„Die anti-homosexuelle Politik soll von anderen Problemen ablenken“
Die Lage von Lesben und Schwulen in Russland hat sich mit dem Gesetz gegen „Homosexuellen-Propaganda“ weiter zugespitzt. Wie es sich auf das tägliche Leben bis hin zur HIV-Prävention auswirkt, haben drei russische LGBT-Aktivisten am Rande der Berliner Tagung „Gold for Equal Rights“ im Gespräch mit Axel Schock erzählt.
Wenn am Freitag in Sotschi mit großem Pomp die Olympischen Winterspiele eröffnet werden, wird sich Russland als ein modernes und weltoffenes Land inszenieren. Von einem ganz anderen Russland, in dem elementare Menschenrechte verletzt und per Gesetz Homosexuelle diskriminiert werden, berichteten am 1. Februar Vertreterinnen und Vertreter der dortigen LGBT-Community auf der Tagung „Gold for Equal Rights“ im Berliner Roten Rathaus.
Zu Gast waren unter anderem aus St. Petersburg Valery Sozaev, Kampagnenleiter beim russischen LGBT-Netzwerk und Mitarbeiter der HIV-Organisation LaSky, und Anna Prutckova, Begründerin der Bisexuellen-Organisation LuBi, aus Moskau angereist war Andrej Obolensky von der Rainbow Association.
Die Menschenrechtsverletzungen in Russland werden von der Weltöffentlichkeit sehr genau registriert. Besonders in Europa gibt es immer wieder Protest- und Solidaritätsaktionen. Wie viel davon erfährt die russische Gesellschaft?
Valery Sozaev: Diese Informationen erreichen uns zwar, werden jedoch in den meisten Medien sehr verzerrt dargestellt. Die russischen Fernsehsender befinden sich komplett in staatlicher Hand. Der private Kanal „Doschd“ (Regen) ist der einzige, der kritisch und unabhängig berichten kann. Doch wie es derzeit aussieht, hat die Regierung eine Möglichkeit gefunden, ihm die Lizenz zu entziehen.
„Die russischen Fernsehsender befinden sich komplett in staatlicher Hand“
Mit welchem Tenor wird in den staatlichen Medien über Homosexuelle berichtet?
Valery Sozaev: Den Zuschauern wird mal mehr, mal weniger subtil der Eindruck vermittelt, es gebe eine große homosexuelle Verschwörung mit dem Ziel, möglichst viele Menschen zu Schwulen und Lesben zu machen und so die Macht im Land zu ergreifen.
Wie tief ist die Homosexuellen-Feindlichkeit tatsächlich in der Bevölkerung verwurzelt?
Andrej Obolensky: Es ist schlicht ein Mythos, dass die Homophobie in der russischen Gesellschaft weit verbreitet ist. Aus Umfragen wissen wir, dass die Mehrheit der Russen überhaupt keine spezifische Haltung zu LGBT hat. Der Hass auf Schwule und Lesben wurde erst durch die Regierung massiv und leider auch sehr erfolgreich geschürt – unterstützt nicht zuletzt auch durch die russisch-orthodoxe Kirche.
Valery Sozaev: Ich stimme Andrej zu, dass die Homophobie in den letzten Jahren stärker geworden ist und dass dies auf die gezielten Kampagnen von Kirche und Staat zurückzuführen ist. Diese Kampagnen fallen allerdings auf fruchtbaren Boden, nämlich eine weit verbreitete grundsätzliche Ablehnung queerer Lebensformen. Wer Homosexuellen bisher eher gleichgültig gegenüberstand, fühlt sich durch die staatliche und kirchliche Propaganda genötigt, nun eine dezidierte Haltung einzunehmen. Und aufgrund der Panik schürenden Berichterstattung der staatlichen Medien stellen sich die Menschen mehrheitlich gegen Schwule und Lesben.
„Regelrechte Panik vor Homosexuellen mit zum Teil erschreckenden Auswüchsen“
Welche Bevölkerungsteile sind dafür besonders anfällig?
Valery Sozaev: Das betrifft alle Gesellschaftsschichten und sozialen Gruppen, ganz gleich, ob Arbeiter oder Intellektuelle. Wir haben schon Fälle erlebt, bei denen Eltern bislang eine recht tolerante Einstellung hatten, nun aber, unter dem Eindruck der ständigen negativen Berichterstattung über Homosexuelle, einen Gesinnungswandel durchmachten. Als sich der eigene Sohn als schwul outete, wurde er aus dem Haus gejagt. Dieses Klima staatlich akzeptierter Homosexuellen-Diskriminierung hat zu einer regelrechten Panik vor Homosexuellen mit zum Teil erschreckenden Auswüchsen geführt.
