Ukraine

HIV-Prävention in den besetzten Gebieten der Ukraine: Für Russland keine Priorität

Von Gastbeitrag
Bild zum Beitrag zur Situation von Drogengebrauchenden und der HIV-Prävention in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine
© DAH | Bild: Jan N. Nelles

Valeria Rachinskaya von der ukrainischen HIV-NGO 100% Life sprach mit uns über die Situation von Drogenkonsument*innen und der HIV-Versorgung in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine.

Frau Rachinskaya, wie sieht es derzeit, also Mitte 2024, mit dem Zugang zu HIV-Medikamenten, zur Prävention und zur Versorgung in den russisch besetzten Gebieten in den Regionen Luhansk und Donezk aus?

Bis 2016 wurde in der Region fast das gesamte Spektrum an Dienstleistungen rund um HIV angeboten, mit Ausnahme der Substitutionstherapie. Die Ukraine setzte ihre Arbeit in den besetzten Gebieten also fort und behielt alle Programme und Behandlungen bei, einschließlich der ART [Anm. d. Red.: ART = antiretrovirale Therapie/HIV-Therapie].

Das heißt, HIV-Medikamente wurden beschafft und geliefert und Menschen mit HIV erhielten medizinische und soziale Unterstützung. Zur Verfügung gestellt wurden auch Tests, Reagenzien für die Laborausrüstung, zum Beispiel zur Viruslastbestimmung, Unterstützung für die gesamte Ausrüstung sowie Spritzen und Gleitmittel, zum Beispiel für Menschen, die Drogen injizieren, und Sexarbeitende.

Das Substitutionstherapieprogramm, das bis 2015 in den besetzten Gebieten durchgeführt wurde, musste allerdings eingestellt werden, weil die Medikamente nicht mehr geliefert werden konnten [Anm. d. Red.: In Russland ist die Substitionstherapie verboten]. Das war eine echte Tragödie. Die Zahl der Suizide stieg und viele kehrten zu Straßendrogen zurück.

Die HIV-Behandlungsprogramme liefen trotz aller Schwierigkeiten bis 2022 weiter. Dank der Finanzierung durch den Globalen Fonds konnte die Ukraine die erforderlichen Medikamente und Testkits beschaffen und liefern.

2022 verschlechterte sich die Lage erheblich – nach dem Beginn der groß angelegten russischen Invasion gab es keine sichere Möglichkeit mehr, diese Programme fortzusetzen. Alle Beschaffungen für die besetzten Gebiete der Oblaste Luhansk und Donezk wurden gestoppt, und schrecklicherweise kamen zu den besetzten Gebieten dann auch große Teile der Oblaste Saporischschja und Cherson hinzu.

Die Russische Föderation hat keiner UN-Agentur ein Mandat für die Arbeit in den besetzten Gebieten erteilt. Das ist eine große Tragödie dieses Krieges, und aus irgendeinem Grund schweigen alle dazu. Nur das Rote Kreuz darf dort arbeiten, aber sein Mandat wurde auf den Austausch von Kriegsgefangenen und Besuche in den Lagern beschränkt.

HIV ist eindeutig keine Priorität in Russland und schon gar nicht in den besetzten Gebieten der Ukraine.

Valeria Rachinskaya

Es gibt kein Programm für Nahrungsmittelhilfe und den Wiederaufbau der Infrastruktur – die Russische Föderation sagt in bester Tradition, dass sie „mit allem selbst fertig werden“ kann. In Wirklichkeit, davon gehen wir aus, will Russland nicht, dass die internationalen Organisationen die russischen Gräueltaten in diesen Gebieten mitbekommen und dokumentieren.

Man kann sich aber ausrechnen, wie sich die Situation der HIV-Behandlung in den besetzten Gebieten entwickelt – dazu muss man sich nur die Lage in der Russischen Föderation selbst ansehen.

Vor Beginn des russischen Überfalls gab es dort über eine Million Menschen mit einer HIV-Diagnose, die eine HIV-Behandlung benötigten. Die Beschaffung antiretroviraler Medikamente dagegen war nur für rund 465.000 Menschen staatlich finanziert, d. h. für 46 Prozent der Patient*innen. HIV ist eindeutig keine Priorität in Russland und schon gar nicht in den besetzten Gebieten der Ukraine.

