Ende der achtziger Jahre nahm die Fotografin Ines De Nil eine Porträtserie von Ikarus auf, der mit der Zahl seiner Helferzellen auf dem T-Shirt für seine Würde als Mensch mit Aids und gegen das Verstecken kämpfte. Thomas Passarge, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, starb im Januar 1992 mit knapp 26 Jahren an den Folgen seiner Krankheit. Heute erinnnert seine damalige Fotografin an ihn.

„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie also erinnern wir uns an Menschen, die in der Aids– und Selbsthilfe oder in deren Umfeld etwas bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich unsere Reihe „Erinnern und Gedenken“ in loser Folge.

In einer Zeit der Tabuisierung von Homosexualität und Diskriminierung der Aidskranken bekannte Ikarus sich als erster Schwuler offen zu seiner Krankheit. Er weigerte sich, seine Kaposiflecken zu überschminken und druckte die T4-Helferzellen-Werte auf das T-Shirt, er wollte fotografiert werden und diese Fotos veröffentlichen. In der ZDF-Sendung „Kennzeichen D“ zum Thema Aids redete er über seine Krankheit. Nein, verstecken wollte er sich nicht.

Verstecken wollte er sich nicht

Mit einundzwanzig Jahren erhielt Ikarus sein positives HIV-Testergebnis. Er hatte sich 1986 infiziert, da war er zwanzig und gerade nach Berlin gekommen, um Luft- und Raumfahrttechnik zu studieren. Seinen Familiennamen änderte er mit dem Streichen eines Buchstabens in das bewegtere Passage, und der Vorname Thomas verschwand. Ikarus entstand aus den Abstürzen seines jungen Lebens, vielleicht wollte er dem Vergangenen entfliehen, sich aufschwingen, verändern. Ikarus, der Sohn des Dädalus, der mit seinen vom Vater gebastelten Flügeln der Sonne zu nahe kam, die das Wachs zwischen den Federn schmelzen ließ und ihn in den Tod stürzte.

In Berlin geriet Ikarus zuerst in eine Schwulenszene, die absolut auf Körperkult und Gesundheit setzte. Ob im „Knast“ oder im „Connection“, sein Aussehen machte ihn begehrt. Die schlanken Engel, die auf dem Gemälde des Pieter Bruegel energisch gegen das Schlechte kämpfen, konnten seine Geschwister sein.

Allerdings mochte er keine wehenden Haare und Gewänder, sondern bevorzugte Glatze mit Irokesenstoppeln, Lederjacke und Springerstiefel, aber nicht wie die Neonazis mit weißen Schnürsenkeln, sondern mit roten, wie die Autonomen sie trugen. Zum Sommer gehörten für ihn seine Lederhöschen und Turnschuhe. Rote Schnürsenkel wurden zum Verhängnis, als die Braunen darin eine Provokation sahen und ihn zusammenschlugen.

In der Schöneberger schwulen Clubszene veränderte sich sein Ansehen sofort, als im Gesicht, auf den Armen die Kaposiflecken deutlich wurden. Jeder wusste Bescheid. Aids. Sofort suchten die Szenegänger Abstand zu ihm, wollten sich nicht einmal auf ein Gespräch einlassen, drehten ihm den Rücken zu. Auch in seinem Alltag, im Studium erlebte Ikarus Distanz und den Verlust von Kontakten. Das konnte durch die Nähe seines Lebensgefährten Stefan nicht ausgeglichen werden. Manchmal wollte sich Ikarus aus dem Fenster der Wohnung stürzen.

Nur lähmende Hilflosigkeit

Seine Kindheit und Jugend waren geprägt gewesen von sexuellem Missbrauch, äußerster psychischer Gewalt und Eingesperrtsein in der Psychiatrie. Es sah wie eine Rettung aus, als der Direktor der Odenwaldschule, Gerold Becker, ihn von dort in das sozial engagierte, reformpädagogische Internat holte. Der Alptraum wiederholte sich. Wie viele andere Schüler konnte Ikarus sich nicht gegen den sexuellen Missbrauch durch den pädophilen Gerold Becker und andere Lehrer wehren. Für die Opfer gab es jahrzehntelang keine Hilfe, sondern nur lähmende Hoffnungslosigkeit.

Ikarus: Ich habe mich vor vier Jahren infiziert. Da war ich zwanzig und gerade nach Berlin gekommen. Warum ich so unvorsichtig war? Das ist wohl ein Fall für die Psychoanalyse. Vielleicht kam mir das auch ganz recht. Ich wusste nicht, was ich mit dem Leben anfangen sollte. 

Ende der Achtziger verbreitete sich eine aggressive Stimmung gegen Aidskranke und Schwule, ein bayrischer Politiker forderte, Lager einzurichten, um sie zu isolieren. Von den Äußerungen schockiert, war es Ikarus klar, dass er nie wieder Demütigungen hinnehmen würde. Er begann, gegen die Dummheit vieler Menschen und gegen die Krankheit zu kämpfen, er wollte leben, nicht verachtet werden und nicht früh sterben.

