Trotz Verfolgung, Terror und Krieg wird 2016 ein Mr. Gay Syria gewählt. Ein Dokumentarfilm erzählt nun die beeindruckende Geschichte – und schildert das Schicksal von syrischen LGBT-Geflüchteten

Zugegeben, man hätte vielleicht etwas mehr Glamour erwartet. Schließlich ist das eine nationale Entscheidung zum Wettbewerb um den Titel Mr. Gay World.

Das Bemerkenswerteste ist, dass der Wettbewerb überhaupt stattfindet

Doch mag der Austragungsort auch nur eine kleine, etwas düstere Location sein und sich gerade mal eine Handvoll Männer überhaupt zur Wahl stellen: Der Enthusiasmus auf der kleinen Bühne und die Begeisterung bei den wenigen Dutzend Zuschauern ist überwältigend.

Das Bemerkenswerteste aber ist, dass die Wahl zum Mr. Gay Syria überhaupt stattfindet – wenn auch nicht im eigenen Land, sondern im Exil.

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Teilnehmer der Wahl zum „Mr. Gay Syria“ im Exil in Istanbul.

Mr. Gay Syria: Ein Zeichen für Sichtbarkeit und gegen die Angst

Der in Berlin lebende Syrer Mahmoud Hassino hat das Event in Istanbul ins Leben gerufen und die dort lebenden schwulen Landsleute zur Teilnahme aufgerufen: queere Geflüchtete, die auf ein Visum für Westeuropa hoffen.

Die auf ein Leben an einem Ort hoffen, an dem sie nicht mehr fürchten müssen. Die darauf hoffen, nicht mehr wegen ihrer Homosexualität verfolgt oder, schlimmer noch, von den Terrormilizen des sogenannten Islamischen Staates ermordet zu werden.

Die türkische Dokumentarfilmerin Ayse Toprak hat die Vorbereitungen zu diesem in vielerlei Hinsicht besonderen Contest mit ihrer Kamera festgehalten und die Kandidaten über mehrere Monate hinweg begleitet.

Ein intimer, berührender Einblick

Herausgekommen ist mehr als nur ein Film über ein auf den ersten Blick vielleicht etwas schräges Szeneevent.

Mr. Gay Syria gibt vielmehr einen intimen, über Strecken sehr berührenden Einblick in Schicksale schwuler Geflüchteter.

Die unterschiedlichen Lebensgeschichten, die sich während der Dreharbeiten zum Teil dramatisch weiterentwickeln, fügen sich dabei zu einem komplexen Bild vom Leben queerer Menschen in einem muslimisch geprägten Land, von ihrer oft ausweglosen Situation und ihrer Sehnsucht nach Freiheit und Sichtbarkeit.

Hussein lebt in Istanbul offen schwul – seine Familie in Syrien weiß noch nichts

Hussein zum Beispiel. Der 24-jährige Frisur kann in Istanbul zum ersten Mal sein Schwulsein wirklich leben. An den Wochenenden aber fährt er an die syrische Grenze zu seiner Ehefrau und der kleinen Tochter. Noch hat er nicht gewagt, seiner Familie zu offenbaren, was er so lange vor ihnen verborgen und sogar vor sich selbst verleugnet hat.

Mr. Gay Syrie nach darf nicht nach Malta einreisen

Omar, ein junger, stets gut gelaunter Koch, hat es da besser getroffen, schließlich hat er mit Nadar einen geliebten Mann an seiner Seite. Doch während Nadar nach Norwegen übersiedeln darf, muss Omar weiterhin in Istanbul ausharren. Ihre Beziehung führen sie nun via Skype weiter.

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Der Film schildert auch das Schicksal von syrischen LGBT-Geflüchteten im Exil.

Auch Hussein wartet verzweifelt auf ein Visum. Er darf nun zwar stolz den Titel des frisch gekürten Mr. Gay Syria tragen, aber Malta lässt ihn zum internationalen Finale nicht ins Land reisen.

Und Mahmound Hassino, der sich von der Mr.-Gay-World-Wahl in Malta internationale Aufmerksamkeit für das Schicksal von LGBT-Geflüchteten erhoffte, muss feststellen: Niemand scheint sich dort wirklich dafür zu interessieren, am wenigsten die Mitbewerber und Veranstalters des Contests.

Der Film weckt endlich Interesse für das Schicksal von LGBT-Geflüchteten

Doch was Mahmoud, der bei der Berliner Schwulenberatung unter anderem in der Unterkunft für queere Geflüchtete arbeitet, in Malta nicht erreichen kann, gelingt mit diesem sehenswerten Film.

Nach zahlreichen Festivaleinladungen und mittlerweile einem halben Dutzend Preisen – unter anderem von den Filmfestivals von Chicago, Sarajewo und Turin – kommt Mr. Gay Syria nun auch bei uns in die Kinos.

Von wegen deprimierend…

Der Film ist übrigens keineswegs deprimierend, auch wenn es viel um Hoffen und Bangen, um Angst und Verzweiflung sowie um die Notwendigkeit zur Verstellung geht. Verstellung ist auch in der Türkei mehr denn je (wieder) notwendig, wächst doch auch dort die Homophobie bis hin zur körperlichen Gewalt. Die CSD-Demo, an der auch einige der Protagonisten teilnehmen, wird von der Polizei rabiat und mit Tränengas aufgelöst.

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Szenenbild aus „Mr. Gay Syria“

„Vergessen wir nicht unseren Schmerz. So bleiben wir stark!“

Die Regisseurin Ayse Toprak fängt aber auch die befreite Ausgelassenheit bei der Wahl zum Mr. Gay Syria ein, die zu Tränen rührende Zustimmung, die es nach Husseins Performance dort gibt.

Er, ein Friseur, der eigentlich hatte Schauspieler werden wollen, hat statt der üblichen Tanznummer einen Monolog geschrieben und einstudiert: Sätze, die er seiner Mutter noch nicht hat sagen können, über sich und seine Empfindungen und die Angst, sich in Syrien als Schwuler zu outen.

„Vergessen wir nicht unseren Schmerz. So bleiben wir stark“, ruft Hussein bei der Preisverleihung den anderen queeren Geflüchteten im Saal zu.

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Die Regisseurin Ayse Toprak fängt auch diese befreite Ausgelassenheit bei der Mr. Gay-Syria-Wahl ein.

Mehr als nur ein Happy End …

Omar wiederum vermag die 3000 Kilometer, die zwischen ihm und seinem in Oslo lebenden Liebsten liegen, durchaus zu vergessen. Den Geburtstag seines Lebensgefährten feiert er via Videochat – eine zu Herzen gehende Szene.

Zuletzt werden die Kinozuschauer_innen sogar Augenzeug_innen, wie Omar Nadar in Oslo wieder in die Arme schließen kann – dank eines Flüchtlings-Umsiedlungsprogramms der Vereinten Nationen.

Und es gibt noch eine weitere gute Nachricht. Sie ist erst wenige Wochen alt und deshalb auch noch nicht im Film erwähnt: Husseins Antrag auf ein EU-Visum ist nach fünf Jahren des Wartens endlich bewilligt worden.

Mr. Gay Syria. Deutschland, Türkei, Frankreich 2017. Regie und Drehbuch: Ayse Toprak; 88 Minuten
Kinostart: 6.9.2018, Verleih: Coin Film

Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=7D8x4ZSJQUA

Interview mit Mahmoud Hassino auf siegessaeule.de (31.08.2018)

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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