Erinnern wir uns noch einmal an das Jahr 2015: Die Ärzt*innen in den Aids-Zentren der besetzten Gebiete erhoben den Bedarf an ART auf Grundlage der russischen Behandlungsleitlinien, aber Russland lieferte kein einziges HIV-Medikament. Die Position der selbsternannten lokalen Behörden war:  „Die Russen haben gesagt, das sind Ukrainer, die Ukraine soll sie behandeln. Und lasst diese Drogenabhängigen sterben, denn sie sind keine Menschen.“

Ich glaube, daran hat sich nicht viel geändert – die Menschen sterben in Scharen, sie werden einfach nicht behandelt.

Gucken wir uns jetzt das Gebiet Donezk einmal genauer an – wie war die Situation bis 2014 und wie ist sie jetzt?

Die Oblast Donezk war vor dem Krieg und auch noch nach 2014 das Gebiet mit den höchsten HIV-Zahlen. Bis 2014 wurden dort offiziell 28.000 Menschen mit HIV registriert. Zum Vergleich: Anfang 2022, also acht Jahre später, lebten in Dnipropetrowsk, heute „Spitzenreiter“, ebenfalls rund 28.000 Menschen mit HIV-Diagnose, in Odessa rund 25.000, in Kyiv rund 15.000 und in Donezk rund 12.000.

Nachdem die Region durch die Front geteilt wurde, blieb etwa die Hälfte der Patient*innen in den besetzten Gebieten. Wir können davon ausgehen, dass es dort seit 2022 keine HIV-Präventionsprogramme mehr gibt, denn diese konnten von 2014 bis 2022 nur existieren, weil die Ukraine alle nötigen Utensilien – Spritzen, Gleitmittel, Kondome und so weiter – mit Zuschüssen des Globalen Fonds, von UNICEF, dem Roten Kreuz und anderen Partnern lieferte. Seit der russischen Invasion hat dort mit 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit niemand solche Utensilien beschafft oder Präventionsprogramme aufgebaut.

Wie sieht die Drogenszene in Donezk aus?

Die Region Donezk ist eine raue Industrieregion, und der Konsum war und ist immer noch recht hoch.

Wenn es in den besetzten Gebieten zu Behandlungsunterbrechungen kommt und Programme zur Schadensminimierung fehlen, müssen wir von einem steilen Anstieg der Zahlen bei HIV, Tuberkulose und opportunistischen Infektionen ausgehen. [Anm. d. Red.: Opportunistische Infektionen „nutzen die Gelegenheit“, wenn das Immunsystem bei Menschen mit HIV schon stark geschädigt ist, weil die HIV-Infektion nicht behandelt wird.]

Für Russland sind die Bürger*innen der besetzen Gebiete immer Bürger*innen zweiter Klasse.

Valeria Rachinskaya

Das Gleiche gilt für die übrigen besetzten Gebiete. Saporischschja und Cherson wiesen schon in der Vergangenheit eine hohe epidemiologische Belastung durch HIV und TBC auf, daher erwarten wir, dass sich auch hier negative Szenarien entwickeln werden – ganz zu schweigen von Mariupol, wo allein im städtischen Aids-Zentrum rund 7.000 Menschen registriert waren! Wir können nur vermuten, was mit den Menschen während der Belagerung geschah, als es überhaupt nichts gab, das Zentrum bombardiert wurde und die Ärzt*innen unter Beschuss die ART ausgaben. Klar ist, dass nicht alle Patient*innen dorthin gelangen konnten – die Menschen hatten andere Prioritäten. Aber wie viele die Behandlung abbrachen und bei wie vielen sich eine Resistenz entwickelte, das können wir nur vermuten.

Von der Situation in den besetzten Gebieten erwarten wir also nichts Gute. Russland befolgt bei der Behandlung seiner eigenen Bürger*innen nicht die WHO-Leitlinien, und die Bürger*innen der besetzten Gebiete sind immer Bürger*innen zweiter Klasse.

