Ende Juli 2019 fand in Mexico City die 10. Konferenz der Internationalen Aids-Gesellschaft (IAS) statt. Über wichtige Entwicklungen auf dem Gebiet der HIV-Therapie berichtet Siegfried Schwarze für uns.

Auch 2019 ist die HIV-Therapielandschaft in Bewegung. Neben neuen Substanzen werden neue Therapiekonzepte und Anwendungsformen ihren Weg in die Routine-Behandlung der HIV-Infektion finden.

Gleichzeitig werden immer mehr Wirkstoffe patentfrei und sind als Generika verfügbar. Dies führt allerdings auch dazu, dass nur noch wenige Firmen neue Substanzen entwickeln. Derzeit gehen Innovationen von nur noch drei großen Firmen und einigen kleineren aus – aber es gibt sie, die erfolgversprechenden Neuentwicklungen.

HIV-Therapie 2019: Neue Substanzen

Doravirin (Pifeltro®,in Kombination mit TDF/3TC Delstrigo®)  ist ein 2019 zugelassener NNRTI (Anm. d. Red.: Nicht-nukleosidaler Reverse-Transkriptase-Inhibitor; NNRTI blockieren das Enzym Reverse Transkriptase. HIV benötigt es, um sein Erbgut so umzuschreiben, dass es in das Erbgut der menschlichen Zelle eingebaut werden kann). Doravirin wirkt auch dann noch, wenn gegen NNRTI der ersten Generation wie Nevirapin oder Efavirenz bereits Resistenzen vorliegen. Außerdem ist die Wirksamkeit auch bei Viruslasten über 100.000 Viruskopien pro Milliliter Blutplasma gut, und die einmal tägliche Einnahme kann unabhängig von der Nahrungsaufnahme erfolgen.

Ibalizumab (Trogarzo®) ist ein monoklonaler Antikörper gegen CD4, der alle zwei Wochen als Infusion verabreicht wird (zusätzlich zu anderen HIV-Medikamenten). (Anm. d. Red.: Die Effekte beruhen auf der Bindung an den CD4-Rezeptor auf der Wirtszelloberfläche, wodurch das Eindringen des Virus in die Zelle verhindert wird.) Ibalizumab wurde 2018 in den USA und im Herbst 2019 in der EU zugelassen. Damit wird erstmals ein Antikörper in der Behandlung der HIV-Infektion eingesetzt. Aufgrund der erheblichen Kosten (die Jahrestherapiekosten werden wohl über 100.000 € liegen) wird die Substanz vor allem für Menschen eingesetzt werden, die nur noch wenige Behandlungsoptionen haben und mit den bisherigen Substanzen keine zufriedenstellende Unterdrückung der Viruslast erreichen. Aufgrund der Verabreichung als Infusion ist aber z.B. auch ein Einsatz bei Intensivpatient_innen denkbar.

Denkbar sind viertel- oder sogar halbjährliche Anwendungsintervalle

Es wird interessant sein, die weitere Entwicklung zu verfolgen. Zum einen sind einige „breit neutralisierende Antikörper“ (bnABs) in Entwicklung, die sich für die Behandlung der HIV-Infektion eignen würden, zum anderen wissen wir aus der Erfahrung mit Antikörpern bei anderen Erkrankungen, dass sich die Verweildauer dieser Biomoleküle im Körper mit relativ einfachen Tricks deutlich verlängern lässt, sodass Anwendungsintervalle von einmal pro Vierteljahr oder sogar Halbjahr durchaus denkbar wären. Damit würde sich auch der hohe Herstellungspreis etwas relativieren.

