Erinnern und gedenken

„So jung und schon so böse!“

Von Gastbeitrag
Als er die Aktivistengruppe ACT UP Berlin gründete, hatte Andreas Salmen schon jede Menge „bewegt“. Elmar Kraushaar erinnert an einen politisch Umtriebigen, der mit 29 Jahren an Aids verstarb.

Bei unserem ersten Zusammentreffen hat‘s gleich gefunkt, böse gefunkt. Wir begegnen uns Mitte 1985 auf einer Redaktionssitzung der noch jungen „Siegessäule“. Andreas gehört zu den Gründern und Machern von Beginn an, ich bin Kolumnist des monatlichen Stadtmagazins. Der Berliner Gesundheitssenator Ulf Fink (CDU) hat gerade 20.000 DM locker gemacht für ein Sonderheft zur Aids-Aufklärung in der Berliner Schwulenszene. Die Redaktion der „Siegessäule“ soll diese Aufgabe übernehmen, und man einigt sich darauf, mich mit der redaktionellen Verantwortung zu betrauen.

Alles scheint klar, die Arbeit soll beginnen, nur Andreas ist dagegen. Nicht gegen das Heft, aber gegen mich. Es wird laut bei dieser Redaktionskonferenz, Andreas hat keine Argumente gegen mich, aber ordentlich viel Misstrauen und Abneigung. Vielleicht ist das schon ein Zwist der Generationen? Andreas ist damals gerade 23 Jahre alt, ich bin 35. Eine Abstimmung verläuft schließlich zu meinen Gunsten, Andreas verlässt erbost den Raum und ist auch später an der Erstellung des Sonderhefts „Dimension einer Krankheit“ kaum beteiligt.

Engagement gegen Neonazis und bei den „Judos“

Was ist das nur für ein Kerl? So jung und schon so böse! Trotz seines Alters hat der am 26. Mai 1962 in Göttingen geborene Andreas Salmen bereits eine politisch bewegte Vergangenheit hinter sich. Bereits als Schüler engagiert er sich gegen Neonazis, später tritt er den „Jungdemokraten“ (Judos) bei, der damaligen Jugendorganisation der FDP. Der Verband ist stark links orientiert und versteht sich als Teil der außerparlamentarischen Opposition. Als Konsequenz daraus tauscht 1982 die FDP die „Judos“ gegen ihre andere Jugendorganisation, die parteitreuen „Jungen Liberalen“ aus. Die „Judos“ sympathisieren fortan mit den Grünen. Claudia Roth beispielsweise gehört dazu, bevor sie bei den Grünen Karriere macht. Mit den „Judos“ engagiert sich Andreas gegen den NATO-Doppelbeschluss und versucht, ein Zusammengehen der FDP mit der CDU zu verhindern.

Mit seinem Coming-out ist Andreas sofort auch schwulenpolitisch aktiv, gehört zu den Besetzern des sogenannten „Tuntenhauses“ in der Schöneberger Bülowstraße 55. Das Haus wird am 12. Februar 1981 besetzt, später schreibt dazu eine gewisse Tilly in der taz: „Natürlich sind Schwule immer etwas zimperlich, aber nach einigen Anläufen hatten wir es im Morgengrauen jenes denkwürdigen Februartages geschafft, ein Parterrefenster des zweiten Quergebäudes der Bülowstraße 55 einzuschlagen.“

Mitbesetzer des „Tuntenhauses“

Zur Stammbesetzung gehören rund zehn Schwule und eine (heterosexuelle) Frau. Andreas selbst schreibt später über seine Zeit im Tuntenhaus: „Das erste Jahr war voll dem Haus und seinen Bewohnern gewidmet. Die meisten hatten gerade ihr Coming-out hinter sich, waren um die zwanzig, und das Tuntenhaus war ihre erste schwulenpolitische Aktivität. Man war politisiert, aber im Vordergrund stand das Zusammenleben mit vielen anderen Schwulen. Natürlich ging man auf jede Demo, auf jeden Besetzerrat – doch dann ging es wieder nach Hause. (…) Die Samstagnacht-Feten im Schwulenzentrum waren schräg über die Straße, die Sub lag 15 Minuten Fußweg und Aids noch drei Jahre entfernt – mit anderen Worten: an Monogamie dachte kaum einer.“

