Recht

Verurteilt nach § 175, entschädigt nach über 50 Jahren

Von Jörn Valldorf
Regenbogenflagge
© DAH | Bild: Renata Chueire

Klaus S., Jahrgang 1947, wurde in den 1960er-Jahren wegen „Unzucht zwischen Männern“ verurteilt. Fünf Jahrzehnte später wird er entschädigt. Wichtiger ist ihm aber die Anerkennung des Staates.

Menschen, die nach § 175 (BRD) oder § 151 (DDR) verurteilt wurden, haben einen gesetzlichen Anspruch auf Entschädigung. Dafür reicht – im Prinzip – ein formloser Antrag.

Doch die Frist, um eine solche Entschädigung zu beantragen, endet bald. Nach derzeitigem Stand können nur noch bis zum 21. Juli 2022 Anträge beim Bundesamt für Justiz eingereicht werden. Wie das funktioniert, hat Klaus S. erfahren – wir haben mit ihm über seine Geschichte gesprochen.

Klappensex, Verhaftung und Anklage

Ein Dezembernachmittag in Ludwigshafen. Klaus S. ist auf der Suche nach Sex. Er betritt eine stadtbekannte „Klappe“ am Ludwigplatz.

Der Geruch von Urin steigt ihm in die Nase, als er den kleinen Raum betritt. Ihm fällt ein Mann auf. Sieht nett aus, denkt er sich. Die beiden Männer beschließen, den kalten Ort gegen die etwas komfortableren Toiletten in einem naheliegenden Kaufhaus einzutauschen. „Das war unser Fehler“, sagt Klaus heute. „Beim Betreten müssen wir beobachtet worden sein, denn kurze Zeit später stand die Polizei vor der Kabine und hat uns rausgeholt“.

Es war das Jahr 1964 und der Paragraf 175, der Homosexualität unter Strafe stellte, war noch in Kraft. „Wir wurden mit der „Grünen Minna“ aufs Polizeirevier gefahren. Und da ich noch keine 21 war (das damalige Alter für Volljährigkeit), wurde ich anschließend nach Hause gebracht, um die Adresse zu kontrollieren“, erzählt der 1947 in Ludwigshafen geborene heutige Mannheimer.

Sie haben mir eingeschärft, mit niemandem darüber zu sprechen.

Klaus S., 1965 wegen „Unzucht mit Männern“ nach dem damaligen §175 verurteilt

Auf Verständnis konnte Klaus zu Hause allerdings nicht hoffen, ganz im Gegenteil: der Vater noch im Gedankengut der Nationalsozialist*innen verhaftet, die Mutter eine sehr religiöse Frau. Die Sorge galt den Nachbar*innen, den Geschwistern, dem Gerede in der Gemeinde. „Sie haben mir eingeschärft, mit niemandem darüber zu sprechen“, erzählt Klaus.

Die Hoffnung, dass die Anklage aufgrund seines Alters fallengelassen wird, erfüllt sich nicht. „Unzucht mit Männern“ lautet der Tatvorwurf. Der Prozess wird im Frühjahr 1965 eröffnet. „Ich hatte noch Glück“, berichtet Klaus. „Eine junge Jugendpflegerin hat sich wahnsinnig stark für mich gemacht. Das werde ich ihr nie vergessen.“

Zwei Jahre lang einmal die Woche zum Psychologen

Seine Strafe: eine psychologische Behandlung zur „Umerziehung“. Heute würde man es eine (seit 2020 in Deutschland verbotene) Konversionstherapie nennen. Wäre Klaus zu einer Haftstrafe verurteilt worden, wäre auch seine Lehrstelle als technischer Zeichner in Gefahr gewesen. „So ging es noch ganz glimpflich ab“, sagt Klaus.

„Von nun an musste ich zwei Jahre einmal die Woche zu einem Psychologen“, erzählt er. Die Gespräche hat er verdrängt. Er erinnert sich nur daran, einen Baum gezeichnet zu haben – und an die berühmten Klecksbilder, in Fachkreisen Rorschachtest genannt. „Ich habe aber nur Schwänze gesehen“, lacht Klaus „und habe das dem Psychologen auch gesagt. Der war darüber nicht glücklich.“

Klaus unterdrückt seine Gefühle und sein Begehren. Er hat Angst, wieder erwischt zu werden. Diesmal, das weiß er, würde eine Verurteilung Gefängnis bedeuten.

Ich habe nur Schwänze gesehen.

