Mit Das Haus der unfassbar Schönen taucht Joseph Cassara tief ein in die Ballroom-Szene im New York der 80er- und 90er-Jahre. Sein Debütroman ist ein pralles, packend erzähltes Stück LGBT-Geschichte.

Angel ist sechzehn, als sie am Schminktisch der Mutter zu ihrem eigentlichen Ich findet. Filmdiva Bette Davis dient als Vorbild für die innere Haltung: Aufsässigkeit gepaart mit souveränem Stolz. Im Radio gibt Diana Ross den Beat vor, zu dem sich Angel die Beine rasiert. „Sie bog ihr Ding weg – klebte es mit einem Stück Klebeband oben fest – und verschränkte die Beine zu einem X.“

Angel: Aufsässigkeit gepaart mit souveränem Stolz

Die Augenbrauen werden gezupft, die Lippen mit Konturstift nachgezogen, falsche Wimpern angeklebt. „Jahre später würde sie an diese Nacht zurückdenken und sich fragen, was im Himmel sie sich dabei gedacht hatte, sich so geschmacklos aufzudonnern.“ Im Moment aber fühlte es sich einfach richtig an, von sich als „sie“ zu denken.

Für einen jungen Menschen aus ärmlichen Verhältnissen mit puerto-ricanischen Wurzeln kann das scheinbar liberale New York ein erbarmungsloser Moloch sein. Wenn man sich wie Angel aber nicht wirklich männlich oder weiblich fühlt, für High Heels geboren zu sein scheint und ein Faible für bodenlange Kleider hat – dann braucht es eine dicke Haut und jede Menge Widerstandskraft, um die Anfeindungen der Mitmenschen zu ertragen.

Das Haus der unfassbar Schönen ist Fluchtpunkt und Rückzugsort

Ein gutes Jahrzehnt von Angels Leben lässt Joseph Cassara uns mitverfolgen. Es sind keine einfachen Jahre für Angel und ihresgleichen: Trans*, Schwule und Dragqueens aus der lateinamerikanischen Community der Stadt, die einen Ort und einen Weg suchen, um –  zumindest zeitweilig –  einfach sein zu können, wie sie sind.

Junge Menschen, die wegen ihres Schwulseins oder So-Seins aus dem Elternhaus geprügelt wurden, schließen sich kurzerhand zu Wahlfamilien zusammen und geben ihren ärmlichen Wohnungen glamouröse Namen. Angels nennt ihren Zufluchtsort „House of Xtravaganza“.

Und damit taucht der Roman tief ein in die Ballroom-Szene der 80er- und 90er-Jahre. Wie die Netflix-Serie „Pose“ ist auch „Das Haus der unfassbar Schönen“ inspiriert von Jennie Livingstones legendärem Dokumentarfilm „Paris is Burning“ (1990).

Ein Blick in das Leben rund um die queere Ballroom-Szene

Doch die glamourösen Bälle spielen im Roman nur am Rande eine Rolle. Vielmehr erzählt Joseph Cassara in seinem Debütroman vor allem vom Alltag jenseits der ungewöhnlichen Modenschauen und Vogueing-Wettbewerbe: Von der Sexarbeit an der Cruising-Area der Hafen-Piers, wo ein Blowjob für eine Handvoll Dollars zu bekommen ist.

Von Tagen des Hungerns, wenn die Geschäfte schlecht laufen. Von gewalttätigen Freiern und solchen, die mehr Hoffnungen machen, als sie einzulösen gedenken.

Von billigen Drogen, die die schlechten Tage erträglicher machen und die Partys noch orgiastischer werden lassen.

Auch von der Gewalt auf der Straße, die manchmal auch bis zum Mord führt.

Es ist ein hartes Leben, dass Cassara hier erzählt

Und von dieser neuen Krankheit, die nach und nach immer mehr dahinsiechen und sterben lässt.

Es ist ein ziemlich hartes Leben, das Cassara hier, angelehnt an reale Figuren, aber mit fiktionalen Details ausgestaltet, erzählt.

Doch bei aller Tragik, all dem Schmerz, den vielen Enttäuschungen und existenziellen Überlebenskämpfen gelingt es Cassara auch, die ungeheure Lebendigkeit, die energische Wut, die Zärtlichkeit zwischen den Hausbewohner_innen und innerhalb der Community, ihre Fürsorge und Liebe und den Kampfgeist zu vermitteln.

Ja, ein Stöckelschuh taugt auch als Waffe, und eine einzige Geste, etwa eine hochgezogene Augenbraue, kann mehr Verachtung zum Ausdruck bringen als das derbste Schimpfwort.

Und wer wissen will, was die Wortgewalt einer Drag Queen aus der Bronx auszurichten vermag, bekommt hier jede Menge Fallbeispiele.

Dragqueens und Dreckskerle

Hut ab bei dieser Gelegenheit vor dem Übersetzer Stephan Kleinert, der dieses Gemisch aus Latino-Spanisch, bitterbösem Szene-Talk und räudigem Straßenslang in ein glaubwürdiges deutsches Äquivalent gebracht hat.

Die Dialoge verpassen dem Buch einen ungeheuerlichen Drive und gewissermaßen literarische Street Credibility.

Dies, wohlgemerkt, von einem Autor – Cassara ist Jahrgang 1989 –, der über eine Phase in der queeren Geschichte der USA schreibt, die zwar bis heute nachwirkt, die er aber selbst gar nicht mehr kennengelernt hat.

So ist sein Roman gleichermaßen Zeugnis für Community-Solidarität und ein Denkmal dieser queeren Undergroundkultur und ihrer bekannten wie weniger bekannten Protagonist_innen.

Das Haus der unfassbar Schönen ist dabei alles andere als ein staubtrockener Historienschinken, sondern ­– Believe me, Bitch!  – ein echter Pageturner, der sich manchmal wie ein Pendant zu Armistead Maupins „Stadtgeschichten“ anfühlt.

Joseph Cassara: „Das Haus der unfassbar Schönen“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Stephan Kleinert. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 445 Seiten, 24 Euro.

Webseite des Autors: www.josephcassara.com

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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