Kannst du dafür ein Beispiel nennen?
Valery Sozaev: Ein Mann wird als Schwuler bezeichnet, fühlt sich beleidigt und tötet den Streitpartner mit einem Dutzend Messerstichen. Der Täter wird dafür keineswegs wegen Mordes verurteilt, sondern erhält mildernde Umstände, weil er verständlicherweise seine Ehre verteidigt hat.
Wird die Homophobie von staatlicher Seite vielleicht auch benutzt, um sich von EU-Europa abzugrenzen?
Andrej Obolensky: Ich denke, dass diese anti-homosexuelle Politik eine ganz andere Strategie verfolgt, nämlich von den eigenen Problemen im Land abzulenken. Diese reichen vom maroden Zustand des russischen Gesundheitssystems bis hin zur Wohnungsnot russischer Studenten, die die stark gestiegenen Mieten in den Wohnheimen nicht mehr bezahlen können.
Was bedeutet es heute in Russland, offen schwul oder lesbisch zu leben?
Anna Prutckova: Das hängt sehr davon ab, in welchen Lebensbereichen man die Homosexualität öffentlich macht. Viele Lesben und Schwule müssen die traurige Erfahrung machen, dass sie in der eigenen Familie aufgrund ihrer Homosexualität jeglichen Rückhalt verlieren. Am Arbeitsplatz sind negative Reaktionen von Kollegen oder Vorgesetzen an der Tagesordnung. Homophobie existiert überall in Russland und daher auch im Arbeitsleben.
„Homophobie existiert überall in Russland und daher auch im Arbeitsleben“
Ich habe aber auch immer wieder feststellen müssen: Wenn ich mich als bisexuelle Frau oute, reagieren manche Heteromänner plötzlich ganz interessiert und machen direkte Angebote, doch mal zu dritt ins Bett zu gehen. In der LGBT-Community hingegen fühlen sich Bisexuelle meist nicht so sehr angenommen, weil man sich in den Augen vieler Schwulen und Lesben nicht traut, sich für ein Geschlecht zu entscheiden.
Valery Sozaev: Für lesbische und schwule Jugendliche stellt sich das besondere Problem, dass sie im Coming-out keinerlei psychosoziale Unterstützung mehr erhalten. Es gibt schlicht keine Beratungs- oder Anlaufstellen mehr, wohin sie sich mit ihren Sorgen und Problemen wenden könnten. Die wenigen sozialen Dienste, die früher solche Angebote gemacht haben, trauen sich das inzwischen nicht mehr – aus Angst, womöglich aufgrund des neuen Gesetzes zur Homosexuellen-Propaganda verurteilt zu werden.
„Die heutige Jugend kann sich mittlerweile im Netz sehr gut informieren“
Zum Glück aber gibt es das Internet. Die heutige Jugend kann sich mittlerweile im Netz sehr gut informieren. So hat beispielsweise die Journalistin Lena Klimowa aus Jekaterinburg ein beachtenswertes Blog ins Leben gerufen, das sich speziell an schwule und lesbische Teenager wendet und Fotos wie auch Lebensgeschichten aus ganz Russland veröffentlicht. [Anmerkung der Redaktion: Klimowa muss sich demnächst vor Gericht verantworten, weil sie mit diesem Blog gegen das Gesetz zum Schutz vor „Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen“ verstoßen habe.] Auch viele TV-Serien und Spielfilme mit positiven homosexuellen Rollenbildern sind inzwischen im Netz zu finden. Früher waren diese ausländischen Produktionen für uns nur sehr schwer zu beschaffen.
Welche Folgen hat das Gesetz gegen „Homosexuellen-Propaganda“ für die HIV-Prävention?
Valery Sozaev: Die Situation der HIV-Prävention bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), war auch schon vor der Verabschiedung des Gesetzes katastrophal. Für diese Form der HIV-Aufklärung gab es keinerlei staatliche Unterstützung. Ermöglicht wurde sie allein durch private Spenden und durch Unterstützung aus dem Ausland. Durch das neue Gesetz ist vor allem die Aufklärung von Jugendlichen so gut wie unmöglich geworden, denn sie könnte natürlich immer auch als Homo-Propaganda verstanden und deshalb strafrechtlich geahndet werden.
