Die Gesundheitsversorgung für Gefangene ist häufig eingeschränkt. Im Gefängnis von Montpellier läuft es anders: Hier haben alle Zugang zur Hepatitis-C-Behandlung, aber auch zur Prävention. Wir haben mit dem Gefängnisarzt Dr. Fadi Meroueh gesprochen

Von Ludmila Rougeot und Holger Sweers

Monsieur Meroueh, könnten Sie zunächst etwas zum Gefängnis von Montpellier erzählen? Wie ist die Situation dort?

Das Gefängnis in Villeneuve-lès-Maguelone ist ein Untersuchungsgefängnis – die Gefangenen warten auf ihr Verfahren oder ein Urteil oder müssen maximal noch zwei Jahre absitzen.

Wir haben nur männliche Gefangene und 20 Plätze für männliche Minderjährige. Für erwachsene Männer hatten wir im Januar 2019 insgesamt 599 Plätze in 533 Zellen. Die tatsächliche Belegung lag aber bei 825 Personen.

Unser Gesundheitsteam besteht aus – umgerechnet auf Vollzeitstellen – 2,7 Allgemeinärzt_innen, 2 Psychiater_innen, 3 Psycholog_innen, 8 Krankenpflegekräften, 1 Zahnärzt_in, 1 Pharmazeut_in, 3 pharmazeutisch-technischen Assistent_innen, 0,5 Radiologie-Assistent_in und 0,2 Physiotherapeut_in.

Jeden Tag kommen etwa 200 Patient_innen zu uns.

Sie haben einmal mit Blick auf die medizinische Versorgung gesagt: Das Gefängnis soll das Recht durchsetzen und es nicht brechen. Was meinen Sie damit?

Ich meine damit, dass für Frankreich wie für alle UN-Mitgliedsstaaten die Nelson-Mandela-Regeln gelten. Sie besagen unter anderem, dass für Gefangene die gleichen Standards der Gesundheitsversorgung gelten wie außerhalb der Gefängnismauern.

Für Gefangenen müssen die gleichen Standards der Gesundheitsversorgung gelten wie draußen

Dies ist aber nicht der Fall. Nehmen wir zum Beispiel die Vergabe steriler Spritzen zum Schutz vor Hepatitis und HIV beim Drogenkonsum – in Europa gibt’s das nur in wenigen Gefängnissen.

Das heißt: Gefangene können sich nicht schützen, man nimmt Infektionen in Kauf.

Die Haft sollte aber nur ein Entzug der Freiheit sein und von nichts anderem.

Für mich bleibt ein Mensch im Gefängnis ein Mensch, und ich muss ihn wie alle anderen behandeln.

In Montpellier wird allen Inhaftierten ein Hepatitis-C-Test angeboten, und die meisten nehmen das Angebot an – insgesamt um die 70 Prozent und sogar bis zu 95 Prozent der intravenös Drogen Gebrauchenden. Wie schaffen Sie das? Erzählen Sie den Gefangenen, warum der Test wichtig ist und dass die Hepatitis C heute fast immer heilbar ist?

Ja, wir sagen immer wieder, wie wichtig die Tests sind. Alle Ärzt_innen, Psycholog_innen und Krankenpflegekräfte betonen das.

Wenn eine Person das von drei Ärzt_innen und noch von anderen hört, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie das Angebot annimmt.

Wir betonen auch, dass wir die Tests durchführen, um danach zu behandeln, und nicht aus kosmetischen Gründen.

Was verstehen Sie unter kosmetischen Gründen?

Damit meine ich Tests, um Daten für Statistiken zu sammeln, ohne danach medizinische Versorgung anzubieten

Wir betonen, dass wir bei einer festgestellten Infektion auch behandeln.

Wir teilen die Ergebnisse auch im persönlichen Gespräch mit, ob sie nun positiv sind, das heißt eine Infektion nachweisen, oder negativ.

Die Haft darf nur die Freiheit entziehen, nichts anderes

Sonst ist es üblich, dass man einfach nichts hört, wenn alles in Ordnung ist. Hier sprechen wir systematisch mit allen Getesteten.

Sie verweisen darauf, dass die WHO Hepatitis C bis 2030 eliminieren will und Frankreich sogar schon bis 2025. Halten Sie das denn für realistisch?

