Über die Prä-Expositions-Prophylaxe mit Truvada (HIV-Negative nehmen ein HIV-Kombinationsmedikament ein, um sich vor einer Ansteckung zu schützen) wurde auf der Welt-Aids-Konferenz begeistert berichtet. Armin Schafberger plädiert für einen nüchternen Blick auf die Daten:

„Besser als Kondome“ und „100-prozentiger Schutz durch vier Tabletten in der Woche“, so lauteten einige Einschätzungen zur HIV-PrEP mit Truvada, die man jüngst auf der Internationalen Aids-Konferenz in Melbourne hörte. Doch haben wir es mit einer „Wunderpille“ zu tun? Und ist es berechtigt, wenn manche Präventionisten die HIV-PrEP mit Truvada insbesondere für schwule Männer schnell eingeführt sehen wollen?

Hintergrund der Jubelnachrichten aus Melbourne ist eine Studie der Forschergruppe um Robert Grant mit Schwulen und anderen Männern, die Sex mit Männern haben, sowie mit Trans*-Frauen. Die Teilnehmer_innen hatten bereits vorher bei PrEP-Studien mitgemacht (ATN082, iPrEx und US Safety Study) und konnten nun entscheiden, ob sie über 72 Wochen Truvada einnnehmen oder nicht. Ein Placebo war nicht mehr im Spiel – alle wussten, dass in der PrEP-Tablette Wirkstoffe enthalten waren („Open-Label-Studie“).

Eine Studie mit den Motiviertesten der Motivierten

Drei Viertel der über 1.600 Befragten entschieden sich für die Truvada-PrEP, ein Viertel dagegen. Da bereits für die erste PrEP-Studien nur motivierte Personen ausgewählt worden waren, geht es also bei diesen PrEP-Nutzern um die Ergebnisse von besonders hoch Motivierten. Hinzu kommt: Alle Studienteilnehmer erhielten die PrEP und sämtliche Zusatzuntersuchungen kostenfrei. Die „Therapietreue“ war trotzdem nur mäßig.

Doch davon später. Widmen wir uns zuerst den Nachrichten, die alle so berauschten: Kein Proband, der vier bis sieben Tabletten pro Woche einnahm, wurde infiziert – „besser als Kondome“ sei die Truvada-PrEP, hieß es. Sogar für nur zwei bis drei Tabletten pro Woche wurde noch ein Schutzeffekt von 90 Prozent berechnet.

Da wird es Zeit, den Miesepeter zu spielen und nüchtern auf die Daten zu sehen. Denn entscheidend ist in der Prävention und in der Therapie das Gesamtergebnis: In der PrEP-Gruppe infizierten sich 1,8 Probanden pro 100 Personenjahre mit HIV, in der Nicht-PrEP-Gruppe 2,6 pro 100 Personenjahre. Daraus könnte man einen Schutzeffekt von 0,51 errechnen, die PrEP würde demnach die Infektionszahlen um die Hälfte reduzieren. Einziger Wermutstropfen: Statistisch war der Unterschied nicht signifikant – das hätte man korrekterweise an erster Stelle vermelden müssen. Kein signifikanter Unterschied bei den HIV-Infektionen, das heißt: Der Beweis, dass die PrEP schützt, ist in dieser Studie gescheitert. Man hätte sie auch „in die Tonne kloppen“ können.

Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt

Man stelle sich diesen Tunnelblick nur mal bei der HIV-Therapie vor: Würde ein Firmenvertreter ein neues HIV-Medikament mit solchen Zahlen vorstellen, gäbe es sofort ein Murren und Raunen, und die erste Frage aus dem Publikum wäre die nach der Intent-to-treat-Analyse (ITT): Wenn man 100 Personen ein Medikament verschreibt und nur 70 das Medikament einnehmen, welche Zahlen sind dann wichtiger? Die zu den 100 Personen, die behandelt werden wollen (Intent-to-treat-Analyse), oder die zu den 70, die die Medikamente tatsächlich gewissenhaft einnehmen (as treated, kurz AT)? Schließlich gibt es ja Gründe, warum Menschen die Medikamente nicht einnehmen. Die lebensnähere und zugleich kritischere Analyse ist also die ITT, fokussiert wurde aber auf die Ergebnisse einer As-treated-Analyse.

Wie genau sahen diese Ergebnisse bei den Teilnehmern aus der PrEP-Gruppe aus? Im frischen Blutplasma ließ sich nach Woche 4 (n = 305), Woche 8 (n = 851) oder Woche 12 (n = 33) bei 71 Prozent von ihnen Tenofovir nachweisen. Das heißt auch: Bei knapp einem Drittel (29 %) war kein Fitzelchen des eigentlich lang wirkenden Medikaments nachweisbar, obwohl es doch um hoch motivierte und intensiv beratene Probanden ging. Über die möglichen Gründe wird in der Studie kein Wort verloren.

Ab der Woche 12 wurde dann mit einer anderen Methode Tenofovir im Blut nachgewiesen: aus getrockneten Blutstropfen auf Filterpapier. Ergebnis: Lag die Tenofovir-Konzentration über einem bestimmten Wert (700 fmol pro Filterpapier-Einheit), fiel der HIV-Test immer negativ aus, der Schutzeffekt lag also bei 100 Prozent. Das Problem: In der Statistik gehört zu solchen Werten immer ein sogenanntes 95%-Konfidenzintervall, das heißt, im schlechtesten Fall liegt der Schutzeffekt nur bei 86 Prozent.

