Quality Action: Das Richtige richtig machen!
Herr Lemmen, seit März läuft eine „Quality Action“ zur Verbesserung der HIV-Prävention in Europa. Arbeiten die Aidsprojekte bisher zu schlecht?
Nein, überhaupt nicht. Das Problem besteht eher darin, dass sie nicht die nötigen Bedingungen vorfinden, um ihre Arbeit gut machen zu können. In dieser EU-Offensive soll es auch nicht nur um die Qualität der Aidsprojekte gehen, sondern ebenso die Verantwortung auf Regierungsseite ins Visier genommen werden.
Wo stört die Politik bei der HIV-Prävention?
Nur ein Beispiel: In Deutschland ist es inzwischen üblich, dass Drogengebraucher in Drogenkonsumräumen beraten werden und dort sterile Spritzen bekommen. Das verhindert viele HIV-Infektionen. Trotzdem gibt es solche Angebote nur in wenigen europäischen Ländern. Anderswo ist HIV-Prävention bei Drogengebrauchern überhaupt nicht möglich – aufgrund politischer Verbote. Unser Ziel ist es, auch die staatlichen Einrichtungen zu überprüfen: Schaffen sie die notwendigen Rahmenbedingungen, um sinnvoll HIV-Prävention betreiben zu können?
Und was können die Aidshilfen selbst besser machen?
Ein Leitsatz der Qualitätssicherung lautet: Man muss das Richtige auch richtig machen. Dazu ein Beispiel aus einem von mir geleiteten Workshop: Ein Kollege hatte dort eine sorgfältige wissenschaftliche Studie zur HIV-Prävention bei Eltern von Heranwachsenden vorgestellt. Ein brillanter Vortrag! Aber aus Gründen der Qualitätssicherung fragte ich nach: „Wie groß ist denn der Anteil der Heranwachsenden an der Gesamtzahl der HIV-Infektionen in Ihrem Land?“ Das ist eine wichtige Frage: Wendet sich die HIV-Prävention an diejenigen Bevölkerungsgruppen, die tatsächlich ein erhöhtes HIV-Risiko haben – oder nur an solche, die vermeintlich ein hohes Risiko haben? Das war hier der Fall. Die Studie war hervorragend, aber die Zielgruppe war die Falsche. Um die richtige Zielgruppe zu wählen, muss man erst einmal wissen, wer in einem Land von HIV betroffen ist.
„Gut gemeint ist nicht immer gut genug“
Ist das nicht in den meisten Ländern ähnlich?
Nein, da gibt es große Unterschiede. In der Ukraine und Russland sind vor allem Drogengebraucher von HIV betroffen. In Deutschland dagegen sind mehr als zwei Drittel der HIV-Übertragungen auf Sex zwischen Männern zurückzuführen. Man muss schauen: Wer ist in welchem Land am meisten von HIV betroffen? Und wie kann man diese Menschen am besten mit präventiven Maßnahmen erreichen?
Wenn man die richtige Zielgruppe gefunden hat, kann also immer noch was schiefgehen.
Durchaus. Ein zweiter Leitsatz der Qualitätssicherung lautet: Gut gemeint ist nicht immer gut genug. Das heißt, dass man überprüfen muss, ob die Dinge auch so funktionieren, wie man sich das gedacht hat.
Ein klassisches Beispiel ist eine holländische HIV-Präventionskampagne aus den 1980er Jahren. Da wurde versucht, schwulen Männern den Analverkehr auszureden. Das Motto war: „Der sicherste Schutz vor HIV ist der Verzicht auf Analverkehr.“ Aber es war völlig unrealistisch, Schwule vom Analverkehr abhalten zu wollen. Das Thema ist viel zu emotional besetzt. Die Kampagne war gut gemeint, aber voll daneben – weil sie nichts mit dem Leben der Zielgruppe zu tun hatte. Deshalb muss immer überprüft werden, ob die Präventionsideen wirklich so gut sind, wie sie in der Planung wirken.
Wie kann man das rausfinden?
Da hilft nur Reden. Man muss versuchen, mit den Zielgruppen ins Gespräch zu kommen und sie in die Planung der Interventionen einzubeziehen. Wir bei der DAH nennen das „Partizipative Qualitätssicherung“. Dieses Modell haben wir mit dem Wissenschaftszentrum Berlin entwickelt. Auf der Website pq-hiv.de bieten wir allen Präventionsprojekten einen entsprechenden Methodenkoffer dazu an. So stellen wir sicher, dass unsere Präventionsangebote von den Zielgruppen wahrgenommen, verstanden, akzeptiert und umgesetzt werden.
„Für Präventionisten ist HIV häufig das Wichtigste in der Welt“
Wie funktioniert Partizipative Qualitätssicherung?
Oft reichen schon einfache Mittel. Dazu gehören unter anderem Pretests, um zu erproben, ob das theoretisch Erdachte auch im echten Leben funktioniert. Ein Beispiel: Wenn die DAH eine neue Infobroschüre für Migrantinnen und Migranten vorbereitet, dann erstellt sie zunächst einen Textvorschlag und bespricht diesen mit Menschen, die aus verschiedenen Ländern nach Deutschland eingewandert sind. Dabei versuchen wir zu klären: Ist die Broschüre verständlich geschrieben? Sind die behandelten Themen für die Leserinnen und Leser überhaupt bedeutsam? Oder hat sich hier nur ein Fachmann nette Gedanken gemacht, die aber an der Lebenswelt der Zielgruppe vorbeigehen?