Vor Beginn des Krieges gab es in den Oblasten Donezk und Luhansk auch Programme zur Substitutionstherapie. Wissen Sie etwas darüber, was mit den Patient*innen geschah?

Die Substitutionstherapie endete 2015, der letzte Behandlungsplan wurde am 28. Mai 2015 vor meinen Augen ausgestellt, die letzten Dosen wurden aufgeteilt, reduziert, die Menschen entgifteten sich selbst …

Aber das war ein trauriges Ende. Es gab keine*n einzige*n Patient*in, die*der ins Reha-Zentrum kam und sagte: „Ich habe aufgehört, Drogen zu nehmen.“

Die Leute kehrten zu Straßendrogen zurück, und leider gab es auch Suizide und Fälle, in denen Menschen kriminell wurden, um an Drogen zu gelangen – was in den vom russischen Militär überfluteten Gebieten ein schlimmes Ende nahm.

Valeria Rachinskaya; © Olha Kovaleska / Urban Lys Media

War diese Situation mit der auf der Krim vergleichbar, als die Substitutionstherapie eingestellt wurde?

Auf der Krim war es vielleicht noch einfacher, aber der Donbas war Kriegsgebiet und die Menschen standen unter enormem Stress.

Damals begannen Leute zu trinken, die noch nie in ihrem Leben Alkohol getrunken hatten. Ich kann mir gut vorstellen, wie groß der Stress bei jemandem ist, der Drogen genommen hat – da kann Alkohol in gewisser Weise stabilisieren und helfen, mit psychischen Problemen fertig zu werden.

Und dann ist da noch der Krieg, der Beschuss, die ständig drohende Verhaftung, nicht einmal wegen Drogen, sondern einfach, weil man ein Mann ist – die Bedrohung durch die Mobilmachung. Man lebt also in einem ständigen Spannungszustand – Krieg, Front und Besatzung –, und dann gibt es noch nicht mal Medikamente, die den psychischen Zustand stabilisieren.

Ich kann nur spekulieren, was in den besetzten Gebieten gerade sonst noch passiert. Aber wir wissen, was 2014 und 2015 im besetzten Sjewjerodonezk, in Lyssytschansk oder in Rubischne passiert ist: Sofort nach der Besetzung begann die Jagd nach kleinen Drogenhändler*innen und nach Menschen, die Drogen konsumieren.

In einem Fall hatte sich ein Konsument in einer Wohnung eingeschlossen, doch sie brachen die Tür auf und folterten ihn dann. Ein anderer wurde am helllichten Tag aus einem Bus gezerrt, verprügelt und verstümmelt – ihm wurden die Ohren abgeschnitten, Finger abgetrennt und er wurde aufgefordert, die Personen zu nennen, mit denen er zusammenarbeitete.

Waren auch andere von solcher Verfolgung betroffen?

Ja, Sexarbeiterinnen, die wir kennen, wurden zu Kontrollpunkten gebracht, wo sie den ganzen Tag Dienstleistungen für die gesamte Besatzung erbringen mussten – einschließlich Wäsche waschen, putzen und kochen. Eine der jungen Frauen, Olja, hat sich drei Monate nach der Entlassung das Leben genommen, weil sie mit dem, was ihr dort angetan wurde, nicht weiterleben konnte.

Für die Frauen gibt es weder Psycholog*innen noch Rehabilitationsmaßnahmen. Und das sind nur die Fälle, von denen wir zufällig wissen, weil sie Klientinnen unserer Organisationen waren und die innere Kraft hatten, sich zu melden, ihre Geschichte zu erzählen und um Hilfe zu bitten. Und selbst mit Hilfe ging die Geschichte also nicht für alle gut aus.

Interview: Sasha Gurinova

Redaktion: Krystyna Rivera und Holger Sweers

Die Deutsche Aidshilfe (DAH) führt 2024 das Projekt „Stärkung zivilgesellschaftlicher Netzwerke durch Medienarbeit“ in der Ukraine durch. Im Rahmen dieses Projekts werden Vertreter*innen aus den Communitys der in der Ukraine und in Deutschland lebenden Drogenkonsument*innen eine Strategie für die nächsten drei Jahre entwickeln und kurze Filme über das Leben der Community während des Krieges drehen.

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