Als die Botschaft vom Schutz durch die HIV-Therapie endlich laufen lernte
„Absender“ waren die EKAF, die Eidgenössische Kommission für Aidsfragen (seit 2012 Eidgenössische Kommission für sexuelle Gesundheit) und die Fachkommission Klinik und Therapie des Bundesamtes für Gesundheit (BAG).
Das international als „Swiss Statement“ bekannte Papier hielt fest, was behandelnde Ärzt_innen und auch viele Menschen mit HIV schon länger wussten und sagten: Wenn sich HIV im Körper aufgrund von HIV-Medikamenten nicht mehr vermehrt (was sich daran zeigt, dass die HIV-Menge im Blut unter der Nachweisgrenze der Tests liegt), wird HIV sexuell nicht übertragen.
Swiss Statement: Gegen Angst, Stigmatisierung und Kriminalisierung von Menschen mit HIV
Mit dem Statement wurde erstmals von offizieller Stelle die Botschaft vom Schutz durch Therapie (englisch: Treatment as Prevention) öffentlich gemacht. Ziel war es, Menschen mit HIV und ihren Partner_innen die Angst vor Übertragungen zu nehmen, ihnen zu sagen, dass sie auf natürlichem Weg Eltern werden können (ohne „Spermawäsche“ oder künstliche Befruchtung), und auch die Rechtsprechung zu beeinflussen, damit Menschen mit HIV unter wirksamer Therapie nicht mehr wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung verurteilt werden.
Wir haben mit Prof. Dr. Pietro Vernazza gesprochen, Chefarzt der Klinik für Infektiologie am Klinikum St. Gallen, damals Präsident der EKAF und Erstautor des Swiss Statement.
Professor Vernazza, wie fühlt man sich, wenn man weiß, dass man Geschichte mitgeschrieben hat? Sie sind doch hoffentlich auch nach zehn Jahren stolz auf diese Leistung?
Stolz ist nicht das richtige Wort, es ist vielleicht eher Genugtuung. Auch wenn es damals sehr viel Kritik für das Statement gab, war es trotzdem richtig. Ich habe das Statement damals bei sehr vielen Gelegenheiten verteidigt und hatte bei diesen Diskussionen nie das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, im Gegenteil.
Es hat lange gedauert, bis das Swiss Statement akzeptiert wurde
Bedauerlich finde ich lediglich, dass es so lange gedauert hat, bis die HIV-Community, die Regierungen und die zuständigen Personen im Gesundheitswesen den Kern des „Swiss Statements“ akzeptiert haben. Dies wiederum bestätigt dessen Notwendigkeit.
Kritisiert wurde unter anderem, dass das Swiss Statement, konkret: der wirksame Schutz durch Therapie, nicht ausreichend belegt sei.
War diese Skepsis damals denn angebracht?
Den Vorwurf der fehlenden Evidenz habe ich nie nachvollziehen können. Denn die Evidenz lag uns schon Jahre vor, jedoch kein öffentliches Statement dazu. Stattdessen herrschte immer noch die Haltung, dass diese Menschen bestraft werden müssten, dass sie für ihre Infektion selbst verantwortlich sind und deshalb eben darunter zu leiden hätten. Ich kann dies nur vermuten, aber meines Erachtens spielten solche moralischen Beweggründe eine große Rolle bei der Ablehnung des Statements.
Moralisierende Haltungen gegenüber Menschen mit HIV
Bei anderen Infektionskrankheiten waren wir nie so resolut in unseren Haltungen, zum Beispiel bei Hepatitis C. Wir haben immer gesagt: Das Risiko, dass du dich beim HCV-positiven Partner mit ungeschütztem Vaginalsex anstecken kannst, ist so gering, dass wir keine Kondome empfehlen. Natürlich wussten wir von Einzelfällen, die in der Literatur beschrieben wurden. Die „Entwarnung“ war bei Hepatitis dennoch okay.
„Es ist schlimm, dass wir bei HIV-Infizierten mit Angst gearbeitet haben“
Doch bei HIV machten wir unseren Patienten nur immer Angst, es könnte selbst unter Therapie ohne Kondome etwas passieren, obwohl wir keinen einzigen publizierten Fall einer Übertragung kannten. Ohne einen minimalen Hinweis auf ein existierendes Risiko haben wir Angst verbreitet. Es ist beschämend, dass es fast zehn Jahre gedauert hat, bis auch die CDC einsahen, dass diese Angst nicht berechtigt war.
Vonseiten der HIV-Community wurden auch einzelne Formulierungen des Statements moniert. Zum Beispiel, dass die Relevanz des Statements für feste Paarbeziehungen hervorgehoben wurde.
Das wurde meiner Erinnerung nach vor allem in Deutschland diskutiert. Man kann natürlich immer Argumente finden, warum man etwas nicht gut findet. Diese Leute aber haben das Statement offenbar nicht ganz verstanden. Wir hatten einfach darauf hingewiesen, dass kaum jemand die korrekte Therapieeinnahme einer anderen Person kennen kann, und wenn, dann am ehesten der feste Partner. Die Gültigkeit der Aussage haben wir aber nicht auf feste Partner reduziert.