Leben und nicht früh sterben

In dieser Zeit lernte ich ihn kennen. Ein alter Freund, Ferdinand Schmidt, lud mich ins CafePosithiv ein, das 1989 von der Berliner Aidshilfe als Treffpunkt für HIV-Positive, ihre Freunde und Freundinnen in der Großgörschenstraße eingerichtet worden war. Dort machte ich erst einmal Fotos von den Gästen, Ovo Maltine, Franziska, Ferdinand, Gerhard, Patrick und vielen anderen, während sie sich unterhielten, tanzten oder CSD Transparente malten. Ikarus hatte T-Shirts mit Motiven zu Aids bedruckt und bat mich um Aufnahmen für eine Ausstellung der Aidshilfe. Eine Serie mit Ikarus-Porträts entstand, die durch Texte ergänzt werden sollten, und so schrieb ich seine Gedanken auf. Einige dieser Ikarus-Bilder wurden von der Deutschen AIDS-Hilfe als Plakatmotive verwendet, sie haben bei vielen Menschen bis heute nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Das Erscheinen der Plakate erlebte Ikarus nicht.

Als er an den Folgen einer Chemotherapie litt und keine Hoffnung mehr auf Besserung hatte, wünschte er sich Aktfotos von seinem kranken Körper. Er erzählte, dass Kaposi nicht nur seine Haut, sondern auch die Knochen des Kiefers und Schädels zerstört hatte. In den Worten hörte ich Angst. Doch zeigte er viel Energie, wenn es darum ging, seine Ideen zu verwirklichen. Trotz der körperlichen Schwäche stieg er die Treppen zu meinen Arbeitsraum ins 4. Obergeschoss hinauf und stellte sich der Kamera.

Ein nackter Aidskranker mit Kaposiflecken hat auch Würde

Wie verstörend die Fotografien seines Körpers wirken können, zeigte sich 1995 bei einer Ausstellung zum Thema Aids bei FNAC in Paris, als zwar das Porträtfoto von Ikarus, aber nicht das Aktfoto gezeigt wurde. Dieses wäre entwürdigend. Seltsam, Ikarus wünschte doch, dass die Menschen seinen Körper sehen, weil er als nackter Aidskranker mit Kaposiflecken auch eine Würde hat.
Wie die Fotos sollte ein kleines Video die Erinnerung an ihn erhalten, wenn er nicht mehr lebt. Er schuf ein visuelles Gedicht. Die Zeit, die ihm blieb, war kurz. Mit einer Videokamera lässt sich Ikarus von einem Freund filmen, das Video bearbeitet er selbst. Am Bach entlang geht er auf eine kleine Brücke zu, Schritt für Schritt bewegt er sich auf dem Weg, verschwindet immer wieder für ein, zwei Sekunden aus der Landschaft, erscheint erneut und ist am Ende plötzlich nicht mehr zu sehen, nachdem die Mitte der Brücke erreicht ist. Die Landschaft bleibt, Ikarus existiert nicht mehr.

Von seinen Gedanken, seiner Auffassung, den eigenen Körper zu lieben, auch wenn er nicht den gängigen Vorstellungen entspricht, wurde ich in meiner Arbeit stark beeinflusst. Das Fotobuch Zarte Sachen wäre ohne Ikarus nicht entstanden. Der Schmerz über seinen Tod bleibt.

Auf allen Bildern ist Ikarus ernst, auch bei der Aufnahme, die sein Freund, der Fotograf Jürgen Baldiga von ihm machte. Lächeln sah ich ihn nur einmal, als er vor dem CafePosithiv auf Händen getragen wurde. Jürgen Baldigas sonst ironisch-dramatische Bildgestaltung wirkt bei seinem Ikarus Porträt wie eingefroren vor Trauer.

Jürgen Baldiga notierte am 13.1.1992:

Ikarus gestorben.
Ikarus ist tot.
Ikarus ist verreckt.
Ikarus ist nicht
mehr da.
Kann das nicht
mal aufhören
diese fuck Aids.
Ist doch nur nur
Horror.
Ist kein böser
Traum, sondern
beschissene Realität.
Wozu.
Warum.
Mein Hals ist zu
eng für die Schreie.
Düster der Himmel.
Das Leben ist so
banal.
Wozu ist diese
Scheiße nütze.
Schönheiten werden
zu Monstern.
Abgeschnitten.
Ausgelöscht.
Weggeputzt.
Ikarus
Dein Punkt ist gemacht.

Die Urne wurde auf dem Großgörschen-Friedhof von seinem Lebensgefährten Stefan anonym beigesetzt, so wie es Ikarus im Testament festgelegt hatte.
Am 4. Dezember 1993 starb Jürgen Baldiga 34-jährig an Aids.

 

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3 Kommentare

  1. Danke für diese bewegende Erinnerung an Ikarus.
    Menschen wie Ikarus waren und sind es bis heute, die für die gesellschaftliche Akzeptanz gekämpft haben.
    Ohne sie wären wir nicht da, wo wir jetzt stehen. Gleichzeitig sind wir noch nicht am Ziel. Das Stigma lebt weiter.
    Wir bewegen uns genau wieder in die Zeiten zurück, in den Ikarus gekämpft hat. Ausgrenzung, Diskriminierung und Stigmatisierung werden von bestimmten gesellschaftlichen Teilen wieder vorangetrieben. So braucht es Menschen, die dieser Entwicklung entgegentreten. Ikarus wäre sicherlich einer von ihnen und an unserer Seite.

  2. Als ich erfahren hatte, das mein jüngster Sohn an AIDS erkrankt war habe ich bitterlich geweint. Die Angst mein geliebtes Kind zu Grabe tragen zu müssen. Heute ist die Virulenz dank der Medizin fast unter der nachweisbarkeit. Dieser Kelch ist an mir vorbei. Er hat jetzt die Chance mich zu überleben und das ist gut so. Die jungen sollten nicht vor den alten gehen. Ich empfinde Dankbarkeit.

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