Forschung

Alles klar im Reservoir? HIV und Entzündungwerte

Von Siegfried Schwarze
Modellhafte Darstellung von HI-Viren
Modell eines HI-Virus ©nobeastsofierce/stock.adobe.com

Die HIV-Forschung macht große Fortschritte, doch manche Themen bleiben hochkomplex. So werfen Enzündungsreaktionen (nicht nur) im Zusammenhang mit der HIV-Infektion weiter Fragen auf. Wir erklären, warum die Senkung der Viruslast nicht alle Probleme löst und was es heißt, „entzündungsarm“ zu leben.

„Mit HIV kann man bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung gut und lange leben.“ Und: „Bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung haben Menschen mit HIV gute Chancen auf eine normale Lebenserwartung bei guter Lebensqualität.“ Das sagen die Aidshilfen. Dennoch hören und lesen wir immer wieder von gesundheitlichen Problemen, die Menschen mit HIV besonders betreffen: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurokognitive Einschränkungen, ein erhöhtes Risiko für bestimmte Krebsarten, Diabetes und anderes mehr. Einiges davon wird auf die ständige Aktivierung des Immunsystems zurückgeführt, zu der es auch bei wirksamer HIV-Therapie kommt, manches auch auf Medikamente, vieles scheint aber auch – wie bei Menschen ohne HIV – abhängig vom Alter und der Lebensweise zu sein.

Im Folgenden soll versucht werden, diese verschiedenen, aber zusammenhängenden Themen zu entwirren und Hinweise darauf zu geben, wie man möglicherweise das eigene Risikoprofil verbessern kann.

Was kann die HIV-Therapie – und was nicht?

Durch die moderne HIV-Therapie werden die unmittelbaren Folgen einer HIV-Infektion gebremst bzw. gestoppt. Die Medikamente verhindern, dass weitere CD4-Zellen infiziert werden und verhindern damit eine weitere Schädigung des Immunsystems. Damit sinkt das Risiko für opportunistische Infektionen und einige Krebsarten, die früher oft zum Tod von Aids-Patienten führten.

Die Behandlung ändert aber nichts an der Tatsache, dass es im Körper ein „Reservoir“ aus Milliarden von infizierten Zellen gibt, in denen HIV mehr oder weniger „schlummert“. Das bedeutet, dass durch Zufallsereignisse – genauer gesagt: durch Kontakt mit dem Antigen, auf das sie spezialisiert sind – immer mal wieder einzelne CD4-Zellen aktiviert werden. Durch diese Aktivierung „erwacht“ HIV und fängt an, seine Eiweiße durch die Zelle herstellen zu lassen, um sich letztendlich zu vermehren. An dieser Eiweißbildung kann das Immunsystem eine infizierte Zelle erkennen und meist auch abtöten. Die Eiweiße selbst und die Reste der getöteten Zellen rufen aber eine Entzündungsreaktion im Körper hervor. Im Durchschnitt haben Menschen mit HIV also eine höhere Entzündungsaktivität als Menschen ohne HIV.

Wie hoch diese Entzündungsaktivität ist, hängt dabei von verschiedenen Faktoren ab, die bisher nur unzureichend erforscht sind:

  • Wahrscheinlich spielt die Größe des HIV-Reservoirs eine Rolle. Mit anderen Worten: Je mehr Zellen im Körper mit HIV infiziert sind, desto stärker ist die Entzündungsreaktion.
  • Die Größe des Reservoirs hängt davon ab, wie hoch die Viruslast vor Therapiebeginn war und wie lange sich das Virus ungehindert vermehren konnte, also wie lange es von der Infektion bis zum Behandlungsbeginn dauerte. Bei Menschen, die frühzeitig nach der Infektion mit einer HIV-Therapie begonnen haben, gibt es also meist eine geringere Entzündungsreaktion.
  • Wir wissen, dass HIV als erstes unter anderem Zellen des Darmimmunsystems schädigt. Dadurch verliert der Darm zum Teil seine Barrierefunktion, sodass Bakterien aus dem Darm ins Blut gelangen können und dadurch zu einer Verstärkung der Entzündungsreaktion beitragen. Auch dieser Faktor wird davon beeinflusst, wie lange die HIV-Infektion unbehandelt war und wie hoch die Viruslast während dieser Zeit war.
  • Weitere Erkrankungen und Infektionen (z. B. chronische Hepatitis-Infektionen, chronische Infektionen mit anderen Viren wie EBV, CMV oder Herpes, aber auch eine unerkannte Syphilis) können die Entzündungsaktivität weiter verstärken.
  • Nicht zuletzt hat auch der Lebensstil einen wichtigen Einfluss: Rauchen, Alkohol- und Substanzkonsum, Übergewicht und chronischer Stress können Entzündungswerte verschlechtern.
  • Auch genetische Unterschiede des Immunsystems können dazu führen, dass bestimmte Entzündungsprozesse stärker oder schwächer ausgeprägt sind.
  • Zum Einfluss der Medikamente: Ob unterschiedliche HIV-Medikamente oder Kombinationen besser sind, ist noch nicht genau untersucht. Zwar gibt es Hinweise, dass modernere Medikamente vorteilhaft sind, aber wirklich sichere Daten fehlen.

