‑Jahren nie ein Kunststipendium beantragt. Ich hielt das für sinnlos, da meine Werke ja kaum für ein Publikum außerhalb der Underground-Kreise zugänglich waren.

Ich habe mich nie als radikal oder als Provokateurin gesehen, ich habe mich noch nicht einmal als Künstlerin verstanden.

Vaginal Davis

Durch meine Indie-Art-/Punk-Band-Projekte hatte ich mir eine kleine Fangemeinde in Los Angeles, San Francisco, New York und Chicago aufgebaut. Als mein Zine Fertile LaToyah Jackson Mitte der 1980er‑Jahre als eines der ersten queeren Zines international von Tower Records & Books vertrieben wurde, kamen treue Fans in Städten wie Toronto, Montreal, London, Rom und Paris dazu. Aber ich hatte weder den Wunsch noch die Ambitionen, das weiter auszubauen. Ich war noch nie ein Karrieremensch. Ich war immer überrascht, wenn ich überhaupt Aufmerksamkeit bekam, da ich nicht aus dem Bildungsbürgertum oder einer reichen Familie stammte. Es war schon immer so, dass arme Menschen nie in institutionellen Einrichtungen akzeptiert werden.

Es war daher ein seltsames Gefühl, nach Boston eingeladen zu werden, einer von Rassismus geprägten Stadt. Aber zu Lia und Laura habe ich sofort eine Verbindung gespürt, als ob wir uns schon unser ganzes Leben lang kennen würden. Ein paar Jahre später verließ Lia Boston und war als Kuratorin für Thread Waxing Space in New York City tätig. Dort wurde ich so ein fester Bestandteil der Szene, dass die meisten Leute dachten, ich würde in New York leben.

Mitte der 1990er‑Jahre wurde ich mindestens fünf oder sechs Mal pro Jahr in die Stadt eingeladen. Als Thread Waxing Space geschlossen wurde, gründete Lia Participant Inc., einen gemeinnützigen Raum für Künstler*innen, der für mich und viele andere zu einem zweiten Zuhause wurde. 2012 hatte ich meine erste Einzelausstellung bei Participant Inc. Kurz darauf wurde ich von einer kommerziellen Galerie vertreten; und alles gipfelte schließlich in dieser, meiner ersten Solo-Wanderausstellung.

Es war also etwas, was ich mir sehr langsam und über Jahrzehnte hinweg selbst aufgebaut habe. Alle, die mich seit den 1980er‑Jahren kennen, wissen, dass ich immer ziemlich gleich vorgegangen bin und meine Arbeitsweise immer nur sehr geringfügig verändert habe.

Ann Summa, ¡Cholita! (links nach rechts: Melanie Sparks, Fertile La Toyah Jackson, Vaginal Davis, Webmaster, Alice Bag), c. 1990 Foto © Ann Summa, Courtesy: die Künstlerin

Awadalla: In Ihrem gesamten Wirken – und insbesondere in dieser Ausstellung – gehen Sie großzügig mit Referenzen um: von der Wahl Ihres Namens als Hommage an Angela Davis über die Inspiration durch die Black Panther Party bis hin zur Ehrung des CHEAP Kollektivs und der Widmung einer Installation dem Kino Arsenal und den Filmen, die Sie als Kind gesehen haben. Sie definieren sich über Beziehungen, nicht über Isolation. Warum ist Ihnen diese Art von Wahrnehmung und Bezogenheit wichtig? Was bedeutet es, ein künstlerisches Werk aufzubauen, das von Kollektivität und Interdependenz geprägt ist, insbesondere in einer Welt, die immer noch am Mythos des individuellen Genies festhält?

Vaginal Davis: Ich habe immer mit anderen zusammengearbeitet. Es ist einfach interessanter für mich, neue intersektionale Räume und gemeinsame Gruppen zu schaffen, anstatt isoliert zu arbeiten. Meine Mutter fand durch den 68er-Geist zu sich, als sie mit einer Gruppe lesbisch-feministischer Separatistinnen zusammenarbeitete. In diesem Umfeld bin ich aufgewachsen und es hat meine gesamte Lebensauffassung geprägt. Gruppen, die von Frauen geleitet wurden, waren schon immer eine Selbstverständlichkeit für mich. Ich bin in einem reinen Frauenhaushalt ohne männliche Präsenz aufgewachsen. Ich bin das jüngste Kind und habe vier ältere Schwestern. Ich habe in der Autostadt Los Angeles gelebt, aber nie fahren gelernt und auch nie ein Auto besessen. Öffentliche Verkehrsmittel und das Fahrrad waren schon immer mein einziges Fortbewegungsmittel, daher habe ich mich in Berlin sofort zu Hause gefühlt.