Die alternative Homo-Idylle dauert gerade mal ein Jahr, der Senat greift ein, die ersten Häuser werden unter der Ägide des gefürchteten Berliner Innensenators Heinrich Lummer (CDU) geräumt. Die Unsicherheit greift auch auf das Tuntenhaus über: Räumung oder Mietvertrag? Aus Solidarität mit den Besetzern tagt das monatliche „Treffen Berliner Schwulengruppen“ (TBS) eine Zeitlang in der Bülowstraße 55, und Rosa von Praunheim und der Buchladen Prinz Eisenherz übernehmen Patenschaften für das Haus.

Bereits Ende 1982 verlässt Andreas mit den anderen Bewohnern des dritten Stocks das Haus, Ende 1983 wird schließlich das ganze Gebäude von der Polizei geräumt, es folgt der Abriss. „Alles in allem aber war das Haus ein tolles Erlebnis“, schließt Andreas seine schriftlichen Erinnerungen daran, „trotz all dem Nerv, dem Schmutz und Stress (…) waren da auch viele tolle Augenblicke.“

 

Andreas Salmen (Foto: privat)
Andreas Salmen (Foto: privat)

 

Andreas Salmen stürzt sich nun voll und ganz in seine Arbeit bei der „Siegessäule“, ihm kommt eine zentrale Rolle zu in dem vielköpfigen Redaktionskollektiv, Ehrenamtliche allesamt. Er steuert viele gute Ideen bei, schreibt einen Artikel nach dem anderen und ist besonders fleißig, wenn es um seine Lieblingsmusik geht, Britpop wie er damals ganz hoch in den Charts notiert wird.

Aidspolitischer Einsatz im Redaktionskollektiv der „Siegessäule“

In der Berichterstattung des Blattes gewinnt das Thema Aids zunehmend an Bedeutung, Andreas gehört zu den ersten, der die Wichtigkeit erkennt, und macht sich schlau von Beginn an. Aber es ist nicht nur die publizistische Arbeit dazu, die ihn umtreibt, er will auch politisch etwas bewirken: gegen die befürchtete Diskriminierung der sogenannten Risikogruppe, gegen die zum Teil verheerende Berichterstattung in den Medien, gegen Politiker, die unter dem Aids-Vorwand ihren homophoben Ressentiments freien Lauf lassen.

Regelmäßig trifft sich Andreas mit einer hochmotivierten Aktivistengruppe, hier werden Strategien besprochen und Aktionen geplant. Flugblätter? Demonstrationen? Aufklärungsveranstaltungen? Einmal steht zur Debatte, sich am Eingang des Berliner Spiegel-Büros anzuketten, denn die Aids-Berichterstattung des Nachrichtenmagazins steht unter besonderer Kritik.

Wir alle, die wir versuchen, unsere Wut über die sich verschärfende Aids-Situation zu artikulieren, sind betroffen im schlimmen Wortsinn, Freunde und Partner werden positiv getestet, andere erkranken, die ersten sterben. Wir schreiben Traueranzeigen, gehen auf Beerdigungen und Trauerfeiern. Gesicherte Informationen über die Krankheit gibt es noch viel zu wenige. Werden die Viren durch Blut und Sperma übertragen? Oder reichen schon Speichel und Mikroverletzungen im Mundraum?

Heftiger Verfechter des Safer Sex

Auf unseren mitunter hoch emotional geführten Debatten bilden sich nach und nach zwei Positionen heraus. Die einen setzen ohne Wenn und Aber auf die neu formulierten Regeln des Safer Sex, die anderen sprechen von Eigenverantwortung eines jeden einzelnen. Andreas wird zum heftigen Verfechter des Safer Sex, sicher, postuliert er, seien lediglich „trockene Küsse“.