Immunaktivierung = Entzündung = Alterung

Aber was genau bedeutet nun „Entzündung“ und welche Folgen hat es, wenn diese Entzündungsreaktion verstärkt wird?

Zunächst ist eine Entzündung eine Reaktion des Immunsystems auf eine Schädigung von Gewebe oder auf Krankheitserreger. Verletzt man sich, so rötet das Gebiet um die Verletzung und fühlt sich warm an, denn es wird besser durchblutet. Vielleicht wird es anschwellen oder sogar schmerzen. Dies hat damit zu tun, dass das Immunsystem beschädigte Zellen abräumt und eingetretene Erreger bekämpft. Einzelne Zellen müssen abgetötet werden, um den Gesamtorganismus vor weiterem Schaden zu bewahren. Normalerweise wird so eine Entzündungsreaktion sofort beendet, sobald der Schaden repariert wurde. Im Fall von chronischen Virusinfektionen, wie bei HIV, gelingt das aber nicht und der Entzündungsreiz bleibt dauerhaft bestehen. So werden fortlaufend Körperzellen durch die Entzündungsreaktion geschädigt und es kommt zu einem verstärkten „Verschleiß“.

Man geht heute davon aus, dass praktisch alle Prozesse, die zu einer Alterung des Körpers führen, etwas mit Entzündungen zu tun haben. Mehr Entzündungen bedeutet also auch beschleunigte bzw. verstärkte Alterungsprozesse. Das entspricht ziemlich genau dem, was man bei einigen – wenn auch nicht bei allen – Menschen mit HIV beobachtet: beschleunigtes Altern. Gesundheitliche Probleme, z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder neurokognitiver Abbau, können früher oder stärker ausgeprägt auftreten, als man das erwarten würde. Allerdings darf man nicht vergessen, dass Menschen mit HIV deutlich besser medizinisch überwacht werden als die Allgemeinbevölkerung – und viele selbst stärker auf ihren Körper achten. Vielleicht fallen manche Probleme also einfach früher auf.

Entzündung: ein hochkomplexer Vorgang

Bisher haben wir einfach von „Entzündung“ gesprochen, dabei sind Entzündungsreaktionen im Körper unglaublich komplex und sowohl miteinander als auch mit anderen Stoffwechselprozessen vernetzt. Es ist ähnlich wie bei der Verdauung. Auch hier handelt es sich um einen vielstufigen Prozess mit vielen Beteiligten. Es gibt nicht nur eine Möglichkeit, die Verdauung zu stören und es gibt auch nicht die eine Heilmethode, um eine gestörte Verdauung zu normalisieren. Genauso ist es mit der Entzündung. Es gibt sehr viele Punkte, an denen Störungen auftreten können, und eine Verbesserung an der einen Stelle kann eine Verschlechterung an anderer Stelle bewirken. Die Forschung beginnt erst langsam, die Komplexität der Entzündungsreaktionen in unserem Körper zu verstehen. Erst wenn man verstanden hat, wie all diese Reaktionen ineinandergreifen, kann man versuchen, sie zielgerichtet zu beeinflussen.

