„Für mich muss es im Leben etwas Wichtigeres geben als das physische Überleben”

Borys Hrachov ist Projektleiter von DATACHECK Connect der Deutschen Aidshilfe – einer digitalen Plattform zur Unterstützung von ukrainischen Menschen mit HIV durch aktuelle Informationen und die Vermittlung von Angeboten in Deutschland. Borys arbeitete in der Ukraine bei Alliance.Global, diente danach zweieinhalb Jahre in der Armee. Im Interview spricht er über den Krieg, seine Erfahrungen als schwuler Mann in der Armee und den Zugang zu Medikamenten für Soldat*innen mit HIV.
Borys, du warst in der Ukraine ein bekannter Aktivist und Menschenrechtsverteidiger. Was hat dich dazu gebracht, den ukrainischen Verteidigungskräften beizutreten?
2021 arbeitete ich in einem Think Tank, wo wir die Stimmung in Russland und im russischen Informationsraum untersuchten. Schon damals war mir klar, dass es zu einem umfassenden Krieg kommen würde. Was ich in diesem Fall tun würde, wusste ich allerdings noch nicht. Damals dachte ich noch, die Armee sei ein Ort für hypermaskuline Männer. Für einen Monat bin ich sogar nach Deutschland gegangen. Doch eine Woche vor Kriegsbeginn kehrte ich zurück – mein Pflichtgefühl war zu stark und überwog alles andere. Zunächst wollte ich als Freiwilliger helfen, aber bereits in der ersten Woche nach dem Beginn der russischen Vollinvasion suchte ich nach Wegen, in die Armee zu kommen.
Was heißt „suchen“ – war das schwierig?
Ja. Damals konnte man erst ab 27 Jahren eingezogen werden, und ich war noch 26. Nach der ersten Ablehnung in Kyjiw versuchte ich es in Luzk, aber auch das klappte nicht. Das war ein richtiges Abenteuer, denn es war sehr schwer, Richtung Westen zu reisen – in die Züge durften nur Frauen und Kinder einsteigen. Schließlich wurde mir eine Einheit der Territorialverteidigung (TRO) in Kyjiw empfohlen, und dort kam ich schließlich unter.
Wie hast du diese Entscheidung getroffen? Was hat dich motiviert?
Mich hat erschreckt, wie viele Menschen flohen. Gleichzeitig hat mich die Zahl derer motiviert, die blieben und kämpfen wollten. Mir war klar: Ich werde mir das nie verzeihen, wenn ich nicht in die Armee gehe. Ich hatte keine Angst zu kämpfen und keine Angst zu sterben. Das Einzige, was mir Angst machte, war die Aussicht auf einen endlosen Krieg.
Borys HrachovIch hatte keine Angst zu kämpfen und keine Angst zu sterben. Das Einzige, was mir Angst machte, war die Aussicht auf einen endlosen Krieg.
Du hast also zuerst in Kyjiw gedient?
Ja. Damals war die Lage noch sehr angespannt, weil wir damit rechneten, dass russische Truppen in die Stadt einbrechen könnten. Als sie sich zurückzogen, konzentrierte ich mich auf taktische Medizin – ich fuhr an die Frontlinie, um in den Einheiten zu unterrichten. Ich habe schon früher eine medizinische Ausbildung als Feldscher in Poltawa absolviert. So fühlte ich mich nützlich. Später wurde unsere Einheit an die Front bei Kreminna verlegt. Ich war dort mehrere Monate als Kampfmediziner, übernahm aber nicht nur medizinische Aufgaben. Danach arbeitete ich im Kommando der Territorialverteidigung am Aufbau eines Systems zur sozialen Betreuung von Verwundeten. Später war ich im Verteidigungsministerium und befasste mich mit der Reform der taktischen Medizin.
Wussten deine Kamerad*innen, dass du schwul bist?
Anfangs wussten es nur mein Kommandeur und eine gute Freundin von mir in der Armee. Dann passierte jedoch eine kuriose Geschichte, nach der es alle erfuhren. Eine Journalistin fragte mich, wie viele LGBTIQA* Personen ich in der Armee vermute. Ich sagte, ich glaube, die Armee sei ein Spiegelbild der ukrainischen Gesellschaft – also vielleicht 3 bis 5 %. Das klang ihr wohl nicht überzeugend, und sie rechnete das auf 50.000 um. Diesen Satz griffen internationale Medien auf, und er reiste um die Welt als Schlagzeile „50.000 Schwule dienen in der ukrainischen Armee“ – zusammen mit meinem Foto. Danach wussten es alle. Aber Probleme hatte ich damit nie.
