„Der Tod hat keine Macht über das Glück“
Mario Wirz war einer der ersten: 1985 war sein HIV-Test positiv, 1992 veröffentlichte er das Aufsehen erregende Buch „Es ist spät, ich kann nicht atmen“. Der Aids-Tod schien nah, doch Mario Wirz hat allen Prognosen und mehreren Krebsdiagnosen zum Trotz überlebt. Jetzt geht sein Leben wirklich zu Ende. Mit dem langjährigen Freund Christoph Klimke hat er sein letztes Prosa-Werk geschrieben: „Unwiderruflich glücklich“. Holger Wicht traf den Dichter persönlich in dessen Wohnung in Berlin-Steglitz. Das Interview entstand danach auf Wunsch von Mario Wirz per E-Mail: Aufgrund der Schmerzmittel und des Schmerzes selbst ist seine Konzentrationsfähigkeit schwankend.
Lieber Mario, du hast Lungen- und Knochenkrebs. Darf ich dich fragen, wie es dir geht?
Jeder Tag gibt eine andere Antwort. Ich weiß, dass ich in diesem Jahr sterben werde, aber diese Gewissheit bleibt seltsam abstrakt und unglaubwürdig. In mir ist eine tiefe Traurigkeit, für die ich keine tauglichen Worte finde. Mehr noch beschwert mich die Verzweiflung meines Gefährten André. Ebenso wahr sind aber die Stunden, in denen uns mein Tod wie ein Freund begegnet, mit dem wir offen und radikal ehrlich über alles sprechen können.
„Mitten im Schmerz habe ich mich beim Glücklichsein ertappt“
Wie passt zu dieser Situation ein Buch mit dem Titel „Unwiderruflich glücklich“?
Mitten im Schmerz habe ich mich oft beim Glücklichsein ertappt, einem bedingungslosem Lebendigsein, bereit, alle Zumutungen zu bejahen. Mein Tod hat keine Macht über die Momente unwiderruflichen Glücks, das sich durch nichts einschüchtern lässt. Solange ich atme, will ich immer wieder versuchen, diese Dimension mit André zu erreichen.
„Es ist spät …“ handelte von Depression und Verzweiflung. Wie hast den Schritt zum Glück geschafft?
Mein Glück hat viele Namen und Geschichten. Liebe und Freundschaft sind machtvolle Geschenke. Wer mich für einen Pechvogel hält, dem kann ich fröhlich widersprechen. Ich bin eigentlich ein Glückskind. Ich werde eine helle Dankbarkeit mitnehmen in den großen Schlaf.
Du hast dich fast drei Jahrzehnte mit deiner Sterblichkeit befasst. Was hast du dabei gelernt?
Ich habe gelernt, das Leben zu lieben, ohne Bedingungen zu stellen oder Wünsche ins Universum zu seufzen, die das Leben und das Glück überfordern. Ich habe gelernt, mich mit meinen Macken zu bejahen, mir selbst und anderen mit Nachsicht zu begegnen. Ich habe gelernt, den großen Wichtigkeits-Zirkus des Lebens mit seinen schrägen Eitelkeiten und seinem Größenwahn nicht mehr ernst zu nehmen.
„Ich fände es undankbar, jetzt das Schicksal zu beschimpfen“
Du wirkst gelassen. Hast du keine Angst mehr?
An manchen Tagen lässt mich die Angst in Ruhe, dann wieder stürzt sie sich auf mich wie eine Geistesgestörte und würgt mich, bis mir die Luft ausgeht. Es fällt mir schwer, mein Leben loszulassen, aber vor allem will ich dankbar sein, dass mir so lange immer wieder Zeit gewährt wurde. Ich fände es undankbar, jetzt das Schicksal zu beschimpfen.
Wie kommt man dahin, den eigenen Tod zu akzeptieren?
Man könnte meinen, ich wäre in all den Jahren ein Profi geworden, aber ich bin immer noch ein blutiger Anfänger und könnte keinen Ratgeber zu diesem Thema schreiben. Ich schwanke zwischen Widerstand und Weisheit, Gelassenheit und Verzweiflung. Was ich weiß: Der Tod wird nur grantig, wenn wir ihn verleugnen und verraten. Er ist ein Freund, wenn wir es wagen, ihn zu denken und zuzulassen. Ohne den Tod wäre das Geschenk des Lebens nicht so kostbar und rätselhaft. Leben und Tod sind siamesische Zwillinge, nichts wäre das eine ohne den anderen.
Das klingt jetzt doch ein bisschen nach Ratgeber: Der Tod gehört zum Leben. Wir müssen loslassen lernen.
Natürlich wäre es hilfreich, wenn wir uns mit unserer Endlichkeit versöhnen könnten. Aber Widerstand gegen den Tod beweist zugleich kraftvoll unser Lebendigsein, unsere Liebe zum Leben. Vielleicht wäre es eine angemessene Antwort, über all das einfach zu lachen.