Zwar haben wir heute schon Medikamente die allgemein „entzündungshemmend“ sind, z. B. Kortison, doch sie haben massive Nebenwirkungen und wirken wie der Versuch, ein feinmechanisches Uhrwerk mit einem Hammer zu reparieren. Da Hormone einen starken Einfluss auf Entzündungen haben, gibt es zudem geschlechtsspezifische Unterschiede, die bisher ebenfalls unzureichend erforscht sind.

Entzündungswerte auf dem Laborzettel

Woran kann man nun erkennen, wie stark die Entzündung im Körper ausgeprägt ist? Die standardmäßig erhobenen Laborwerte geben hier leider nur grob Auskunft:

  • Sehr häufig wird die Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit, kurz BSG, angegeben: Je stärker die Entzündungsreaktion im Körper ist, desto schneller gerinnen Blutkörperchen im abgenommenen Blut und sinken zu Boden. Dies ist aber ein sehr grober Wert, der erst bei einer massiv verstärkten Entzündungsreaktion, z. B. aufgrund von akuten Infektionen oder bei Tumoren, Blut- und Organerkrankungen sowie bei Menstruation oder Schwangerschaft, erhöht ist.
  • Ein weiterer Wert ist das „C-reaktive Protein“, kurz CRP, dessen Erhöhung auf Gewebeschäden oder bakterielle Infektionen hinweisen kann.
  • Weitere Werte wie hsCRP, IL-6, D-Dimer oder sCD14 werden derzeit im Rahmen klinischer Studien untersucht, aber bisher nicht in der klinischen Praxis eingesetzt. Es ist damit zu rechnen, dass sich mit weiterer Forschung auch die Zahl der Entzündungsparameter, die im Labor bestimmt werden können, erhöhen wird.

Was kann man selbst tun?

Neben einer HIV-Therapie, die die Viruslast unter die Nachweisgrenze senkt (was leider nicht bei allen Menschen mit HIV gelingt), kann man nach heutigem Wissensstand die Entzündungsreaktion im Körper druch folgende Faktoren günstig beeinflussen:

  • Behandlung von Begleitinfektionen und -erkrankungen. Durch die Ausheilung einer chronischen Hepatitis C kann beispielsweise die Entzündungsreaktion deutlich gesenkt werden. Es gibt aber auch Hinweise, dass bestimmte Medikamente, z. B. Statine zur Behandlung von erhöhten Cholesterinwerten, eine antientzündliche Wirkung haben.
  • ausgewogene Ernährung: Nach allem, was wir heute wissen, ist eine vorwiegend vegetarische Ernährung (mit gelegentlich Geflügel/Fisch) mit frischen Zutaten, die selbst zubereitet werden, günstig im Bezug auf Entzündungen. Alle stark verarbeiteten Produkte, die viel Weißmehl, gesättigte Fette und Zucker enthalten, sollten gemieden werden. Getrunken werden sollte ausreichend Wasser/Tee und möglichst keine gesüßten Getränke und kein Alkohol.
  • Verzicht auf das Rauchen und anderen Substanzkonsum
  • Durch Bewegung, vor allem im Freien, wird die Durchblutung des Organismus verbessert und Stoffwechselprodukte, die Entzündungen begünstigen, können abtransportiert werden.
  • Durch Impfungen werden Erkrankungen, die mit Entzündungen einhergehen, entweder verhindert oder abgeschwächt, was dem Körper hilft, die Entzündungslast geringer zu halten. Gerade bei Menschen mit HIV sollte auf einen Impfschutz gegen Hepatitis A/B, Pneumokokken, HPV, Influenza und Covid geachtet werden.

Fazit

Erst langsam beginnt die Forschung, die ganze Komplexität der Entzündungsreaktionen in unserem Körper zu verstehen. Es ist aber klar, dass eine HIV-Infektion einen wesentlichen Faktor darstellt – und zwar umso mehr, je länger die HIV-Infektion unbehandelt blieb und je höher die Viruslast in dieser Zeit war. Durch die Behandlung der HIV-Infektion lässt sich das Problem zwar verringern, aber nicht restlos beseitigen. Die Forschung zur Reduktion chronischer Entzündungen schreitet voran und wird in Zukunft noch mehr Möglichkeiten bieten, die Lebensqualität weiter zu steigern. Durch einen gesunden Lebensstil kann man heute schon sehr viel dazu beitragen, auch mit HIV „entzündungsarm“ zu leben.

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