Wo hat die DAH in letzter Zeit nachgebessert?
Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass bei Menschen ohne Papiere oft ganz andere Fragen im Vordergrund stehen als etwa die richtige Anwendung von Kondomen. HIV ist nicht ihr größtes Problem, sondern das Überleben als illegal Eingewanderte, ohne Arbeitserlaubnis, in ständiger Angst vor Abschiebung. Für Präventionisten ist HIV häufig das Wichtigste in der Welt, aber unsere Zielgruppen haben oft andere Prioritäten. Das müssen wir verstehen und mitdenken.
Was passiert in den Quality-Action-Treffen?
In den Koordinationstreffen stellen wir die verschiedenen Methoden der Qualitätssicherung vor. Europäische Präventionsprojekte sollen dabei unterstützt werden, diese Instrumente bei sich anzuwenden. Wichtig ist, dass die Quality Action von sehr vielen europäischen Partnern gemeinsam getragen wird und dass dort sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Projekte vertreten sind. Das Spannende daran ist: Wir streiten uns teilweise wie die Kesselflicker über Ideen und Ansätze der HIV-Prävention.
Hört sich kriegerisch an …
Im Gegenteil, diese Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen Herangehensweisen in Europa sind sehr produktiv und führen am Ende zu einem guten Ergebnis. Man lernt sehr viel und begreift, was man in der eigenen Arbeit verbessern kann. Es geht um die Bereitschaft, zu hinterfragen, was man da eigentlich macht – und nichts anderes ist Qualitätssicherung. Das ist ein sehr spannender Prozess. Ich streite mich zum Beispiel sehr gern mit Kollegen aus manchen Gesundheitsministerien.
„Wir streiten uns teilweise wie die Kesselflicker“
Über was streiten Sie?
Etwa über den Sinn und Zweck von Qualitätssicherung. Für mich ist sie kein Instrument zur Kontrolle und Disziplinierung von Präventionsprojekten, sondern vielmehr eines zur Selbstkontrolle: Wo stehen wir in der Prävention? Machen wir das Richtige? Und machen wir das Richtige richtig?
Wer sitzt in so einem Koordinationstreffen zusammen?
Das sind Mitarbeiter aus Ministerien und Behörden ebenso wie solche aus Aidshilfen. Die Trägerstrukturen der HIV-Prävention sind in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. Daher ist dieses Projekt auch so wichtig: Man lernt ungeheuer viel übereinander und voneinander.
Aber die DAH nimmt auch großen Einfluss: Zum einen sind wir eine der beiden einzigen NGOs, die eine der acht Arbeitsgruppen leitet. Zum anderen haben wir in Deutschland einen Vorsprung, weil hier die Qualitätssicherung sowohl im Sozialbereich als auch in der Prävention eine gewisse Tradition hat.
Deshalb fand die Auftaktkonferenz in Berlin statt.
Das ist eine große Chance! Dadurch können wir unsere Vorstellungen von partizipativer Qualitätssicherung befördern. Qualitätssicherung sollte ein dialogisches Verfahren sein. Dabei geht es immer um ein Dreieck aus Aidshilfe, Zielgruppe und Zuwendungsgeber: Diese drei Seiten müssen die richtigen Präventionsmaßnahmen aushandeln und geeignete politische Rahmenbedingungen schaffen.
Was ist das Ziel dieses Mammutprojekts?
Es geht nicht allein darum, dass die Präventionsprojekte gute Arbeit leisten – da tragen wir natürlich Verantwortung, weil wir öffentliche Gelder erhalten. Meine Hoffnung ist vor allem, dass wir gemeinsam herausfinden, welche politischen Bedingungen gegeben sein müssen, um in jedem einzelnen Land sinnvolle HIV-Prävention betreiben zu können.
Qualitätssicherung heißt nicht Kontrolle und Disziplinierung
Und was haben die Aidshilfen in Deutschland von Ihrem Europa-Engagement?
Sehr viel! Das Projekt richtet sich gerade an die regionalen Aidshilfen und Präventionsprojekte in ganz Europa. Wir schaffen momentan die Strukturen für eine europäische Qualitätssicherung, und demnächst können die Aidshilfen an Trainings in vier Zentren – Dublin, Tallin, Barcelona und Ljubljana – teilnehmen, wo sie lernen, wie man Instrumente der Qualitätssicherung anwendet. Die vier Städte sind ganz bewusst gewählt: Jede liegt an einer anderen Ecke Europas. So ist die Anreise für niemanden zu weit. Immerhin sind 25 Länder beteiligt! Dahinter steckt die Überlegung, so viele Projekte wie nur möglich einzubinden. Alle regionalen Aidshilfen sollen Teil dieses europäischen Projekts werden.
Aktuelle Informationen zum EU-Projekt „Improving Quality in HIV Prevention (QHP)“ gibt es in englischer Sprache auf qualityaction.eu.
Weitere Informationen: carolin.vierneisel@dah.aidshilfe.de
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1 Kommentare
alivekickn 2. Oktober 2013 21:57
DAS ist ein gutes Beispiel für „Transparenz = der Arbeit (Bereich) der DAH. Ein Thema das vor allen Dingen sprachfachlich bezogen mit einfachen Worten verständlich erklärt um was es geht.
Da kann man nur hoffen das auch die Mittel für dieses Projekt bereit gestellt werden.