Die Wege zum Glück, die du beschreibst, reichen von der Zweisamkeit über Verbundenheit mit dem Hier und Jetzt bis zur Abwesenheit von Durchfall. Gibt es so etwas wie eine Weisheit dahinter?
Jeder Tag ist ein Geschenk, das wir mit Liebe und Freude und Dankbarkeit auspacken sollen, voller Zärtlichkeit und Respekt für jede Stunde, die uns ermutigt, zu lieben und uns lieben zu lassen.
„Mein Glaubensgebäude ist bunt und luftig, mit offenen Türen und Fenstern“
Haderst du manchmal damit, dass man heute mit HIV alt werden kann – du aber gehen musst?
Mein Schicksal hat mir so viel Glück geschenkt, dass ich auch allen anderen Menschen Glück wünschen kann. Auch Freunde von mir haben sich erst vor kurzem infiziert. Ich bin froh, dass sie nicht wie ich durch eine Angst-Hölle gehen müssen, sondern nur zum Arzt, um ihre Blutwerte kontrollieren zu lassen.
Die Gretchenfrage: Glaubst du, dass es nach dem Tod weitergeht?
Mein Glaubensgebäude ist bunt und luftig, mit offenen Türen und Fenstern in alle Himmelsrichtungen. Ich spiele mit Möglichkeiten und Phantasien. Leben und Tod haben mich gelehrt, dass nichts verschwindet. Alles verändert und verwandelt sich unaufhörlich, wechselt Form und Gestalt, alles ist immer in Bewegung. Wenn wir sterben, kehren wir in den ewigen Kreislauf der Schöpfung zurück. An manchen Tagen glaube ich die buddhistischen Geschichten der Reinkarnation. Von Erleuchtung bin ich noch Lichtjahre entfernt, also werde ich noch oft eine neue Gestalt annehmen. So oder so oder anders: Auch der Tod ist eine Reise.
Wie möchtest du bestattet werden?
Ich habe mir einen Platz in einem Friedwald auf Rügen ausgesucht, unter einer schief wachsenden Linde. Vielleicht steigt etwas von mir in ein Lindenblatt, das der Wind einem verliebten Spaziergänger in die Hände weht. Ein schönes Bild! Vielleicht sinke ich auch nur in einen traumlosen Schlaf, bis einige Jahrzehnte später mein Gefährte und ich zweisam in die Zweige wachsen und herzförmige Blätter auf den Weg schicken.
„Unwiderruflich glücklich“ endet mit der Vision eines glücklichen 70. Geburtstages in einem Haus am Meer. Gibt es ein Happy End dann doch nur in der Fiktion?
Auch Träume sind Tatsachen, mit denen wir leben. Wir sind, was wir denken und fühlen und träumen. Die Fiktionen unserer Tage helfen uns, unerträgliche Fakten mit Mut und Geduld und Hoffnung zu ertragen. Wir können das Glück immer und überall finden und erfinden.
„Auch Träume sind Tatsachen, mit denen wir leben“
Die Texte von dir und Christoph Klimke sind nur locker miteinander verbunden. Warum hast du dich für diese Form entschieden, statt deine Lebensgeschichte mit HIV allein zu Ende zu erzählen?
Ich allein habe nicht mehr die Kraft, die man für ein größeres Prosa-Projekt braucht. Ich glaube, mein Freund wollte mich mit dieser Schreib-Offensive auch aus der Kummer -„Wirznis“ vertreiben, und ich bin ihm sehr dankbar dafür. Schreibend haben wir uns Flügel wachsen lassen. Bei näherer Betrachtung outen die Texte eine erstaunliche Nähe. Das Buch ist ein Duett – in den Farben und Facetten unserer unterschiedlichen Temperamente.
Was wünscht du dir für die kommenden Monate?
Weniger Schmerzen durch den Tumor im Rücken. Weniger Schläfrigkeit durch das Morphium. Noch viele Fahrten mit André nach Rügen, unseren Herzort. Pausen im Elend der Krankheit, damit wir Feste der Zweisamkeit feiern können. Furchtlosigkeit. Kraft für André, damit er aushalten kann, was nicht auszuhalten ist. Und dass Amor nach meinem Tod ihn so schnell wie möglich neu zum Leben verführt.
Lieber Mario, ich danke dir von Herzen.
Christoph Klimke, Mario Wirz: „Unwiderruflich glücklich“, Querverlag, 175 Seiten, 14,90 Euro
4. April, 20 Uhr, Roter Salon, Volksbühne, Berlin: Buchpremiere mit Christoph Klimke, Mario Wirz, Jochen Kowalski, Andreas Seifert
19. April, 20 Uhr, Literaturforum im Brecht-Haus, Berlin: “ Unüberhörbar die Botschaft“, Lyrik-Lesung mit Mario Wirz, Premiere des „Poesiealbum 306“, www.poesiealbum-online.de
26. April, 20 Uhr 30, Eisenherz-Buchladen, Berlin: Lesung mit Christoph Klimke und Mario Wirz
Diesen Beitrag teilen