Eine Institution, an die man sich wenden kann
Zwei Jahrzehnte lang war Amadou Diop ein Ruhepol und zugleich treibende Kraft bei AfroLebenPlus, eine wichtige Stütze des Mobilen Aufklärungstheaters und nicht zuletzt eine kritische wie geachtete Stimme in der Community der positiven Migrant*innen. Am 4. Februar 2025 ist er bei einem Unfall im Senegal ums Leben gekommen und hat eine riesige Lücke hinterlassen, nicht nur im Leben von Melike Yildiz.
„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac, „das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie also erinnern wir uns an Menschen, die in der Aids- und Selbsthilfe oder in deren Umfeld etwas bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich unsere Reihe „Erinnern und Gedenken“ in loser Folge.
„Amadou hat auf so vielen Ebenen einen ganz besonderen Platz in meinem Leben“, sagt Melike Yildiz, und das nicht nur, weil er der erste Mensch aus der HIV-Community war, den sie kennenlernte. Getroffen haben sie sich 2006 bei den Positiven Begegnungen in Leipzig – „und wir haben uns gleich in der allerersten Minute angefreundet. Wir haben stundenlang einfach nur geredet, geredet, geredet. Ich hatte vom ersten Moment an das Gefühl, dass dies ein Mensch ist, dem ich absolut vertrauen kann, und so haben wir uns gegenseitig in allen Einzelheiten unser Leben erzählt.“
Amadous Leben bis dahin war auf eine schreckliche Art und Weise abenteuerlich. Ein deutsches Diplomatenpaar, für das er im Senegal gearbeitet hat, hat ihn später mit Versprechungen für ein gutes Leben mit nach Deutschland genommen. Doch was wie ein Akt der Menschenliebe klingt, war in Wirklichkeit die Hölle. Die „Eltern“, wie er sie nannte, hielten ihre Versprechen nicht. Vielmehr war er ohne Papiere in Deutschland und wurde wie eine Sklaven gehalten, eingesperrt und ausgebeutet. Und als er im Vollbild Aids in der Klinik lag, kam heraus, dass es auch keine Krankenversicherung für ihn gab. Da versuchten das Paar mit allen Mitteln, ihn zurück in den Senegal zu schicken. Irgendwann gelang es ihm zu fliehen – mitten im Winter und nur mit einem T-Shirt und Unterhosen bekleidet.
Eine andere Art der Flucht
Amadou war traumatisiert und zu diesem Zeitpunkt auch schon schwer erkrankt. Die Göttinger Aidshilfe wurde für ihn vor allem in den ersten Jahren dieses neuen Lebensabschnitts eine wichtige Anlaufstelle. In der Beratung erfuhr er, dass es Möglichkeiten gibt, unabhängig von dem Ehepaar hier in Deutschland zu bleiben und Unterstützung für ein eigenständiges Leben zu bekommen. Im 30 Kilometer entfernten Witzenhausen findet er eine Wohnung und im örtlichen Kino einen Arbeitsplatz, den er von Herzen liebt.
Mit seiner HIV-Infektion ist er dort offen umgegangen. „Er hatte keine Probleme, darüber zu reden, und diese Offenheit hat die Menschen für ihn eingenommen“, erzählt Melike. „Wir haben oft Witze gemacht über Witzenhausen und nicht verstanden, was ihn an diesem Nest hält.“ Der Ort sei keine Klein-, sondern sogar eine Universitätsstadt, konterte dann Amadou. Die Uni Kassel hat dort in einer Außenstelle ihren Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften untergebracht. Zudem ist Witzenhausen das größte Kirschenanbaugebiet Europas.
Amadou hat sich in dieser nordhessischen Kleinstadt mit ihren rund 15.000 Einwohner*innen wohlgefühlt. Er hatte eine feste Gruppe, mit der er sich regelmäßig zum Boule-Spielen traf – und meistens hat er die Partie gewonnen. Doch auch mit Uni-Außenstelle und Kirschbaumplantagen liegt Witzenhausen abgelegen. Trotzdem ist der Kontakt zwischen Melike und Amadou nie abgebrochen.
„Ich werde niemals wieder mit jemanden so lachen können wie mit ihm.“
„Wir haben über all die Jahre jede Woche mehrmals telefoniert, wer weiß wie viele Stunden lang“, erzählt Melike. Und gemeinsam sind sie dann auch zu ihrem ersten Treffen von AfroLebenPlus gefahren. Mit Amadou und Melike waren zwei Menschen vor Ort, die die Netzwerk-Idee eines mobilen Aufklärungstheaters mit großer Leidenschaft umsetzen würden.
