Eines der besten schwulen Bücher der letzten Jahre: In seinem Coming-out-Roman „Two Boys Kissing – Jede Sekunde zählt“ schlägt David Levithan eine Brücke von der Aids-Generation der 80er-Jahre hin zu queeren Jugendlichen der Gegenwart.

Sind mittlerweile nicht alle Varianten des schwulen Coming-outs durcherzählt? Braucht es wirklich noch weitere Romane über all die Irritationen, Zweifel und Ängste, die mit dem ersten Verlieben und der Suche nach der eigenen, der anderen sexuellen Identität verbunden sind?

Die Frage kann man sich zweifellos stellen, besonders, wenn man diese Lebensphase längst hinter sich gelassen hat. Die Antwort darauf liefert David Levithan. Man will ihn für seinen neuen Roman „Two Boys Kissing – Jede Sekunde zählt“ einfach nur knutschen, und man kann getrost jede Wette eingehen: Dieses Buch wird bleiben.

Es wird wie Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ und Benjamin Alire Sáenz’ „Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums“ keineswegs nur Teenager beglücken. Es wird zum Longseller und Schullektüre werden und seinen festen Platz im Kanon der Jugendbuchliteratur finden. Keine Frage: An „Two Boys Kissing“ werden sich alle nachfolgenden Coming-out-Romane messen lassen müssen.

Zu viel der Lorbeeren und des Lobpreises? Keineswegs. Selten konnte man ein Buch so uneingeschränkt empfehlen, ach was: ans Herz legen. Aber der Reihe nach.

Auf den ersten Seiten sorgt US-Autor Levithan, Jahrgang 1972, erst einmal für Irritation. Im schnellen Wechsel springt er zwischen seinen Schauplätzen hin und her und führt blitzlichtartig ein gutes Dutzend Protagonisten ein, allesamt schwule Teenager.

Da ist zum Beispiel Cooper, der sein Schwulsein lediglich virtuell, aber auf den Dating-Plattformen umso heftiger auszuleben scheint, ohne dabei wirklich zu sich selbst zu finden. Auf einer LGBT-Party begegnen sich Avery (blau gefärbte Haare) und der Trans-Boy Ryan (pink gefärbte Haare).

Chor der Toten

Tariq wurde wegen seines Schwulseins verprügelt und leidet unter den Folgen. Neil und Peter dürfen zwar noch nicht zusammen übernachten, aber ansonsten gehen ihre Eltern ziemlich cool damit um, dass die beiden ein Paar sind.

Und dazwischen eine Erzählerstimme, die ganz und gar nicht zuzuordnen ist. Abgeklärt, fast salbungsvoll spricht sie zu uns, den Lesern, oder auch zu den Figuren: „Ihr könnt nicht wissen, wie es jetzt für uns ist – da werdet ihr immer einen Schritt hinterher sein. Seid dankbar dafür. Ihr könnt nicht wissen, wie es damals für uns war – da werdet ihr immer einen Schritt voraus sein. Seid dankbar, auch dafür.“

Und während sich langsam die verschiedenen Geschichten der jugendlichen Hauptfiguren herauskristallisieren, löst sich auch das Rätsel, wer da das gesamte Geschehen gewissermaßen aus der Vogelperspektive beobachtet, manchmal am liebsten eingreifen, helfen oder trösten möchte.

Dieses Wir, das da spricht, ist die Generation der Männer, die viele Jahre vor diesen Jugendlichen ihr Schwulsein für sich entdeckt haben. Es sind die Stimmen der Toten, die in den 80er- und 90er-Jahren unter ganz anderen Umständen ihr Coming-out gemeistert und doch ganz ähnliche Gefühle, Probleme und Kämpfe durchlebt haben.