Ja, das ist möglich, wenn wir erstens die Mittel dafür investieren und zweitens, wenn wir niemanden vergessen.

Das heißt, wir müssen auch Obdachlose, Geflüchtete, Sexarbeiter_innen oder Gefangene testen, behandeln und mit Präventionsangeboten versorgen.

Ist denn überhaupt genug Geld vorhanden, um alle Gefangenen mit Hepatitis C zu behandeln? Die Medikamente sind ja teuer.

Ja, in Frankreich ist genug Geld da, vorausgesetzt, es wird richtig eingesetzt.

Dies müssen wir tun:

Erstens müssen wir eine Kommunikationskampagne durchführen, um die Gefahren von Hepatitis C zu erklären. Sonst verstehen die Leute nicht, warum ein Test wichtig ist. Tuberkulose zum Beispiel kennen die Leute, aber Hepatitis C sagt ihnen nichts.

Zweitens muss man Tests durchführen.

Wir müssen zu den besonders bedrohten und betroffenen Gruppen gehen

Und drittens müssen wir zu den besonders bedrohten und betroffenen Gruppen gehen und dürfen nicht erwarten, dass sie zu uns kommen. Oft sind es Menschen, die versteckt leben, weil sie stigmatisiert werden.

Das trifft zum Beispiel auf manche Sexarbeiter_innen zu. Wir müssen aber auch zu den Obdachlosen, Migrant_innen und Gefangenen gehen, um ihnen Tests und Behandlung anzubieten.

Noch mal zurück zum Geld: Seit 2015 können die Kosten der Behandlung mit den modernen Hepatitis-C-Medikamenten auch für Gefangene von der Sozialversicherung übernommen werden. Sind denn alle Gefangenen in der Sozialversicherung? Wie sieht es zum Beispiel mit Menschen ohne Papiere aus?

In Frankreich werden alle Menschen, die in Haft kommen, von Ärzt_innen, Krankenpflegekräften und Psycholog_innen behandelt, auch Sans-Papiers, das heißt Menschen ohne Aufenthaltsberechtigung. Das ist nicht in allen Ländern der Fall.

Wie sieht so ein Hepatitis-C-Test praktisch aus?

Normalerweise wird für einen Hepatitis-C-Test Blut aus einer Vene abgenommen.

Viele Gefangene machen aber lieber einen Test mit wenigen Blutstropfen aus der Fingerkuppe.

Erstens haben wir es nämlich häufig mit unbrauchbaren Venen zu tun. Wenn eine Person sich regelmäßig Drogen injiziert, findet man am Arm keine Venen mehr. Man müsste dann zum Beispiel welche am Hals suchen, was kompliziert sein kann.

Zweitens haben viele Gefangene, vor allem junge Menschen, Angst davor, im geschlossenen System Gefängnis Krankheiten abzubekommen. Auch für sie ist ein Test mit Blut aus der Fingerkuppe dann besser.

Können alle Gefängnisärzt_innen die Hepatitis-C-Behandlung verschreiben? Und machen das auch alle? Oder gibt es Vorbehalte, zum Beispiel, dass Gefangene nicht in der Lage wären, die Medikamente regelmäßig zu nehmen, oder dass sie sich sowieso wieder anstecken?

Heute können noch nicht alle Allgemeinärzt_innen eine Behandlung verschreiben. Das wäre aber der notwendige nächste Schritt.

Und es stimmt: Viele haben auch Vorbehalte, dass Gefangene nicht in der Lage wären, die Medikamente regelmäßig zu nehmen oder dass sie sich sowieso wieder anstecken.

Manche Ärzt_innen glauben auch, dass die Haft nicht lang genug ist, um die Gefangenen währenddessen zu behandeln.

Die Vergabe steriler Spritzen und die Behandlung von Gefangenen ist eine Frage der Ethik

Dadurch, dass wir eine Behandlung von acht Wochen anbieten, zeigen wir aber, dass es möglich ist, Patient_innen auch über eine kürzere Zeit zu behandeln.

Aber die Vergabe steriler Spritzen und die Behandlung von Gefangenen ist eine Frage der Ethik.

In unserem Gefängnis haben wir es geschafft, 99 Prozent der behandelten Gefangenen mit diagnostizierter Hepatitis C zu heilen – das heißt, 12 Wochen nach Ende der Behandlung ist keine Virenvermehrung mehr nachweisbar.