„Wir hätten viel deutlicher auf die fehlende Evidenz für eine Kondomempfehlung unter Therapie hinweise sollen“
Einen Fehler unserseits sehe ich ganz woanders. Wir haben im Statement zwar formuliert, dass es keine Evidenz dafür gibt, dass es unter Therapie zu einer Infektion kommen kann. Wir hätten aber vielleicht viel deutlicher auf die fehlende Evidenz für eine Kondomempfehlung unter Therapie hinweisen sollen.
Das Swiss Statement hat Patient_innen mit HIV befreit
Die Community, die Aids-Organisationen und die relevanten Institutionen hätten meines Erachtens geschlossen hinter dem Statement stehen können. In der Schweiz hat das – bis auf wenige Einzelstimmen – auch funktioniert, und das Statement hat gewirkt. Unsere Patienten waren befreit: Sie konnten Sex ohne Kondom haben, und das war für sie keine neue, aber eine wichtige Erkenntnis. Und sie durften uns auch davon erzählen, dass sie jetzt keine Kondome mehr gebrauchen.
Heftige Reaktionen gab es auch vonseiten der Gesundheitsministerien einiger europäischer Nachbarn. Hatten Sie die Haltung der gesundheitspolitisch Verantwortlichen dort falsch eingeschätzt oder mehr Konsens vorausgesetzt?
Wir hatten gar nicht gedacht, dass das Statement so stark auch im Ausland diskutiert werden würde. Im Nachhinein kann man immer sagen, was man hätte anders oder besser machen können.
Einige Wochen nach der Veröffentlichung waren wir beim Direktor des Schweizer Bundesamts für Gesundheit und hatten überaschenderweise eine ausgezeichnete Diskussion. Er war von den Argumenten, mit denen wir das Statement verteidigen, durchwegs überzeugt.
„Wir hatten nicht gedacht, dass das Statement so stark auch im Ausland diskutiert werden würde“
Am Gespräch beteiligt war damals auch ein Bundesbeamter, zu dessen Aufgabe es gehörte, sich in Gesundheitsfragen mit anderen Ländern auszutauschen. Er berichtete von seinen Problemen auf internationaler Ebene, und diese hatten wir unterschätzt. [Anm. der Redaktion: Aus Deutschland kam z. B. Kritik, die Veröffentlichung könne „fälschlich als Entwarnung verstanden“ werden. Die „allgemeine Gefährdungslage“ sei „grundsätzlich unverändert und ebenso die Notwendigkeit, sich bei sexuellen Risiken mit Kondomen gegen HIV zu schützen“. Auch bezögen sich die zugrunde gelegten Studien auf die heterosexuelle Übertragung, in Deutschland seien die meisten HIV-infizierten Personen jedoch Männer, die Sex mit Männern haben.]
Können Sie sich die kritischen Reaktionen dennoch erklären?
Es gab damals einfach Leute, die krampfhaft nach Argumenten gegen das Statement gesucht haben. Was wir im Swiss Statement mitgeteilt haben, durfte ihrer Ansicht nach einfach nicht sein.
Moralische Reaktionen und der Wunsch nach Bestrafung
Verstanden habe ich deren Motivation bis heute nicht. Es hatte etwas Bestrafendes und auch Moralisches, und es kam meiner Beobachtung nach übrigens auch aus Teilen der HIV-Community.
Ich hatte den Eindruck, dass hier Menschen, die zum Teil ihr halbes Leben mit einer eingeschränkten Sexualität leben mussten, nun Schwierigkeiten hatten, diese Veränderung zu akzeptieren. Auch, weil anderen diese Einschränkung nun erspart blieb.
Von heute aus betrachtet fragt man sich natürlich, weshalb gerade Schweizer Aids-Expert_innen den Mut hatten, ein solches Papier zu veröffentlichen. Waren Sie einfach mutiger, progressiver, oder lag es an einzelnen Personen?
Ich würde die Frage vielmehr umgekehrt stellen: Weshalb hatten nicht längst andere Länder diese Erkenntnisse öffentlich gemacht? Ich war damals aktiv im Kinderwunschprogramm und habe dabei Menschen mit HIV gesehen, die einen riesigen Aufwand auf sich nahmen, um Kinder zu bekommen, ohne dabei das Virus zu übertragen – und das, obwohl sie kein Übertragungsrisiko hatten.
„Für uns war es eine ethische Verpflichtung, das Statement auf den Weg zu bringen“
Letzten Endes ist das Statement entstanden, weil ich aufgrund meiner Erfahrungen im Kinderwunschprojekt sah, dass Menschen mit HIV falsche Informationen haben. Die Fachkommission hat die Entwicklung massiv unterstützt und Roger Staub, der damals beim BAG für den Bereich zuständig war, hat uns auch darin bestärkt, dass die Kommunikation über unser Wissen zu den Risiken ethisch notwendig war. Dieser Prozess dauerte fast eineinhalb Jahre. Für uns war es letztendlich eine ethische Verpflichtung, das Statement auf den Weg zu bringen.