Wir stellen schon jetzt deutlich fest, dass das Gesetz die Stigmatisierung von Homosexuellen verstärkt. Viele MSM, die früher in Beratungsstellen oder zu LGBT-Organisationen kamen, haben heute Angst, womöglich als Schwule enttarnt zu werden.
Für antihomosexuelle Meinungsführer sind Schwule immer auch Verführer der russischen Jugend. Inwieweit werden Schwule auch als gesundheitliche Bedrohung, als Verbreiter von HIV gebrandmarkt?
Valery Sozaev: Das ist ein sehr beliebtes Stereotyp, auf das keiner der homofeindlichen Agitatoren verzichtet. Dabei gibt es geradezu absurde Situationen: Das „Elternkomitee“, eine von kirchlicher wie staatlicher Seite unterstützte Organisation, verbreitet einerseits, Schwule würden das ganze Land mit Aids verseuchen, andererseits gibt es Mitteilungen heraus, wonach Aids gar nicht existiere.
Andrej Obolensky: Weil sich dem Gesetz nach zwei erwachsene Männer lieben dürfen, werden Wege gesucht, wie Schwule dennoch dämonisiert werden können. Die Aids-Angst ist eine Möglichkeit, die andere ist, alle Schwulen pauschal als pädophil abzustempeln.
Vor einigen Tagen beantragte ein Abgeordneter, das Gesetz gegen „Propaganda für nichttraditionelle Beziehungen“ umzubenennen und nunmehr „Propaganda für Sex unter Jugendlichen“ zu verbieten. Welche Strategie steckt dahinter?
Andrej Obolensky: Das ist reine Kosmetik und nichts anderes als der Versuch, das stark beschädigte Ansehen Russlands in der Weltöffentlichkeit wiederherzustellen. Das Gesetz ist so schwammig formuliert, dass es sich fast auf alles problemlos anwenden lässt. Selbst wer mit dem Plakat „Antihomosexuelle Hassverbrechen dürfen nicht verschwiegen werden“ auf die Straße geht, muss jetzt mit einer Verurteilung rechnen. Ganz gleich, in welchem Zusammenhang man sich öffentlich zur Homosexualität äußert: immer wird unterstellt, es gehe primär um Sexualität und damit um eine strafbar Handlung.
„Das Gesetz ist so schwammig formuliert, dass es sich fast auf alles anwenden lässt“
Anna Prutckova: Eine solche Umformulierung des Gesetzes brächte allerdings die Gefahr mit sich, dass man mit Jugendlichen künftig überhaupt nicht mehr über Sexualität sprechen könnte. Das heißt, jede Form der Aufklärung wäre unmöglich. Konservative und kirchliche Kreise wird dies sicherlich erfreuen.
Wie reagieren Wirtschaft, Gesellschaft und Politik auf die kritischen Stimmen aus dem Ausland?
Valery Sozaev: Die russische Soziologin Elena Zdravomyslova hat einmal gesagt, die derzeitige russische Politik sei eine „Lügenpolitik“: keiner glaube tatsächlich an das, was er sage. Es geht immer nur darum, das Gesicht zu wahren und strategisch zu handeln. Die kleinen vermeintlichen Zugeständnisse, die derzeit gemacht werden, folgen genau dieser Taktik. Man möchte Konflikte mit internationalen Partnern vermeiden und ist natürlich auch um die eigene Wirtschaft besorgt.
„Man möchte Konflikte mit internationalen Partnern vermeiden“
Andrej Obolensky: Putins Sorge ist berechtigt. Der Euro hat sich wieder gefestigt, der Rubel hingegen befindet sich im freien Fall. Die Ursache dafür dürfte aber wohl nicht die Reaktion auf Russlands Homophobie sein, sondern vielmehr die Misswirtschaft und Korruption in unserem Land.
Weiterführende Links zum Thema auf aidshilfe.de:
Hoffen, dass die Situation nicht noch schlechter wird – Interview mit der russischen LGBT-Aktivistin Gulya Sultanova
Manifeste Homosexuellenfeindlichkeit – zur Sonderausgabe der Zeitschrift Ostblock
Internetseite der Tagung Gold for Equal Rights
DAH-Pressemitteilung zu Gold for Equal Rights
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