Valeria Rachinska arbeitet beim ukrainischen Netzwerk 100% Life“, das sich unter anderem für den Zugang aller Menschen mit HIV, Hepatitis oder Tuberkulose zur medizinischen Versorgung einsetzt. Christopher Klettermayer hat mit ihr über die Lage von Menschen mit HIV nach dem russischen Angriff auf die Ukraine gesprochen. Das Gespräch fand am 11. März 2022 per Videotelefonie statt.

Danke, dass Sie heute mit mir sprechen, Frau Rachinska.

Ja, gerne! Es ist schließlich auch meine Aufgabe, zu erzählen, was hier gerade passiert. Und welche Probleme wir haben. Denn wenn die Welt das nicht weiß, wer soll uns dann helfen?

Wo sind Sie jetzt gerade?

Ich bin jetzt gerade in einem kleinen Dorf nahe der rumänischen Grenze. Eine Familie lässt uns in einem kleinen Zimmer schlafen, in ihrem Haus. Wir sind hier zu fünft in einem Zimmer mit einem Holzofen. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich diese Erfahrung machen würde! Aber wir müssen mit der Zeit gehen (lacht).

Und vor einer Woche waren Sie noch in Kyjiw?

Ja, genau. Zuerst sind wir in eine westlichere Region gegangen. Haben in einem Sportstadion und Zentrum für Kinder geschlafen. Auf dem Boden. Dann zogen wir in ein weiteres Dorf in der Nähe von Winnyzja weiter. Dort wurde der Flughafen bombardiert und somit geschlossen. Also beschlossen wir, noch weiter nach Westen zu ziehen.

„Ich wusste, dass ein Einmarsch kommt“

Und das ist nicht das erste Mal, dass Sie das machen. Sie haben 2014 in Luhansk gelebt?

Ganz genau. Ich habe also eine Art Déjà-vu. Denn der Krieg hat schon 2014 begonnen, aber damals hatte ich mehr Zeit, mich vorzubereiten und zu überlegen, was ich mit meinen Kindern machen soll. Ich wusste, dass der Krieg auf uns zukommen würde. Die Leute sagten mir, ich sei verrückt, aber ich wusste, dass ein Einmarsch kommt.

– Valeria Rachinska verlässt das Telefonat und kommt nach einiger Zeit zurück –

Tut mir leid wegen der Unterbrechung. Ich bin gerade dabei, jede Menge Lebensmittel zu besorgen, und die Fahrer rufen mich an und brauchen Antworten. Und da ich von zu Hause aus arbeite, vom Telefon aus, kann es also Unterbrechungen geben.

Was haben Sie damals beim russischen Einmarsch in Luhansk gemacht?

Ich habe meine Kinder sofort evakuiert. So war es einfacher für mich. Am wichtigsten ist es, die Kinder zu retten, denn sie sind am stärksten gefährdet. Auch wenn es keine Bombardierungen oder keinen Beschuss gibt, ist der psychologische Druck enorm – das wollte ich vermeiden. Denn Krieg ist nichts für sie.

Von einigen Eltern, die ich für verantwortungsbewusst und zuverlässig hielt, habe ich gehört, Kinder verstünden das alles, den Krieg und so weiter. Aber ich verstehe nicht, warum wir ihnen diese Last aufbürden sollten, diese schlimme Erfahrung.

Also habe ich meine Kinder sofort nach Riwne evakuiert und hatte dann die Hände frei, um für unsere Hilfsorganisation zu arbeiten. Wir haben Menschen mit Medikamenten gegen HIV, Hepatitis und Tuberkulose versorgt. Und das anderthalb Jahre lang, nachdem der Krieg begonnen hatte.

In Luhansk?

Ja. Kaum zu glauben, oder? Damals sagte die ukrainische Regierung, die Menschen in Luhansk, in den besetzten Gebieten, seien Separatisten und man werde ihnen nicht helfen. Die Russen haben gesagt, das sei ein unabhängiges Gebiet und das sei nicht ihr Problem. Und die lokalen Behörden in Luhansk haben einfach gesagt: Scheiß auf dieses Problem und auf Menschen mit HIV. Das sind nur Junkies.

Also haben alle Seiten gesagt: Wen interessiert’s?