Die Veröffentlichung war also nicht mutig, es war vielmehr ethisch einfach nicht länger vertretbar, die Menschen nicht über das aufzuklären, was wir wussten: dass sie aufgrund der Viruslast unter der Nachweisgrenze nicht mehr infektiös sind.
Die entscheidenden Institutionen trugen das Swiss Statement mit
Welche Rolle spielten die Community-Aktivist_innen bei der Veröffentlichung? Fühlten Sie sich von ihnen unter Druck gesetzt, endlich zu agieren?
Gedrängt fühlten wir uns sicherlich nicht. Die vorbereitende Fachgruppe war sich ja sehr früh schon einig, dass wir etwas in der Sache unternehmen müssen. In der Kommission waren Vertreter der Community, die uns aktiv unterstützt haben.
Das heißt, die Kommissionsmitglieder mussten nicht erst von der Notwendigkeit dieser Veröffentlichung überzeugt werden?
Nein, wir haben gemeinsam Ideen zum Statement gesammelt, ausgearbeitet wurde es in der Fachgruppe. Dort haben wir die Grundlagen erarbeitet und dann die Informationen wieder in die große Kommission hineingetragen, diskutiert und schließlich zur Veröffentlichung gebracht. Ich konnte dabei auch meine Erfahrungen aus der Kinderwunschklinik einbringen und habe die wissenschaftlichen Daten zusammengestellt.
Nur durch Einigkeit konnten die Informationen in Praxen und Beratungsstellen getragen werden
Die Aidshilfe war bei der Ausformulierung des Statements als „Mittäter“ ebenso beteiligt wie die Sektion HIV/Aids des Bundesamtes. Damit war gewährleistet, dass die entscheidenden Institutionen in der Schweiz das Statement mittragen. Dies war auch notwendig, denn wir wussten, dass nur durch eine Einheit unter den Institutionen die Informationen auch wirklich konsequent in die Praxen und Beratungsstellen getragen werden konnten.
Natürlich gab es auch in der Schweiz Individuen, die mit den gleichen Argumenten wie im Ausland das Statement kritisierten, aber das waren Einzelstimmen.
Von Kritikerseite wurde befürchtet, dass das Swiss Statement zu einer „neuen Sorglosigkeit“ und damit zu mehr Neuinfektionen führen könnte.
Wir waren uns sicher, dass dies nicht passieren wird, und wir behielten letztlich ja auch Recht. Das hatten zuvor auch schon die Daten aus San Francisco gezeigt, wo die HIV-Inzidenz zurück-, die STI-Inzidenz hingegen hochgegangen war. Die amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) haben erst vor kurzem U=U anerkannt [Anm. der Redaktion: undetectable = untransmittable, nicht nachweisbar = nicht übertragbar], und auch die Deutsche AIDS-Hilfe hat lange gebraucht, um das so zu formulieren.
Die Kritiker wurden widerlegt
Alle Argumente, die gegen das Swiss Statement vorgebracht worden waren, haben sich nicht bewahrheitet. Irgendwann ist es dann auch wirklich mal genug, und man muss die Tatschen einfach anerkennen. Dass es aber so lange gedauert hat, ist für mich immer noch unverständlich.
Mein US-Kollege Mike Cohen hatte beim Internationalen AIDS-Kongress 2011 in Rom seine HPTN 052 HIV Prevention Trials Network-Study präsentiert. Er war extrem nervös, dass er ein falsches Wort sagen könnte. Er sprach von einer Reduktion der Ansteckungsrate um 96 Prozent. Das war irreführend, und er wusste es genau. Aber das CDC wollte nicht, dass er deutlich ausspricht, was seine Studie ergeben hatte, nämlich dass es unter vollständiger Virussuppression [Anm. der Redaktion: vollständige Unterdrückung der Virusvermehrung] keine einzige Infektion gegeben hatte.
Als wir das Statement veröffentlichten, hieß es immer: Es gibt keine ausreichenden Daten, die die Aussagen belegen. Und als die Daten 2011 dann vorlagen, war es auch nicht recht.
Beim Internationalen AIDS-Kongress in Mexiko-City 2008 haben Sie bei der Präsentation auch die Bedeutung des Swiss Statement für die Entkriminalisierung von HIV betont. Hat das Papier in der Schweiz tatsächlich auch die gewünschte Wirkung gezeigt?
Die Schweiz hatte damals, zumindest im europäischen Kontext, die höchste Verurteilungsrate wegen des Versuchs der Übertragung einer ansteckenden Krankheit. Nach 2008 wurde niemand mehr aufgrund dieses Straftatbestands verurteilt, bis auf einen Fall, und dieses Urteil wurde dann auch vom Gericht wieder revidiert – unter Berufung auf das Swiss Statement. Denn: Wenn es kein Übertragungsrisiko gibt, dann gibt es auch keinen Straftatbestand.
Vielen Dank für das Gespräch!
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