Wie ein griechischer Chor kommentieren sie nun die Geschehnisse unter den Nachgeborenen. Sie ziehen Vergleiche und beschreiben dadurch die Fortschritte und Veränderungen im schwulen Leben: „Wir hatten kein Internet, aber wir hatten ein Netzwerk. Wir hatten keine Websites, aber es gab Orte, an denen wir unsere Netze webten.“

„…bis schließlich du es bist, der gegangen ist und betrauert wird“

Sie haben den Jugendlichen von heute viele Erfahrungen voraus – Erfahrungen, die jeder für sich aufs Neue machen, manchmal auch durchleiden muss: sich unglücklich zu verlieben, wegen des Schwulseins gehänselt, ausgelacht, ja sogar von den Eltern verstoßen zu werden. Sich in einem Lover zu täuschen und verletzt zu werden; nicht den Mut zu finden, auf einen anderen zuzugehen.

David Levithan (Foto: privat)
David Levithan (Foto: privat)

Und dann sind da die Erfahrungen, von denen dieser Geisterchor hofft, dass sie anderen für immer erspart bleiben: „Jeden Tag ein neues Begräbnis. Wie viel Raum nahm das in unserem Leben ein. Stell dir vor, in deiner Schule würde jeden Tag ein Schüler sterben. Manche sind Freunde von dir, andere einfach Klassenkameraden. Du gehst weiter hin, weil du weißt, dass dir nichts anderes übrigbleibt. Du wirst zum Erinnerungsträger, und zum Kummerträger, bis schließlich du es bist, der gegangen ist und betrauert wird.“

Zwei Tage lang begleitet dieser Geisterchor die Jugendlichen und David Levithan arrangiert und komponiert die parallel erzählten Schicksale und Geschichten dramaturgisch äußert geschickt und spannend, bis sie alle mit einem zentralen Ereignis verknüpft werden: einem Weltrekordversuch.

Craig und Harry wollen den bisherigen Rekord im Dauerküssen brechen. 32 Stunden, 12 Minuten und 10 Sekunden müssen sie dazu mindestens durchhalten. Das Paar hat sich gerade erst getrennt, mit ihrer Aktion aber wollen sie gemeinsam ein Zeichen setzen: gegen Homophobie und für die Akzeptanz von Homosexualität.

Diesen Rekordkuss gab es übrigens tatsächlich, unter anderen Umständen zwar und exakt 35 Sekunden länger, aber nicht weniger spektakulär. Zwei Studenten am College von New Jersey haben es so 2010 ins Guinnessbuch der Rekorde geschafft.

Komplexes Panorama der Empfindungen und Stadien der Selbstfindung

In Levithans Roman löst die Aktion Begeisterung, breite Unterstützung, großes mediales Interesse, aber auch homosexuellenfeindliche Angriffe aus. Und der Kuss verändert auch die Gefühle von Craig und Harry füreinander und wirkt sich auf die eine oder andere Weise auf fast alle Figuren des Romans aus.

Und während eine immer größer werdende Menschenschar sich versammelt, um das Paar beim Countdown anzufeuern, erleben auch die anderen Protagonisten entscheidende Entwicklungen.

Levithan entfaltet dabei nicht nur ein komplexes Panorama der Empfindungen und Entwicklungsstadien dieser schwulen Jugendlichen, sondern schildert auch zugleich die ganze Bandbreite an Reaktionen von Gesellschaft, Familie und Freunden. Klingt überambitioniert und überkonstruiert, und liest sich doch ganz anders: erhellend und berührend, und dank der schlichten, aber eleganten Sprache (auch in der deutschen Übersetzung) wahrhaftig, ohne in Kitsch zu versinken.

Nicht zuletzt vermag es Levithan, dass einem auch noch die Augen feucht werden: vor Glück und Rührung, und weil es ihm immer wieder gelingt, auf herzerweichende Weise menschliche Wahrheiten in einfachen Sätzen zum Ausdruck zu bringen.

Von Axel Schock

two boys kissing coverDavid Levithan „Two Boys Kissing – Jede Sekunde zählt“. Aus dem Amerikanischen von Martina Tichy. S. Fischer Verlag, 288 Seiten, gebunden, 14,99 Euro

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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