Borys HrachovDie Schlagzeile „50.000 Schwule dienen in der ukrainischen Armee“ – zusammen mit meinem Foto. Danach wussten es alle. Aber Probleme hatte ich damit nie.
Also bist du in der Armee nicht auf Diskriminierung gestoßen?
Nein. In meiner Einheit waren alle sehr freundlich mir gegenüber. Ich weiß nicht, ob sie besonders tolerant waren oder ob es daran lag, dass ich der Einzige mit medizinischer Ausbildung war. Sich mit dem einzigen Sanitäter zu zerstreiten, wäre sicher keine gute Idee.
Aber du hast sicher auch mit anderen LGBTIQA* Menschen gesprochen. Wie sieht die Gesamtsituation aus?
Ja. Parallel zum Militärdienst leitete ich weiterhin ein Menschenrechtsprojekt, und wir bekamen manchmal Meldungen zu einzelnen Diskriminierungsfällen. Wichtig ist aber: In den meisten Fällen reagierte das Kommando schnell zugunsten der Betroffenen – sie wurden in andere Einheiten versetzt oder es gab aufklärende Gespräche. Diskriminierung gibt es in der ukrainischen Armee, aber sie ist nicht systematisch – eher Einzelfälle.
Wie erklärst du dir das? Man könnte ja erwarten, dass in einer konservativen Struktur wie der Armee Homophobie besonders stark ausgeprägt ist.
Die ukrainische Armee besteht aus Zivilist*innen, die durch bestimmte Werte verbunden sind. Und im Krieg zählt viel mehr, was du für deine Einheit leistest. Wenn du deine Arbeit gut machst, interessiert es niemanden, welche sexuelle Orientierung du hast. Wichtiger ist, was hier und jetzt passiert. Ich glaube überhaupt, dass das Beispiel der Ukraine für die weltweite LGBTIQA*-Community wichtig ist. Wir bauen viele Stereotype ab. Die Repräsentation von LGBTIQA* Personen an der Front ist im Vergleich zu anderen Ländern sehr groß.
Wie sind die Bedingungen für HIV–positive Menschen in der Armee?
Zu Beginn des Krieges war es verboten, mit HIV zu dienen. Wer es trotzdem wollte, musste die Diagnose verschweigen. Seit August 2023 können Menschen mit HIV offiziell eingezogen werden. Der Zugang zu antiretroviraler Therapie (ART) läuft über die medizinischen Dienste der Bataillone. Das funktioniert unterschiedlich gut, aber große Probleme gibt es nicht. Problematisch ist eher, dass viele ihren Status gar nicht kennen. HIV-Tests werden empfohlen, sind aber nicht verpflichtend. Ich finde, HIV darf kein Hindernis sein, wenn jemand dienen will. Die Bataillone müssen den Zugang zu Medikamenten sichern. Gleichzeitig bin ich der Meinung, dass HIV-positive Menschen freiwillig dienen sollten. Es kommt vor, dass Leute ihre ART absichtlich absetzen, um die Viruslast zu erhöhen und Aids zu entwickeln – das ist dann ein Entlassungsgrund. Das ist extrem gefährlich, denn selbst wenn man wieder mit der Therapie beginnt, weiß man nicht, ob sie in diesem Stadium noch wirkt.
Borys HrachovHIV-positive Menschen sollten freiwillig dienen. Es kommt vor, dass Leute ihre ART absichtlich absetzen, um die Viruslast zu erhöhen und Aids zu entwickeln – das ist dann ein Entlassungsgrund. Das ist extrem gefährlich.
Was sind aus deiner Sicht die größten Probleme der ukrainischen Armee?
Für mich sind es die Frage der Dienstzeiten und der Demobilisierung. Wir sind im vierten Kriegsjahr, und es gibt immer noch keine vernünftigen Rotationen. Viele Kinder kennen ihre Väter nur als Bild auf einem Handybildschirm. Im Ergebnis opfern wir einen Teil der Gesellschaft, damit der andere Teil leben kann, als wäre nichts. Das muss sich ändern.