Ich habe immer mit anderen zusammengearbeitet. Es ist einfach interessanter für mich, neue intersektionale Räume und gemeinsame Gruppen zu schaffen, anstatt isoliert zu arbeiten.

Vaginal Davis

Die unerschrockene Leiterin des CHEAP Kollektivs in Berlin ist die Künstlerin Susanne Sachsse, unser Sprachrohr ist Marcuse Siegelstein. Ich bin seit der Gründung von CHEAP im Jahr 2001 festes Mitglied. Die Leiterin vom Arsenal, dem Institut für Film und Videokunst, ist Stefanie Schulte Strathaus, wo ich seit 2007 als Gastkuratorin bei den Filmveranstaltungen Rising Stars, Falling Stars und Contemporary Vinegar Syndrome tätig bin. In den letzten zwanzig Jahren hatte ich das Glück, unter so dynamischen Persönlichkeiten wie Hannah Hurtzig von der Mobilen Akademie Berlin und den Theoretikerinnen Nanna Heidenreich und Juliane Rebentisch zu arbeiten. Also nichts, was ich tue, entsteht in einem Vakuum.

Awadalla: Wir sind dankbar für das persönliche Archiv, das Sie in dieser Ausstellung zeigen, und den Einblick in das queere Leben in L. A., den wir dadurch gewinnen. Auffällig ist dabei, dass einige Ihrer frühen Performances tagsüber stattfanden – also nicht die üblichen Nachtclub-Szenen, die wir eigentlich mit dem queeren Leben in Verbindung bringen. Es erscheint unaufdringlich und doch radikal, im Licht des Tages Raum für Kontakte, Glamour und Unfug zu schaffen. War das Absicht? Und was denken Sie, wie prägt es unsere Vorstellung von queerer Gemeinschaft und Sichtbarkeit, wenn etwas Derartiges passiert?

Vaginal Davis: Ich habe die Tagesveranstaltungen mit Performance, Musik und Kunst nicht ins Leben gerufen. Das wurde in der Geschichte von Los Angeles von der Jahrhundertwende bis zur Punk- und Post-Punk-Ära in den Underground-Kreisen geprägt. Ich bin drum herum geschlichen und dann auf den fahrenden Zug aufgesprungen. Mein großer Einfluss waren die Theoretical Happenings, die erstmals in den frühen 1980er Jahren am Sonntagnachmittag in The One Way, einer Bar der Lederszene, im historisch linksradikalen Silverlake District in East Hollywood stattfanden. Das queere Kunstkollektiv von Carol Cetrone, Jim Van Tyne, Debbie Patino und Jack Marquette begründete diese Veranstaltungsreihe, die über ein Jahrzehnt lang immer wieder stattfand.

Ich liebe es zu sehen, wie Menschen am helllichten Tag wirken. Außerdem könnte man sogar mit einem Mord davonkommen, weil die Sittenpolizei des Los Angeles Police Departments Grenzüberschreitungen, die tagsüber stattfinden, nicht untersucht. Damit kann man autoritärer Kontrolle und Zensur entkommen.

Los Angeles ist die offizielle Partnerstadt Berlins, aber dort man kann nicht die ganze Nacht durchmachen, denn alles schließt um 2 Uhr morgens. Mein Punkrock-Club und Performance-Space Sucker fand in der ältesten queeren Bar in Los Angeles, The Garage, fünf Jahre lang, von 1994 bis 1999, jeden Sonntag von 15 bis 23 Uhr statt. Im ersten Jahr des Clubs hatte ich noch einen normalen Job bei der Stellenvermittlung und Karriereplanung an der UCLA und musste morgens einfach ausgeschlafen sein.