Wir sind das einzige Gefängnis in Frankreich, in dem das bisher gelungen ist.

Und was passiert, wenn die Gefangenen entlassen werden?

Das ist leider ein Problem. Wenn man sich draußen oder auch im Gefängnis nicht schützt, kann man sich wieder infizieren.

Bisher hatten wir drei solche Fälle. Einer hat sich im Gefängnis wieder angesteckt, zwei haben sich nach der Entlassung noch einmal mit Hepatitis C infiziert, und das haben wir dann festgestellt, als sie wieder ins Gefängnis kamen.

Von den Drogengebrauchern kommen bis zu 30 Prozent im ersten Jahr nach der Entlassung wieder ins Gefängnis, bis zu 50 Prozent innerhalb von drei Jahren und fast 100 Prozent innerhalb von fünf Jahren.

Insgesamt kommen pro Jahr so zwischen 1000 und 1700 Menschen zum ersten Mal oder zum wiederholten Mal in unsere Haftanstalt.

Der Test muss also immer wieder angeboten werden, und Behandlung allein reicht nicht aus, oder? Auch Schutzmöglichkeiten müssen angeboten werden.

Genau. Aber leider sind wir das einzige Gefängnis in Frankreich, das sterile Spritzen abgibt.

Man denkt oft, dass das verboten ist, aber das steht nirgendwo. Viele weigern sich trotzdem, dieses Angebot einzuführen, weil es nicht ausdrücklich erlaubt ist.

Ich mache das aber, auch wenn viele Leute denken: „Man ist doch nicht im Gefängnis, um sich da Drogen zu injizieren!“

Wir können Hepatitis C beenden, wenn man die Mittel dafür bereitstellt

Aber dieses Programm kann die Übertragung von Krankheiten erheblich reduzieren.

In unserem Gefängnis haben wir die Hepatitis C praktisch eliminiert. Dies ist auch im größeren Umfang möglich, vorausgesetzt, dass man uns die Mittel dafür gibt.

Ist dafür noch mehr erforderlich als Prävention, Diagnostik und Behandlung? Wie denken Sie zum Beispiel über die Legalisierung von Drogen, das heißt die staatlich kontrollierte Abgabe geprüfter Drogen?

Ich denke, dass wir schrittweise vorgehen müssen:

Zuerst müsste man den Drogenkonsum entkriminalisieren, das heißt, dass man für einfachen Konsum nicht ins Gefängnis kommt.

Zwar kommt heutzutage in Frankreich tatsächlich so gut wie niemand mehr für Drogenkonsum ins Gefängnis, sondern höchstens vorübergehend in Polizeigewahrsam, aber im Gesetz wurde der Konsum noch nicht entkriminalisiert – es sieht nach wie vor ein Jahr Freiheitsstrafe und fast 4.000 Euro Geldstrafe vor, selbst für Cannabis.

Von den jährlich rund 140.000 wegen Rauchen eines Joints überprüften Personen kamen 2015 aber „nur“ rund 3.000 ins Gefängnis.

Viele Menschen, die nach ins Gefängnis kommen, leiden unter Sucht in irgendeiner Form, zum Beispiel unter Spielsucht. Aber sie werden wegen eines Delikts verhaftet, nicht wegen ihrer Sucht.

Nötig sind Entkriminalisierung, Aufklärung über Risikominierung und Legalisierung

Zweitens müsste man Maßnahmen zur Risikominimierung anbieten und eine Präventionskampagne durchführen.

Und erst im dritten Schritt kann man dann Drogen legalisieren.

Ich möchte dazu ein Parallelbeispiel geben: Alkohol und Tabak sind erlaubt, ohne dass man das Schritt für Schritt begleitet hat.

Heute versucht man, die Menschen für die Risiken von Alkohol und Tabak zu sensibilisieren, aber im Nachhinein ist das schwierig.

Wir müssen aus unseren Fehlern lernen und diesmal schrittweise vorgehen.

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Über

Holger Sweers

Holger Sweers, seit 1999 als Lektor, Autor und Redakteur bei der Deutschen Aidshilfe, kümmert sich um die Redaktionsplanung des Magazins.

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