Von tönernen Füßen und breiten Intervallen

Hinzu kommt: Dass vier bis sieben Truvada-Tabletten pro Woche reichen, um eine Konzentration von über 700 fmol zu erreichen, nimmt man aufgrund einer Studie aus dem Jahr 2012 an (Castillo-Manchilla 2012). Andere Faktoren wie die Körpergröße, Störungen bei der Aufnahme (Resorption) des Medikaments oder das Vorhandensein von Durchfallerkrankungen (die meisten Probanden sind  aus Peru) werden hier nicht thematisiert. Einer Tabelle in der PREP-Studie ist denn auch zu entnehmen, dass eine solche „Traumkonzentration“ nur bei 33 Prozent der Untersuchungen zu messen war …

Nun zur „zweitbesten“ Gruppe der Probanden, die eine Konzentration von 350–699 fmol/Filterpapier-Einheit aufwiesen. Hier gab es eine HIV-Infektion – verglichen mit der Nicht-PrEP-Gruppe errechnet sich ein Schutzeffekt von 90 Prozent (laut Veröffentlichung im Wissenschaftsmagazin Lancet) bzw. 84 Prozent (laut Präsentation in Melbourne). Interessant ist die Breite des Konfidenzintervalls: Zu 95 Prozent liegt der Schutzeffekt zwischen 21 und 99 Prozent …

Mehr Frust als Lust

Es ist wie bei Umfragen vor Wahlen: Befragt man wenige Personen, ist das vorhergesagte Ergebnis unsicher, befragt man sehr viele Personen, kommt man mit hoher Präzision an das tatsächliche Wahlergebnis heran. Da in dieser Studie aber nur 12 Prozent aller Untersuchungsergebnisse in diesem Bereich lagen, steht das Ergebnis auf tönernen Füßen – dennoch wurde munter aus der Tenofovir-Blutkonzentration geschlossen, dass diese Probanden zwei bis drei Tabletten pro Woche eingenommen hätten.

Und nun zur größten Gruppe: Bei 51 Prozent der Untersuchungen wurde nur wenig oder kein Tenofovir gemessen – hier gab es 9 und 18 Infektionen, um den Schutzeffekt war es also schlecht bestellt. Geschlossen wurde trotzdem: Bei unter 359 fmol habe man weniger als zwei Tabletten pro Woche eingenommen, bei den 25 Prozent der Untersuchungen, bei denen gar keine Konzentration gemessen wurde, eben gar keine.

Als wäre das nicht schon frustrierend genug, erfahren wir außerdem noch, dass über die 72 Untersuchungswochen die Tenofovir-Blutkonzentrationen kontinuierlich abnahmen, und zwar sowohl bei den Serokonvertern (die irgendwann HIV-positiv getestet wurden) als auch bei denen, die HIV-negativ blieben. Und dies trotz dauernder Beratung bei hoch motivierten Teilnehmern, die nichts für die PrEP bezahlen mussten. Wie würde die Kurve aussehen, wenn die Tagesdosis 30 Euro kostet und kaum Beratung stattfindet?

Abgenommen hat im Untersuchungszeitraum auch, und das ist ein gutes Zeichen, die (von den Probanden selbst berichtete) Zahl der Sexualkontakte ohne Kondom. Die PrEP hat also nicht, wie von vielen befürchtet, zu einer Steigerung der Risiken geführt.

Das Risiko hat aber auch in der Nicht-PrEP-Gruppe abgenommen. Und das heißt wiederum, dass sich die dauernde Beratung und Betreuung sowie die Bereitstellung von Kondomen – die gute alte Prävention – über viele Monate bemerkbar macht. Wir sehen diesen Effekt in allen großen Präventionsstudien, egal ob es um die Impfung, die Beschneidung oder die PrEP geht: Beratung wirkt.

Außer Spesen nichts gewesen?

Was bleibt? Die gute Nachricht ist: Die PrEP wirkt – wenn man sie konsequent nimmt. Die tägliche Einnahme einer Tablette aber ist für Gesunde auf Dauer eine große Herausforderung, die oft misslingt. Aber all das wussten wir schon vorher.

Sollten wir daher die Dauer-PrEP mit Truvada fördern und fordern? Eine ähnlich intensive Beratung wie in den Studien werden wir im freien Feld nicht erreichen. Eine kostenfreie PrEP wohl auch nicht. Damit werden die realen Ergebnisse eher noch schlechter sein.

Doch es gibt zum Glück deutlich interessantere Ansätze zur PrEP: Die IPERGAY-Studie, die eine „Wochenend-PrEP“ mit Truvada für schwule Männer erprobt, wird von Frankreich auf Deutschland ausgedehnt und soll schon 2016 Ergebnisse bieten. Hier nimmt man die PrEP nur ein, wenn man Risiken eingehen (könnte). Das spart eine lästige Tabletteneinnahme in Zeiten, in denen man keinen Sex hat – und reduziert natürlich auch die Kosten.

Außerdem wird die PrEP auch als Monatsspritze, Dreimonatsspritze, als Vaginal- oder Rektalgel, als Vaginalring oder Vaginaltablette erprobt. Die interessanten Ansätze kommen also noch. Es lohnt sich nicht, jetzt schon auf ein lahmes Pferd aufzuspringen. Außer man ist Truvada-trunken.

 

Literatur

Grant RM et al: Uptake of pre-exposure prophylaxis, sexual practices, and HIV incidence in men and transgender women who have sex with men: a cohort study. Lancet Infect. Dis, www.thelancet.com/infection. Published online July 22, 2014.

Grant RM et al: Pre-Exposure Prophylaxis (PrEP) Initiative: Open Label Extension. WAC Melbourne, July 22, 2014

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Armin Schafberger

Armin Schafberger ist Arzt und Master of Public Health, Trainer und freier Autor.

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