Cabotegravir ist ein neuer Integrasehemmer, der in den USA zur Zulassung eingereicht ist (auch für den Einsatz in der Prävention, das heißt zur Prä-Expositions-Prophylaxe). Cabotegravir ist dem bereits seit mehreren Jahren eingesetzten Dolutegravir (Tivicay®, auch in Triumeq®, Juluca® und Dovato® enthalten) sehr ähnlich. Die Besonderheit ist, dass es sich auch für die Formulierung als Depotspritze eignet. Als Kombinationspartner wird hier Rilpivirin (Edurant® und in Eviplera®, Odefsey® und Juluca® enthalten) verwendet, das ebenfalls bereits seit Jahren etabliert ist. Erstmals werden Patient_innen die Wahl zwischen Tabletten und Depotspritzen haben, die zunächst einmal monatlich verabreicht werden. Eventuell ist nach der Auswertung der laufenden Studien eine Erweiterung der Zulassung auf eine zweimonatige Gabe möglich, allerdings benötigt man dafür größere Injektionsvolumina. Für die Einleitung der Therapie bzw. für Situationen, in denen die Gabe der Spritzen nicht möglich ist, wird es die Kombination auch in Tablettenform geben. Die Tabletten müssen aber – wie gewohnt – einmal täglich eingenommen werden.

Fostemsavir ist ebenfalls eine gar nicht mehr so neue Substanz, die mehrmals den Besitzer gewechselt hat. Diese Substanz verhindert das Andocken von HIV an den CD4-Rezeptor der menschlichen Zielzellen, indem es an das gp120-Oberflächenmolekül des Virus bindet. Derzeit wird die Substanz im Rahmen von Studien vor allem bei mehrfach vorbehandelten Menschen mit wenig Therapieoptionen eingesetzt (z.B. in Kombination mit Trogarzo®).

Albuvirtide ist im Prinzip eine Weiterentwicklung von Enfuvirtide (Fuzeon®). Auch Albuvirtide blockiert das Andocken von HIV an den CD4-Rezeptor und stellt eine Option für mehrfach vorbehandelte Menschen mit Resistenzen dar. Durch die Kopplung an menschliches Albumin muss die Injektion nicht mehr zweimal täglich, sondern nur noch einmal pro Woche erfolgen. In China ist die Substanz bereits zugelassen, in den USA laufen derzeit Phase-II/III-Studien.

Leronlimab (Pro140) ist ein monoklonaler Antikörper, der den CCR5-Rezeptor blockiert (Anm. d. Red.: HIV braucht zum Eindringen in die menschliche Zielzelle neben dem CD4-Rezeptor auch einen weiteren Rezeptor. Hauptsächlich ist dies der sogenannte CCR5-Rezeptor, weniger häufig bzw. meist erst in späten Infektionsstadien der CXCR5-Rezeptor, seltener auch beide). Er wird einmal pro Woche als subkutane Injektion (Anm. d. Red.: in das Unterhautfettgewebe) verabreicht (dies können die Patient_innen selbst durchführen). Da der Antikörper ein Ziel auf der Wirtszelle blockiert, rechnet man damit, dass es für HIV sehr schwierig ist, dagegen eine Resistenz zu entwickeln. Deshalb prüft man auch die Eignung von Leronlimab als alleiniger Wirkstoff für eine Erhaltungstherapie, nachdem mit einer Kombination die Viruslast unter die Nachweisgrenze gesenkt wurde. Auch diese Substanz ist inzwischen in der klinischen Phase II/III.

Neu: Nukleosidanaloge Reverse-Tranksriptase-Translokationsinhibitoren

Islatravir ist wohl eine der spannendsten Entwicklungen der letzten Jahre. Die Substanz begründet die neue Klasse der „Nukleosidanalogen Reverse-Tranksriptase-Translokationsinhibitoren“ (NRTTI), die einen doppelten Wirkmechanismus aufweisen. Die Substanz wirkt in sehr geringen Mengen – derzeit werden in Studien Dosierungen bis hinunter zu 0,5 mg pro Tag(!) geprüft. Gleichzeitig hat die Substanz eine lange Verweildauer im Körper, so dass die Herstellerfirma jetzt schon Implantate entwickelt, die über ein Jahr zuverlässig Wirkstoff freisetzen können. Dies wäre sowohl für die Behandlung der HIV-Infektion als auch für die HIV-Prophylaxe PrEP ein gewaltiger Fortschritt. Da die Substanz aber aus einer neuen Klasse stammt, bleibt zunächst abzuwarten, wie die Verträglichkeit aussieht.