Was war für dich persönlich das Schwierigste während des Dienstes?
Es war schwer, in fremde Häuser an der Front einzuziehen, ohne zu wissen, ob die Besitzer*innen noch leben: überall ihre Dinge, Spielsachen, Bücher. Schwer war auch der Anblick zerstörter Städte und Dörfer: Wenn man von Isjum in den Donbass fährt, sind die Ausmaße der Zerstörung schockierend. Das können Fernsehberichte nicht wiedergeben. Besonders belastend waren Tage mit über 20 Evakuierungen. Das Auto voller Blut, und irgendwann überkommt dich der Horror: Warum bin ich hier, warum passiert das alles? Und dann diese schwarzen Säcke am Stabilisierungspunkt: Wenn man begreift, dass jeder einzelne ein Mensch war, ein ganzes Universum für jemanden.
Borys HrachovEs sollte endlich das Gesetz zu Hassverbrechen verabschiedet werden und die rechtliche Anerkennung eingetragener Partnerschaften erfolgen.
Was könnte ukrainische LGBTIQA* Militärangehörige unterstützen?
Vor allem sollte endlich das längst überfällige Gesetz zu Hassverbrechen verabschiedet werden, dessen Entwurf seit Jahren im Parlament liegt, und zudem die rechtliche Anerkennung eingetragener Partnerschaften erfolgen. Letztere ist entscheidend, denn viele LGBTIQA* Menschen dienen oder haben haben Partner*innen, die dienen. Im Falle einer Verwundung oder des Todes sind diese rechtlich völlig ungeschützt: kein Anspruch auf Entschädigung, kein Zugang zum Krankenhaus, kein Mitspracherecht bei der Beerdigung. Diese Beziehungen bleiben für den Staat unsichtbar. Das ist zutiefst ungerecht, wenn man bedenkt, dass LGBTIQA* Personen genauso kämpfen, ihr Leben riskieren und sterben wie alle anderen. Der Staat muss grundlegende Rechte für alle sicherstellen, die ihn verteidigen.
Und wie können andere Länder unterstützen?
Natürlich gehört Advocacy dazu. Aber das Wichtigste sind Waffen und finanzielle Hilfe. Das Problem ist nicht, wie effektiv wir Communitys aufbauen oder Schulungen durchführen. Das Problem ist: Wenn Russland kommt, werden nicht nur LGBTIQA* Menschen keine Rechte mehr haben, es wird grundsätzlich keine Menschenrechte mehr geben. In Mariupol gab es zum Beispiel tolle queere Initiativen, aber mit der Ankunft der russischen Panzer war sofort alles weg. Das Wirksamste, was man derzeit für den Schutz von LGBTIQA*-Rechten in der Ukraine tun kann, ist, der Ukraine mit Waffen zu helfen. Jeder Meter Land, frei von russischer Besatzung, bedeutet für die Menschenrechte mehr als jedes Seminar.
Borys HrachovJeder Meter Land, frei von russischer Besatzung, bedeutet für die Menschenrechte mehr als jedes Seminar.
Du hast gesagt, du hattest keine Angst zu sterben. War das schon immer so oder kam dieses Gefühl mit der Zeit?
Eigentlich war ich schon seit der Maidan-Revolution 2013/14 der Überzeugung, dass es seine Werte sind, die den Menschen zum Menschen machen. Und dass es sich lohnt, für diese zu kämpfen. Ich meine: Wenn das einzige, was dir wichtig ist, dein Überleben ist – lebst du dann überhaupt? Für mich muss es im Leben etwas Wichtigeres geben als das physische Überleben. Während der Revolution der Würde und später, als Russland in den Donbass einmarschierte, war ich viel als Freiwilliger unterwegs. Nach und nach wurde mir klar: Freiheit ist mein zentraler Wert. Deshalb war ich bereit, dafür zu kämpfen, als die russische Invasion begann. Der Tod selbst macht mir keine Angst. Wenn man ihn oft gesehen hat, sieht man ihn anders. Für die Welt ist der Tod nichts Tragisches, nur eine Tatsache. Sterben werden alle. Die Frage ist nur, wann. Und doch wäre es gut, so zu leben, dass man am Ende nicht allzu traurig ist, sterben zu müssen.
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