Die beiden Lager driften auseinander, Andreas sieht sich in den USA um und kommt mit der Idee der ACT UP-Bewegung zurück. Hier sieht er Schwulenbewegung und politischen Aids-Aktivismus zusammengeführt, wie es seiner Überzeugung nach notwendig ist. Andreas gründet ACT UP Berlin, dem folgen weitere Gründungen in anderen Städten in der Bundesrepublik. Wichtiger Unterstützer dieser Arbeit wird Rosa von Praunheim. Öffentlich fordern die beiden die Schwulen immer wieder zu konsequentem Safer Sex und zu militantem Handeln auf. Die Bewegung soll endlich aktiv werden, „Feuer unterm Hintern“ lautet ihr Motto, später wird daraus ein „Feuer unterm Arsch“.

Aids-Aktivismus unter dem Motto „Feuer unterm Arsch“

So sehr Andreas und ich uns in verschiedene Richtungen bewegen, kommen wir uns doch privat näher. Es folgt ein erstaunlicher Entschluss: Andreas, unser gemeinsamer Freund, der Fotograf Ingo Taubhorn, und ich wollen zusammenziehen. Was für eine Idee! Wir drei sind davon ganz angetan, trotz aller Gegensätze. Drei Macher, drei Diven, drei Tonangeber – wie soll das gutgehen?

Oft sitzen wir zusammen in der kleinen Wohnung von Andreas im Wedding, Nähe Wollankstraße, und diskutieren unsere gemeinsame Zukunft. Dann wird doch nichts daraus, die zermürbende Suche nach einer passenden Wohnung lässt unsere Pläne langsam versickern. Nicht mehr viel bleibt davon, für mich aber die wunderbare Erfahrung, in diesen Wochen und Monaten einen sehr sensiblen, höchst liebenswerten Mann kenngelernt zu haben, dem ich öffentlich so nie begegnet bin.

Am 13. Februar 1992 stirbt Andreas an den Folgen von Aids. Ein paar Tage später stehen Ingo und ich im Krematorium Ruhleben, halten uns heulend aneinander fest, sind unendlich traurig und verdammt wütend. Diese Krankheit ist die Pest! Unfair und infam! Sie nimmt uns unseren Freund, ohne Gegenrede. Andreas ist noch nicht einmal 30 Jahre alt geworden – welchen Sinn macht dieser Tod?

„Er hat uns vorgelebt, was SILENCE = DEATH / ACTION = LIFE bedeuten kann“

Die ACT UP-Gruppen verabschieden sich mit einer Anzeige von ihrem Mitstreiter. „Die Königin hat ihr Königreich selbst geboren“, heißt es darin. „Andreas war derjenige, der die us-amerikanische ACT UP-Idee aufgegriffen und auf unsere Verhältnisse übertragen hat. Andreas war sicherlich ein schwieriger Mensch; es fiel uns nicht immer leicht, mit seiner kompromisslosen und fordernden Art umzugehen. Er war voller Ideen und Konzepte für neue Aktionen, mit denen er den Kampf gegen die AIDS-Krise aufgenommen hatte. Die ungeheuere Energie, die er dabei entfaltete, war nicht zuletzt auch Ausdruck seiner eigenen Betroffenheit. Dabei verstand er die AIDS-Epidemie nicht als isoliertes medizinisches, sondern vor allem auch als politisches Problem. (…) Er hat uns vorgelebt, was SILENCE = DEATH / ACTION = LIFE bedeuten kann.“

Kurz vor seinem Tod hat Andreas verfügt, dass sein Nachlass im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung aufbewahrt wird. Da lagern jetzt sechs Aktenordner und sechs Archivboxen, darin enthalten Broschüren, Flugblätter und Zeitschriften sowie seine Diplomarbeit und erste Vorarbeiten für eine Promotion. Persönliche Unterlagen finden sich nicht darin.

Wenige Wochen nach Andreas‘ Tod nimmt sich sein Partner der letzten Jahre, Michael Fischer, das Leben.

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