Am 1. Januar sind zwei Gesetze in Kraft getreten, durch die sich für Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung einiges ändert.

Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) war zweifellos eines der größten sozialpolitischen Vorhaben dieser Legislaturperiode. Vor drei Jahren hatte man eigens eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt und Sozialversicherungsträger, Menschen mit Behinderung und deren Interessensverbände an den Beratungen beteiligt. Das Ziel: Wer aufgrund einer wesentlichen Behinderung nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft hat, soll „aus dem bisherigen Fürsorgesystem herausgeführt“ und die Eingliederungshilfe damit „zu einem modernen Teilhaberecht“ weiterentwickelt werden.

So weit das Versprechen des zuständigen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die Hoffnungen und Erwartungen waren entsprechend hoch. Zudem stand die Bundesregierung unter internationalem Druck, denn die bisherigen Regelungen entsprachen nicht den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention. Und das neue, über 100 Seiten starke Gesetzeswerk?

Schlimmeres konnte verhindert werden

Ministerin Nahles preist das BTHG als Umsetzung des UN-Abkommens und wirbt dafür unter dem Motto „Weniger behindern – mehr möglich machen“. Das Gegenteil sei aber leider der Fall, sagen Kritiker_innen. „Mit diesem Gesetz wird eine Reihe behinderter Menschen mehr behindert und ihnen weniger möglich gemacht“, äußerten sich enttäuscht die Sprecher_innen der Interessensvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V.

Auch das Resümee von Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbandes, fällt alles andere als enthusiastisch aus: „Das Bundesteilhabegesetz ist noch immer kein gutes Gesetz, aber wir sind erleichtert, dass viele Regelungen, die die Situation von Menschen mit Behinderung verschlechtert hätten, in letzter Minute abgewendet werden konnten.“

„Viele“ sind aber leider nicht alle, und so bleiben Sorgen darüber, was das Gesetz in der Praxis wirklich für Menschen mit Behinderung bedeutet. Eine Befürchtung zum Beispiel ist, dass bei Pflegebedürftigen mehr als bisher die Kosten ausschlaggebend dafür sein werden, wo jemand untergebracht wird beziehungsweise leben kann. Menschen würden dann – allein aus Kostengründen – womöglich früher als eigentlich notwendig und gewünscht in Heimen unterbracht.

Und dabei sollte doch durch das neue Bundesteilhabegesetz Menschen mit Behinderung mehr Selbständigkeit zugebilligt werden. Diese sollten selbst entscheiden können, wo und wie sie wohnen möchten: ob in einer betreuten Einrichtung oder zu Hause. Ob es aber tatsächlich dazu kommt, dass einige durch das neue Gesetz  bislang bewilligte Leistungen verlieren, bleibt noch abzuwarten.

Freibeträge steigen deutlich an

Klare Verbesserungen gibt es im neuen Teilhabegesetz bei den Freibeträgen auf Erwerbseinkommen für Menschen in Eingliederungshilfe. Diese sind nun um bis zu 260 Euro monatlich gestiegen. Außerdem darf man jetzt mehr Erspartes behalten: Waren es bislang lediglich 2.600 Euro, sind es nunmehr 25.000 Euro und ab 2020 sogar 50.000 Euro. Die Einkommen und Privatvermögen von Partner_innen werden nicht mehr in die Berechnung mit einbezogen. Klingt erst mal toll, doch für eine private Altersvorsorge reichen auch diese Beträge nicht aus, kritisieren Behindertenverbände.

Zudem gelten diese Entlastungen nur für Menschen, die Eingliederungshilfe beziehen, nicht jedoch für Schwerstpflegebedürftige. Ohnehin werden Pflegebedürftige es nunmehr sehr schwer haben, zusätzlich „Leistungen zur Teilhabe“ zu bekommen. Das vorliegende Gesetz kann also aus Sicht der Menschen mit Behinderung nur ein erster Schritt sein. Der Paritätische appelliert deshalb an die Politik, das Bundesteilhabgesetz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention in der kommenden Legislaturperiode umfassend weiterzuentwickeln.

Nun muss man schauen, welche Folgen die über 100 Seiten fassenden und im Detail komplexen Neuregelungen für Menschen mit Behinderung haben. Zumal vieles noch die einzelnen Bundesländer entscheiden dürfen und es damit leider keine bundeseinheitliche Sicherheit gibt, sodass Menschen unabhängig von ihrem Wohnort dieselben Leistungen erhalten.

Aus Pflegestufen werden Pflegegrade

Noch längere Debatten und Vorarbeiten als zum Teilhabegesetz gingen der dringend erwarteten Pflegereform voraus. Mit ihr wurde die vor 21 Jahren eingeführte Pflegeversicherung auf eine neue Basis gestellt. Galten bislang lediglich Menschen mit körperlichen Gebrechen als pflegebedürftig, werden durch das Pflegestärkungsgesetz II/III (PSG II/III) nun auch geistige Probleme wie Demenz berücksichtigt.