„Amadou war die Ruhe pur. Aber wenn er Theater spielte, war er wie verwandelt. Vor allem aber war er unglaublich witzig. Wenn er anfing zu lachen, hat er alle um ihn herum angesteckt. Als ich von seinem Tod erfuhr, hatte ich zunächst zwei Gedanken: Was mache ich nur ohne ihn? Und: Ich werde niemals wieder mit jemandem so lachen können wie mit ihm. Mit niemandem. Und das ist ja leider Gottes die bittere Wahrheit.“
Das Capitolkino Witzenhausen war sein Arbeitsplatz, den er mit seiner großen Begeisterung für den Film und mit viel technischem Know-how ausfüllte. Die Theatergruppe hingegen war seine Berufung. Es war ihm ein wirkliches Anliegen, die Leute über HIV aufzuklären und über den Weg des mobilen Theaters Menschen zu erreichen. „In all den Jahren hat er keinen einzigen unserer Auftritte ausfallen lassen. Auch nicht, als er schon schwer krank war.“ Wie schwer, hat er nie groß zum Thema gemacht. Dass er einen Herzinfarkt überstanden und aufgrund eines Nierenversagens mehrmals in der Woche zur Dialyse musste, wussten nur wenige. Um ihm das Theaterspielen zu ermöglichen, wurden die Proben und Auftritte rund um die Dialyse-Tage gelegt. „Er ist dann direkt vom Dialysezentrum zum Bahnhof und zu unseren Auftrittsorten gefahren – zwar kraftlos und übermüdet, aber er ließ sich nicht davon abhalten. Abends, wenn er auf der Bühne stand, hüpfte er dann herum wie ein 18-Jähriger“.
„Amadou war eine Institution. An ihn konnte man sich wenden, wenn man ethische Zweifel hatte.“
Das Theater, die Kunst, das waren sein Lebenselixier. Gemeinsam mit Melike leitete er Kinderworkshops und Theaterschulungen. Zu Kindern hatte er einen guten Draht. Zugleich strahlte er eine gewisse Autorität aus – schon allein aufgrund seiner körperlichen Statur. Er sprach langsam und ausdruckstark mit einer tiefen, kräftigen Stimme. Und er hatte klare Prinzipien, auf professioneller wie auf menschlicher Ebene. „Er hasste es, wenn Leute Lügen verbreiten, respektlos sind oder andere manipulieren. Amadou war eine Institution. An ihn konnte man sich wenden, wenn man ethische Zweifel hatte. Er hat einem dann tief in die Augen geschaut und gefragt: Was denkst du, was wäre richtig? Orientiere dich nicht daran, was die Welt von dir erwartet, sondern was dein Herz dir sagt.“
Wenn er sich in Diskussionen äußerte, waren seine Ansagen meist sehr klar und deutlich, und nicht immer hat das allen gefallen. „Aber im Nachhinein wussten wir, dass er recht hatte. Darauf konnte man vertrauen.“ Das lag auch daran, sagt Melike, dass Amadou über ein verlässliches Wertesystem verfügte. „Für ihn waren alle Menschen gleich, und alle hatten die gleichen Rechte. Ihm war wichtig, alle Menschen so leben zu lassen, wie sie es möchten – egal welcher Herkunft, Religion oder sexuellen Identität. Wenn er diskriminierende, chauvinistische, rassistische, homo- oder transphobe Bemerkungen erlebte, konnte er das nicht unerwidert lassen.“ Das, so ist sich Melike sicher, habe vielen Menschen aus der Community zu denken gegeben.
Diese universellen Werte mit ihm zu teilen, war für Melike das Fundament ihrer tiefen und innigen Freundschaft. Zusammen mit einigen anderen aus dem Ensemble des Mobilen Theaters war sie Teil seiner Wahlfamilie in Deutschland.
Ein Ratgeber für die Wahl- wie für die Herkunftsfamilie
Den Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie im Senegal hat er jedoch weiterhin gepflegt und sich um sie gekümmert. Mit neuen Kommunikationsmitteln wollte er sich nicht beschäftigen, selbst E-Mails verweigerte er. Den Fernseher hatte er abgeschafft, um die Zeit stattdessen lieber fürs Lesen zu nutzen. Aber er ließ sich schließlich darauf ein, WhatsApp zu nutzen, um am Gruppenchat von AfroLebenPlus teilnehmen zu können. Damit konnte er auch viel besser mit seinen Angehörigen im Senegal in Kontakt bleiben.