Klaus S. über seine erzwungene „psychologische Behandlung“

Er schließt sich einer Jugendgruppe an, lernt ein Mädchen kennen. „Ich habe sie wirklich gerne gehabt. Ich war aber froh, dass sie mir keine sexuellen Avancen machte.“ Klaus will sie heiraten, trotz allem. Bevor er sie mit zu seinem Psychologen nimmt, gesteht er ihr alles. „Sie hat sehr verständnisvoll reagiert.“

Der Psychologe sieht sich bestätigt, schwurbelt etwas von einer Phase, die alle Jungen durchmachen, und entlässt Klaus als „geheilt“. Vor der Hochzeit vernichtet seine Mutter alle Unterlagen, die ihm irgendwann zum Verhängnis werden könnten.

Unterdrücktes Begehren und brüchiges Glück

Klaus lebt mit seiner Frau in Ludwigshafen, eine Tochter wird geboren. Doch das Glück ist brüchig. Die Sehnsucht nach Sex mit Männern bleibt. Er führt ein Doppelleben, wie so viele in jener Zeit. Die Liebe zu einem Mann, den er kennenlernt, gibt ihm Kraft. Es folgt die Trennung von seiner Frau. Eine schmutzige Scheidung und ein zehn Jahre andauernder Kampf, seine Tochter sehen zu dürfen, schließen sich an.

Klaus lernt seinen heutigen Mann kennen, lebt mit ihm zusammen. „Wir lebten unauffällig, aber nicht versteckt“.

Eine Ausstellung verändert alles

Im Juni 1994 wurde der § 175 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Mitbekommen hat Klaus das wohl, aber die Nachricht hatte keinerlei Bedeutung für ihn.

Doch durch eine Ausstellung über schwules Leben in Ludwigshafen, die 2015 im dortigen Stadtmuseum stattfindet, bekommt er Kontakt zur Bundestiftung Magnus Hirschfeld in Berlin. Dort ermutigt man ihn, einen Antrag auf Entschädigung beim Bundesamt für Justiz in Bonn zu stellen.

„Den Antrag konnte ich ganz formlos stellen“, erinnert er sich. Aber jetzt rächt sich die Sorgfalt seiner Mutter. Sein Antrag wird von der zuständigen Staatsanwaltschaft abgelehnt. Die Begründung: Es fehlen Dokumente, die seine Verurteilung bestätigen. Auch ein zweiter Antrag scheitert.

Bürokratische Hürden mit BISS gemeistert

Klaus will schon aufgeben, als er von der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren erfährt, kurz BISS. Hier wird er kompetent beraten und unterstützt.

BISS spricht mit der zuständigen Staatsanwaltschaft, denn zu jeder Verurteilung muss es noch Abschriften geben, die auf Antrag den Betroffenen zur Verfügung gestellt werden müssen. Doch sie gibt es nach 50 Jahren angeblich nicht mehr, sodass von ihm eine Eidesstattliche Erklärung verlangt wird.

Am Ende aber hat er alle relevanten Unterlagen zusammen. „Ich war sehr skeptisch, ob das klappt“, erinnert er sich „aber aufgeben wollte ich nicht.“

Wichtig war für mich die Anerkennung seitens des deutschen Staates, dass mir Unrecht getan wurde.

Klaus S. über die Entschädigung für seine Verurteilung nach § 175

Zum Glück, denn schließlich wird sein Antrag bewilligt. Ihm werden 3.000 Euro zugesprochen für die Verhaftung und Verurteilung, später noch einmal 1.500 Euro für die Zwangstherapie. „Ich habe mich natürlich über das Geld gefreut“, sagt Klaus. „Aber wichtiger war für mich die Anerkennung seitens des deutschen Staates, dass mir hier Unrecht getan wurde.

Für seine Rechte kämpfen

Mit dem Geld hat er zusammen mit seinem Mann eine Woche Urlaub auf Sylt gemacht. „So richtig schick, mit allem Komfort“, erzählt er. „Und wir haben uns noch ein neues Service gekauft, wir haben ja noch nicht alle Tassen im Schrank.“

Klaus konnte das Erlebte hinter sich lassen. Auch wenn es manchmal mühsam war, bereut hat er es nicht, für seine Rechte gekämpft zu haben.

Heute lebt er in Mannheim und ist zum Aktivisten geworden. Er engagiert sich beim Runden Tisch sexuelle und geschlechtliche Vielfalt der Stadt Mannheim und leitet eine Gruppe für schwule Senioren.

Große Wünsche für die Zukunft hat er nicht. Er würde sich freuen, wenn noch möglichst viele Männer einen Entschädigungsantrag stellen. „Und ich würde mir wünschen, dass die Menschen alle Menschen so akzeptieren, wie sie sind, egal, wen sie lieben“.

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