Und während bisher der Zeitbedarf bei Hilfen beim Waschen, Essen und Toilettengang im Mittelpunkt der Begutachtung standen, wird bei der Einstufung der Pflegebedürftigkeit nun auch danach gefragt, wie selbständig jemand diese Dinge erledigen kann und ob die Betroffenen darüber hinaus noch ihren weiteren Alltag bewältigen können. Die ständige Minutenzählerei soll somit ein Ende haben, der notwendige Pflegebedarf ließ sich damit ohnehin kaum realistisch erfassen.

Entscheidend ist nun der Grad der Selbstständigkeit in allen pflegerelevanten Bereichen. Die neue Einteilung unterscheidet 5 Pflegegrade. Um den Pflegegrad zu ermitteln, werden sechs Lebensbereiche begutachtet und prozentual unterschiedlich hoch in die Gesamtbewertung eingerechnet:

  1. Mobilität: (körperliche Beweglichkeit, zum Beispiel morgens aufstehen vom Bett und ins Badezimmer gehen, Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs, Treppensteigen) – 10 Prozent
  2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten (verstehen und reden: zum Beispiel Orientierung über Ort und Zeit, Sachverhalte begreifen, erkennen von Risiken, andere Menschen im Gespräch verstehen)
  3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen (zum Beispiel Unruhe in der Nacht oder Ängste und Aggressionen, die für die Person selbst und andere belastend sind, Abwehr pflegerischer Maßnahmen) – 15 Prozent zusammen mit Lebensbereich 2
  4. Selbstversorgung (zum Beispiel sich selbstständig waschen und ankleiden, essen und trinken, selbstständige Benutzung der Toilette) – 40 Prozent
  5. Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen (zum Beispiel die Fähigkeit haben, die Medikamente selbst einnehmen, die Blutzuckermessung selbst durchführen und deuten zu können oder gut mit einer Prothese oder dem Rollator zurechtzukommen sowie den Arzt selbständig aufsuchen zu können) – 20 Prozent
  6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte (zum Beispiel die Fähigkeit haben, den Tagesablauf selbstständig zu gestalten, mit anderen Menschen in direkten Kontakt zu treten oder die Skatrunde ohne Hilfe zu besuchen) – 15 Prozent

Die zusätzlichen Module 7 und 8, außerhäusliche Aktivitäten und Haushaltsführung, runden das Begutachtungsverfahren ab, fließen aber nicht in die Berechnung des Pflegegrades ein, weil die Selbstständigkeit in diesen Bereichen schon in den anderen Kriterien abgebildet ist. Die Auswertung dieser Module soll jedoch wichtige Hinweise für die Versorgungs- und Pflegeplanung geben.

Dieses Verfahren gilt für alle Neuanträge, die ab dem 1. Januar 2017 gestellt werden. Wer seine Unterlagen bis Ende des letzten Jahres eingereicht hatte, wird noch nach dem alten Schema der Pflegestufen begutachtet – und wie alle bisherigen Leistungsempfänger_innen automatisch in den nächsthöheren Pflegegrad gehoben.

Mit diesem unbürokratischen Verfahren wollen die Verantwortlichen vermeiden, die fast 2,9 Millionen Pflegepatient_innen neu begutachten zu müssen. Zugleich wird damit das politische Versprechen eingelöst, dass niemand, der bereits Leistungen von der Pflegeversicherung bezieht, durch die Reform schlechter gestellt wird. Durch das neue Bewertungssystem haben zudem Menschen mit leichten Einschränkungen, etwa beim Stehen und Gehen, nun erstmals gute Chancen, einen Pflegegrad zugesprochen zu bekommen.

Einheitlicher Eigenanteil bei vollstationärer Pflege

Künftig bleibt der zu zahlende Eigenanteil im Bereich der vollstationären Pflege konstant, auch wenn Bewohner_innen wegen höherer Bedürftigkeit höher eingestuft werden. Bisher drohte bei jeder Einstufung in eine höhere Pflegestufe auch eine höhere Zuzahlung. Weiterhin ändern kann sich der Eigenanteil an den sogenannten Hotelkosten, also an den Kosten für Unterkunft und Verpflegung.

Wie sich die neuen Bewertungskriterien in der Praxis tatsächlich auswirken werden und ob sie den Pflegebedarf realistischer als bisher abzubilden vermögen, wird sich noch zeigen, genauso, inwieweit sich die bislang lediglich in Modellregionen erprobten Begutachtungsverfahren in der Fläche zufriedenstellend umsetzen lassen.

Im Zweifelsfall müssen die politisch Verantwortlichen bis spätestens 2019 zu Nachbesserungen gedrängt werden. Dann nämlich läuft die Übergangsregelung aus und alle noch unter dem alten System eingestuften Hilfsbedürftigen werden neu begutachtet.

Silke Eggers, Referentin für Soziale Sicherung und Versorgung bei der Deutschen AIDS-Hilfe, empfiehlt, neue Bescheide und Ablehnungen auf jeden Fall von fachlich versierten Stellen prüfen zu lassen. Aidshilfen vermitteln hier gerne Kontakte. Gute Ansprechpartner sind zudem Pflegestützpunkte und Wohlfahrtsverbände.

Links zu ausführlichen Informationen zum Pflegestärkungsgesetz, zur Pflegebegutachtung und zum Bundesteilhabegesetz

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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