30 JAHRE HIV

Von der Angst zum Erfolg

Von Holger Wicht
Die Situation in Deutschland nach drei Jahrzehnten: Relativ niedrige Infektionszahlen, gut wirksame Prävention mit ein paar weißen Flecken, keine „neue Sorglosigkeit“

HIV mit roter Schleife
(Foto: istockphoto)

Am Anfang hatte niemand eine Ahnung, aber alle große Befürchtungen. 10.000 Infizierte in Deutschland bis 1990 schätzte eine Gruppe Virologen im Jahr 1984. Spiegel-Redakteur Hans Halter ging 1989 im Vorwort zu dem Buch „Was tun gegen AIDS?“ von Peter Gauweiler von einer noch viel höheren Zahl aus: „Nach konservativer Schätzung sind mindestens 100.000 Menschen angesteckt und werden sterben, wenn nicht bald ein Wunder geschieht.“

30 Jahre später sind wir sehr viel schlauer. 91.000 Menschen haben sich nach Angaben des Robert-Koch-Instituts mit HIV infiziert, 29.000 sind gestorben. Rund 70.000 Menschen leben heute in Deutschland mit dem Virus. Die meisten von ihnen werden nicht daran sterben. Die antiretrovirale Kombinationstherapie ermöglicht mittlerweile ein langes Leben mit HIV. Aids ist, sofern die HIV-Infektion rechtzeitig festgestellt und behandelt wird, vermeidbar.

Die große Aufregung hat sich gelegt

Die große Aufregung hat sich gelegt, seit es wirkungsvolle Medikamente gegen die Vermehrung von HIV im Körper gibt. Zudem ist die Epidemie weitgehend unter Kontrolle. Nachdem die Infektionszahlen zwischen 2001 und 2007 noch einmal deutlich angestiegen sind, geht das Robert-Koch-Institut mittlerweile von konstant 3.000 Neuinfektionen pro Jahr aus. Fast alle anderen europäischen Länder haben höhere Zahlen.

Der Anstieg der Neuinfektionen in Deutschland zwischen 2001 und 2007 fand allerdings in der Öffentlichkeit so viel Beachtung, dass bis heute das Gerücht kursiert, die Zahlen würden kontinuierlich steigen. Als Grund wird meistens eine „neue“ oder „zunehmende Sorglosigkeit“ angeführt. Die Vermutung: Weil HIV angesichts der Therapien nicht mehr so bedrohlich ist, schützen sich viele Menschen nicht mehr.

Therapien und Prävention wirken

Diese Annahme ist glücklicherweise falsch. Wie Studien immer wieder belegen, ist das Schutzverhalten weitgehend stabil – sowohl in der allgemeinen Bevölkerung als auch bei den schwulen Männern. Nicht nur die Therapien, sondern auch die Prävention in Deutschland wirkt. Das liegt vor allem daran, dass sie ohne moralischen Zeigefinger arbeitet, die besonders stark von HIV betroffenen Gruppen wie Schwule und Drogenkonsumenten einbezieht und ihre Bedürfnisse respektiert.

Der Grund für den Anstieg der Neuinfektionen war also nicht „Sorglosigkeit“. Die Ursachen sind komplex, eine wichtige Rolle spielte ein Anstieg der Syphilis-Infektionen (andere sexuell übertragbare Infektionen machen die HIV-Übertragung wahrscheinlicher), eine Zunahme von Analverkehr insgesamt (wobei auch Analverkehr mit Kondom ein Restrisiko birgt) sowie ein späterer Therapiebeginn bei vielen Infizieren (wodurch länger eine hohe Konzentration von HIV in ihren Körperflüssigkeiten bestand, so dass die Übertragungswahrscheinlichkeit stieg).

Das Schutzverhalten ist weitgehend stabil, hat sich aber individualisiert

Gleichwohl gab es Veränderungen im Schutzverhalten – der Umgang mit Risiko und der Kondomgebrauch haben sich individualisiert. Die Deutsche AIDS-Hilfe reagiert darauf mit ihrer Kampagne ICH WEISS WAS ICH TU. (Mehr Informationen zum Mythos von der Sorglosigkeit und Veränderungen im Schutzverhalten gibt unser Schwulenreferent Dr. Dirk Sander auf der Debattenseite The European.)

Eine Erfolgsgeschichte ist auch die Prävention für Menschen, die sich Drogen injizieren. Gab es in den ersten Jahren noch mehrere Hundert Neudiagnosen pro Jahr in dieser Gruppe, lag die Zahl 2010 erstmals unter 100 (93 Fälle), bei den Neudiagnosen insgesamt machten die Drogenkonsumenten nur noch 3,7 Prozent aus (Mehr zum aktuellen Infektionsgeschehen in Deutschland siehe „Neudiagnosen weiterhin fast konstant“).

Weiße Flecke bei der Prävention für Drogenkonsumenten

Wie kommt das? Ganz einfach: Wenn man Drogenkonsumenten über Risiken aufklärt, ihnen sterile Spritzen sowie Zubehör zugänglich macht, ergreifen die meisten von ihnen diese Möglichkeiten. Vor diesem Hintergrund ist es ein Skandal, dass es in zahlreichen deutschen Bundesländern immer noch keine Drogenkonsumräume gibt, die nachweislich Leben retten. In Bayern führt eine besonders repressive Drogenpolitik zu besonders vielen Todesfällen und zu HIV-Infektionen (siehe DAH-Pressemitteilung vom 25.3.2011).

Auch Menschen in Haft haben in Deutschland fast ausnahmslos keinen Zugang zu sterilen Spritzutensilien, auch die Möglichkeit zur Substitution besteht hinter Gittern oft nicht (zu diesem Thema erscheint an dieser Stelle demnächst ein ausführlicher Beitrag. Journalisten können ihn vorab bei der DAH-Pressestelle anfordern, E-Mail an holger.wicht@dah.aidshilfe.de).

Trotz allem noch immer AIDS-Erkrankungen und Todesfälle

Trotz aller Fortschritte gibt es nach 30 Jahren HIV noch immer AIDS-Neuerkrankungen (im Jahr 2010 waren es 760) und Todesfälle, die im Zusammenhang mit HIV stehen (2010: rund 550). Betroffen waren vor allem Menschen, die schon lange infiziert waren oder deren Infektion erst sehr spät festgestellt wurde.

Die Deutsche AIDS-Hilfe empfiehlt Menschen, die ein Infektionsrisiko hatten, sich möglichst bald beraten und auf HIV testen zu lassen, um in vollem Umfang von der Therapie profitieren zu können. Mehr Informationen über die Therapien und den Test gibt es auf aidshilfe.de

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