Vaginal Davis, The Wicked Pavilion: The Fantasia Library, Installationsansicht, Vaginal Davis: Fabelhaftes Produkt, Gropius Bau, 2025 © Gropius Bau, Foto: Frank Sperling

Awadalla: Man spürt in Ihren Werken, dass das Leben selbst Ihr Medium ist. Das Archiv ist nicht nur Aufbewahrungsort, sondern auch ein Ort für Performances, Hinweise oder absichtlich Unterdrücktes. Die Idee der Lebenskünstlerin wirkt besonders lebendig in Ihren Apartment-Ausstellungen, in den gestapelten Büchern, die nie geschrieben wurden, in der Idee, „eine Szene zu machen“. Wie fühlt es sich an, so zu leben? Ist es befreiend? Ist es anstrengend? Was steht auf dem Spiel, wenn Sie Ihr Leben zur Leinwand machen?

Vaginal Davis: Ein Leben als lebendige, atmende Kunstinstallation ist sowohl befreiend als auch total anstrengend. Es ist schwer abzuschalten und das richtige Gleichgewicht zu finden. Ich neige nämlich dazu, immer für alles und alle mein Bestes zu geben, bis ich mich selbst verliere. Ich bin ein introvertierter Mensch und habe mich in eine extrovertierte Persona gezwungen.

Freund*innen und Bekannte scherzen schon, dass sie befürchteten, ich würde ihr Leben künstlerisch kuratieren, sodass sie mein Atelier mit Collagen von Bildern und Texten ihrer Person verlassen. Danke, Göttin Hekate, für die Therapie und für die lesbische Verarbeitung, die ständige und gründliche Reflexion erfordert.

Ein Leben als lebendige, atmende Kunstinstallation ist sowohl befreiend als auch total anstrengend. Es ist schwer abzuschalten und das richtige Gleichgewicht zu finden. Ich neige nämlich dazu, immer für alles und alle mein Bestes zu geben, bis ich mich selbst verliere.

Vaginal Davis

Awadalla: Ihre Werke zeigen auch immer den Schatten – und das Schillern – von HIV und Aids. Von Ihren Zines und Performances in den 1980er‑Jahren bis hin zum letzten Raum dieser Ausstellung ist das Virus immer präsent: hartnäckig und wandelbar. Mainstream-Gespräche über HIV und Aids bewegen sich oft nur auf der Ebene von Prävention, Sicherheit und Verantwortung – Rahmenbedingungen, die zwar notwendig, aber auch zutiefst normativ sind. Welche anderen Geschichten, moralischen Vorstellungen oder Formen der Intimität tauchen auf, wenn wir über ein Leben mit der Krankheit sprechen, anstatt sie auslöschen zu wollen? Welche Lehren aus der Vergangenheit bleiben ungehört?

Vaginal Davis: Ich bin 64 Jahre alt und gehöre damit zu der früheren Generation, die ihre Jugend unter dem Schreckgespenst HIV und Aids verbracht hat. Ich habe so viele Freund*innen und Kolleg*innen durch dieses Virus verloren. Für mich bestand nie das Risiko, mich mit HIV anzustecken, da ich von den meisten Männern, mit denen ich Kontakt hatte, als sexuell abstoßend wahrgenommen wurde. Ich besaß wirklich nicht den Sexappeal, den man braucht, um Sexpartner und Liebhaber anzuziehen, also bin ich meinem Schicksal dadurch wahrscheinlich entgangen.

Außerdem war ich sehr risikoscheu, da ich aus einem religiös-fundamentalistischen Elternhaus stamme. Dadurch hatte ich viele Schäden, die mich sehr passiv agieren ließen, sodass ich nur sehr begrenzt mit Sex und Drogen experimentierte. Ich bedaure es definitiv, dass ich im Leben nicht mehr Risiken eingegangen bin, denn das hat mich ein wenig verkümmern lassen.

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ich eine chronische Autoimmunerkrankung habe, nämlich Altersdiabetes, die mich viel stärker belastet, als wenn ich mich mit HIV infiziert hätte. Meine Freund*innen und Kolleg*innen mit HIV nehmen weniger Medikamente. Selbst wenn man Diabetes perfekt im Griff hat, gehen fünfzehn Jahre von der Lebenserwartung verloren.

Annette Frick, Vaginal (Juanita Castro), 2001/2024 © Annette Frick, Courtesy: die Künstlerin und ChertLüdde, Berlin und VG Bildkunst, Berlin

Zur Ausstellung

Vaginal Davis: Fabelhaftes Produkt, 21. März bis 14. September 2025, Gropius Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin.

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