Zum HIV Long-Term Survivors Day 2020 beschreibt Michael Jähme, wie die Erlebnisse rund um seine HIV-Infektion durch die Corona-Krise wieder in sein Bewusstsein rückten. Unser Autor ist Ehrenmitglied der Deutschen Aidshilfe und der Aidshilfe NRW. 1990, mit 31 Jahren, bekam er seine HIV-Diagnose und ging von Anfang an offensiv und öffentlich damit um. Er hat als Sozialpädagoge in einer regionalen Aidshilfe gearbeitet und war auch im bundesweiten Team der Onlineberatung der Aidshilfen tätig.

Den gesellschaftspolitischen Umgang mit dem neuen Coronavirus verfolge ich mit einem sehr persönlichen Interesse und Hintergrund: Als schwuler Mann wurde ich am 23.04.1990, also vor ziemlich genau 30 Jahren, als HIV-positiv diagnostiziert. Ein anderes Virus, aber auch HIV war damals neu und unbekannt und auch HIV wurde erst entdeckt, nachdem man die Todesfälle, also das Vollbild Aids gehäuft feststellte und zu dem Schluss kam, dass es einen neuen Krankheitserreger geben musste.

Recht schnell war klar, dass sich das HI-Virus auf sexuellem Weg überträgt. Die physische Distanz, die wir heute wegen Corona leben, ist eine sehr viel mildere Variante der Verhaltensänderung als die, die HIV uns abverlangt hat. Ging es damals darum, die „Liebe“ zu retten, geht es heute darum, das freie öffentliche Leben zu retten. Das Coronavirus ist sehr viel leichter zu übertragen als HIV, aber es ist weniger tödlich, als HIV damals war, als es noch keine lebensrettenden HIV-Medikamente gab.

Bei HIV ging es darum, die „Liebe“ zu retten

Als ich meine HIV-Diagnose bekam, war es der größte seelische Schmerz, zu realisieren, dass von mir nun bei gelebter Intimität eine (Lebens-)Gefahr für andere ausgeht. Safer Sex/Kondomgebrauch war das Mittel der Wahl, um Ansteckungs- und Übertragungsrisiken zu minimieren.

Als die HIV-Infektion behandelbar wurde und besonders, nachdem 2008 die Eidgenössische Kommission für AIDS-Fragen in der Schweiz veröffentlichte, dass wirksam behandelte Menschen mit HIV nicht mehr infektiös sind, sie also HIV gar nicht mehr übertragen können, wenn die Viruslast unter die Nachweisgrenze gedrückt werden kann, war dies eine unendliche seelische Befreiung und „Heilung“.

Aber sowohl für HIV-positive als auch für HIV-negative Menschen war es anfangs höchst ambivalent, das Kondom wegzulassen und wieder eine Sexualität von „vor Aids“, also ohne Angst vor Ansteckung/Übertragung zu leben.

Angst kann fortbestehen, wenn ihr Anlass schon nicht mehr besteht

Die Angst kann sich so tief in Menschen einnisten, dass sie fortbesteht, wenn der Anlass, Angst zu haben, schon gar nicht mehr besteht.

In der Aids-Krise mussten wir lernen, mit einem neuen Virus zu leben, mussten lernen, dass es keine 100-prozentige Sicherheit gibt, mussten lernen, Risikomanagement im Sinne von Harm-Reduction-Strategien zu leben und eben auf diesem Weg einen Ausgleich zu finden zwischen Schutz/Sicherheit einerseits und Lust/Lebendigkeit andererseits.

Es ging damals in der von Rita Süssmuth verantworteten „Lernstrategie“ bei der HIV-Prävention darum, Menschen zu befähigen, Situationen hinsichtlich der Relevanz eines HIV-Risikos einschätzen zu lernen und dann ein persönliches Risikomanagement zu finden.

Die Verunsicherung, ob der Mensch mir gegenüber mit SARS-CoV-2 infiziert sein könnte, ohne es zu wissen, und ich mich anstecken könnte, wird so lange bleiben und andauern, bis es einen Impfstoff gibt. Sich bis dahin unter Freund_innen nicht mehr zu umarmen oder bis dahin auf Sex mit neuen Partner_innen zu verzichten, ist nicht zumutbar und durchhaltbar.

Mit der PrEP zum ersten Mal nach Jahrzehnten eine angstfreie Sexualität

Ich kenne Männer, die bezogen auf HIV erst jetzt, wo es die PrEP (Prä-Expositions-Prophylaxe) gibt wo als HIV-Negative eine Pille nehmen können, die sie vor Ansteckung mit HIV schützt –, also nach Jahrzehnten erst zum ersten Mal in ihrem Leben eine angstfreie Sexualität erleben. Die Mitte der 80er-Jahre aufkommende Angst vor Aids und das Miterleben, dass Menschen im dichten Umfeld plötzlich sterben, hat sie bis heute nie verlassen.

Die Corona-Krise prägt mein Gefühlsleben dahingehend, dass all die Erlebnisse rund um meine HIV-Infektion wieder sehr lebendig werden. Ich habe auch festgestellt: In so einer Krise laufe ich psychisch sehr stabil, denn damit kenne ich mich ja gut aus. Ich stelle mich darauf ein, dass es eine schnelle Lösung bei SARS-CoV-2 nicht geben wird.

Wir werden länger mit dieser Pandemie leben müssen.

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