Neue Therapiestrategien

Mit Juluca® und Dovato® sind inzwischen die ersten beiden Zweifachtherapien als Fixkombination zugelassen. Offensichtlich ist drei keine magische Zahl (mehr) in der HIV-Therapie (Anm. d. Red.: Lange Zeit war die HIV-Kombinationstherapie aus mindestens drei verschiedenen gegen HIV wirksamen Substanzen die Regel). Wenn die Einzelwirkstoffe nur wirksam genug sind und das Virus sich schwertut, eine Resistenz gegen die Substanzen zu entwickeln, kann auch mit zwei Wirkstoffen eine sichere Unterdrückung der Viruslast erreicht werden.

Ein ganz anderes Thema sind Monotherapien. Hier hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass ein Wirkstoff allein – egal wie wirksam er sein mag – Kombinationstherapien unterlegen war und ein erhöhtes Risiko für einen Anstieg der Viruslast und eine Resistenzentwicklung bestand. Deshalb ist die Monotherapie für die meisten heutigen Wirkstoffe kein gangbarer Weg. Eine Ausnahme machen hier vielleicht Antikörper, die Ziele auf den menschlichen Wirtszellen verwenden. Es fällt dem Virus deutlich schwerer, hiergegen eine Resistenz zu entwickeln. Doch auch hier muss man weitere Studien abwarten, bis das Konzept endgültig beurteilt werden kann.

Die Zweifachtherapie erlaubt aber auch neue Anwendungsformen wie die Depotspritzen. Voraussichtlich 2020 werden Depotspritzen mit den Wirkstoffen Cabotegravir und Rilpivirin auf den Markt kommen. Einmal im Monat wird je eine Spritze in je eine Pobacken verabreicht. Für Zeiten, in denen die Gabe von Spritzen nicht möglich oder nicht praktikabel ist, können die Anwender_innen auch auf die tägliche Tabletteneinnahme umsteigen.

Depotspritzen mit HIV-Zweifachtherapie voraussichtlich ab 2020

Monoklonale Antikörper wie Ibalizumab, die auch zur Therapie der HIV-Infektion entwickelt werden, können in der Regel als Infusion, gelegentlich auch als subkutane Injektion verabreicht werden. Gerade Infusionen erlauben die Verabreichung größerer Antikörpermengen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, die Verweildauer der Antikörper im Körper durch biochemische Kniffe zu verlängern, sodass eine Gabe als Infusion einmal im halben Jahr durchaus denkbar ist.

Entwickelt werden aber auch völlig neue Anwendungsformen. So forscht beispielsweise ein Hersteller an einem „Mikronadelpflaster“. Dieses besteht aus einer Matrix, auf der mikroskopisch kleine Nadeln aus einem HIV-Wirkstoff angebracht sind. Bringt man dieses Pflaster auf die Haut auf und streicht kräftig darüber, brechen die Wirkstoffnadeln in der Haut ab und bilden ein Depot, aus dem über mehrere Tage Wirkstoff freigesetzt wird. Das Ganze ist nicht schmerzhaft und führt auch zu keiner Hautreaktion. In der Haut ist der Wirkstoff auch unempfindlich gegen Waschen, Duschen oder Baden.

Auch wenn heute nicht mehr so viele Forscher_innen auf dem Gebiet HIV tätig sind, sind also in der unmittelbaren und auch in der weiter entfernten Zukunft spannende Entwicklungen erkennbar, die das Leben von Menschen mit HIV weiter verbessern und erleichtern werden.

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