Für die seltenen Flüge in sein Heimatland musste Amadou lange sparen, denn sein Gehalt war nicht gerade üppig, das Geld immer knapp. Dennoch hat er es geschafft, seiner Mutter, seinen Geschwistern und der Tochter aus einer alten Liaison etwas zu schicken. „Er kümmerte sich um die Familie nicht nur finanziell, sondern war auch dort eine geachtete Autorität“, sagt Melike. „Er war ihr Ratgeber, aber alles andere als ein Patriarch oder gar Diktator.“
Für ihn gab es kaum etwas Schlimmeres als andere leiden zu sehen. Das hatte sicherlich auch mit seinen eigenen, schrecklichen Erfahrungen zu tun. „Jegliche Gewalt, ob verbal, körperlich oder psychisch, war für ihn Horror pur. Wenn etwa jemand bei einem Treffen von AfroLebenPlus herumbrüllte, hat Amadou gesagt: Ich diskutiere erst wieder weiter, wenn ihr euch beruhigt habt.“ Und hat dann einfach den Raum verlassen. „Das hat uns zu denken gegeben und tatsächlich Wirkung gezeigt.“
Im Dezember spielt die Theatergruppe in Berlin, Melike hat für Amadou einen Dialyseplatz besorgt. Gemeinsam mit Anita begleitet sie ihn am frühen Morgen nach dem Auftritt dorthin. Der Krankenschwester stellt er die beiden als seine Frauen vor. Er sagt das so überzeugend, als wäre es das Normalste der Welt. Und wie selbstverständlich bekommen die beiden nun das Aufnahmeformular in die Hand gedrückt. Sie sind im besten Sinne seine Wahlfamilie.
Nach der Dialyse bleibt vor seiner Rückfahrt nach Witzenhausen noch Zeit, um mit ihm im Bus eine Sightseeing-Tour durch Berlin zu machen. Am Bahnhof umarmen sie sich – und wissen noch nicht, dass es ein Abschied für immer sein wird. Im Gegenteil, sie hatten bereits Pläne geschmiedet. Amadou ist kurz vor der Rente, im Berliner HIV-Wohnprojekt ZIK – „Zuhause im Kiez“ – könnte er ein Zimmer bekommen. Zusammen mit Melike will er sich fürs Buddy-Programm der DAH bewerben.
Eine letzte Reise zur Familie
Was Melike und Anita nicht ahnen: dass Amadou kurze Zeit nach dem Berlin-Trip in den Senegal fliegen würde. Das war auch früher immer schon so gewesen. Irgendwann war er einfach verschwunden und verriet erst nach seiner Rückkehr, dass er die Verwandtschaft im Senegal besucht hatte. Stolz zeigte er dann Fotos von der Reise. Warum diese Heimlichkeit? Melike akzeptiert es einfach. Doch seit er auf die Dialyse angewiesen war, schien ein Wiedersehen mit der Familie ausgeschlossen – bis Melike und Anita Möglichkeiten recherchieren, wie Amadou die lebenswichtige Blutwäsche auch im Senegal durchführen lassen kann.
Zwei Tage vor dem Rückflug hat er einen tödlichen Autounfall. Die Familie führt eine Bestattung nach muslimischem Ritus durch. Und weil sie weiß, wie wichtig für Amadou das Netzwerk AfroLebenPlus und auch die Theatergruppe war, hat sie eine deutschsprechende Senegalesin ausfindig gemacht und sie gebeten, über die WhatsApp-Gruppe seinen Tod mitzuteilen. „Wir haben alle gedacht, dass das einer von Amadous Witzen ist. Keiner hat das wirklich geglaubt. Und als klar war, dass es die Wahrheit ist, war es für uns unmöglich, das so einfach zu akzeptieren“, schildert Melike diesen Moment.
„Nach jeder unserer Begegnungen hatten wir ein gemeinsames Ritual: Wir haben zum Abschied zusammen getanzt.“ Optisch waren die beiden ein wirklich ungleiches Paar. „Er ein stattlicher großgewachsener Kerl, ich gerade mal 1,50 Meter groß. Wir hatten dabei immer großen Spaß und ungeheuerlich viel gelacht“, sagt Melike. Und: „Ich werde niemals wieder mit einem Menschen so tanzen und so lachen wie mit Amadou. Mit seinem Tod habe ich mein halbes Herz verloren.“
Die von der Community in Deutschland ausgerichtete Trauerfeier wurde live gestreamt, sodass auch Amadous Familie im Senegal daran teilnehmen und erfahren konnte, wie viele Menschen hier um ihn trauern – und ganz besonders die Mitstreiter*innen der mobilen Theatergruppe.
Nach seinem Tod wussten sie lange nicht, wie und ob es weitergehen soll. „Amadou war nicht einfach nur Mitglied und Mitspieler, er war auch die Seele der Gruppe“, erklärt Melike. „Als wir kürzlich nach langer Zeit wieder aufgetreten sind, hatten wir ganz unerwartet einen tröstlichen Moment. Wir hatten alle das Gefühl, dass er mit uns auf der Bühne ist, als hätte er dort auf uns gewartet.“
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