Ganz genau. Wen interessiert’s? Also haben wir das gemacht! Meine Organisation, die ihren Hauptsitz in Kyjiw hat, beschaffte die Medikamente und lieferte sie aus. Und um Probleme zu vermeiden, haben wir einfach in den Dokumenten vermerkt, dass wir nicht an staatliche Einrichtungen liefern. Andernfalls hätte man uns des Verrats am Staat beschuldigt. Also haben wir die Medikamente direkt zu den Menschen gebracht.

Nach den neuen Gesetzen von Luhansk und der Ukraine war das alles illegal. Beide Seiten verboten Medikamentenlieferungen über die Grenze. Mehr als drei Flaschen durften nicht transportiert werden. Seit dem Krieg sind Medikamente also eine Schmuggelware.

„All die angesehenen Organisationen werden für ihre Nothilfe gut bezahlt. Aber wo ist diese Nothilfe?“

Trotzdem habe ich Lastwagen voll geliefert, alles in Säcken. Sogar Blut und humanitäre Hilfe, Spritzen – und das über anderthalb Jahre lang. Denn all diese Institutionen wie die großen UN-Organisationen oder das Internationale Rotes Kreuzm halten Sonntagsreden, wenn niemand wirklich ihre Hilfe braucht. Sie zahlen gut und sind gut ausgestattet. Aber wenn es hart auf hart kommt, sind sie nutzlos.

Und in diesem Krieg ist es genau dasselbe. Es hat sich nichts verändert. Nachdem ich damals aus dem Donbass weggezogen war, habe ich allen Institutionen geschrieben, dass es Probleme mit ihnen gibt und sie in Notsituationen die HIV-Versorgung sicherstellen, effizienter werden müssen.

Notlagen sind Notlagen. Und all die angesehenen Organisationen wie das UNHCR werden für ihre Nothilfe gut bezahlt. Aber sehen Sie sich die Ukraine an. Wo ist die Nothilfe nach zwei Wochen Krieg?

Niemand war darauf vorbereitet. Schon bevor alles anfing, haben wir gemeinsam mit dem Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria offizielle E-Mails geschrieben, zum Beispiel an das Internationale Rote Kreuz: „Helfen Sie uns bitte mit Erste-Hilfe-Kits und Ähnlichem. Das ist Ihr Auftrag. Das ist es, was wir brauchen.“ Wir haben bis heute noch nicht einmal eine Antwort bekommen.

Die Amerikaner sind verlässliche Partner. Und alle ihre Sicherheitsdienste haben uns seit Januar gesagt, dass es Krieg geben wird. Wir haben nicht darüber diskutiert, ob. Sondern wann.

Und ich konnte die Dummheit oder das Selbstvertrauen der Agenturen einfach nicht fassen. Sie haben sich nicht auf diesen Krieg vorbereitet, obwohl er offensichtlich kommen würde.

Also wie sieht es jetzt aus? Es drohen Unterbrechungen bei der HIV-Behandlung.

Zwei Wochen vor Kriegsbeginn baten wir unsere Regierung und diese großen internationalen Organisationen um ein Treffen, um zu besprechen, was wir tun werden, wenn der Krieg kommt. Mit der Verteilung, mit der Logistik. Und man sagte uns, wir seien verrückt. Dass wir Panik machen. Dass wir die Klappe halten sollen. Und hier sind wir nun.

Und was versuchen Sie jetzt zu tun?

Wir haben mit der staatlichen Beschaffung und Lieferung der Medikamente Mitte März gerechnet. Die Vorräte in der Ukraine reichen bis April. Wir haben also insgesamt einen Monat Zeit. Der Medikamentenvorrat wird zu Ende gehen.

„Es drohen Unterbrechungen bei der HIV-Therapie.“

Also haben wir die Vereinigten Staaten um Hilfe gebeten, und sie haben gesagt, dass sie die Medikamente für uns finanzieren werden. Und meine Organisation wird sie beschaffen und verteilen. Sie werden hoffentlich sehr bald geliefert werden.

Wenn Russland die Kontrolle über die Ukraine übernähme, wie sähe das aus? Wie würde sich das Leben der Menschen mit HIV verändern?

Nach Angaben der Behörden leben in Russland etwa eine Million und ein paar hunderttausend offiziell registrierte Menschen mit HIV oder Aids. Und der offizielle Bedarf an Medikamenten liegt bei etwa vierhunderttausend. Sie behandeln also ihre eigenen Leute nicht! Wie sollen sie dann uns behandeln?

Die Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit HIV und auch von Schwulen oder trans* Personen ist in Russland sehr ausgeprägt. Sie sind homophob, sie sind transphob, sie hassen Menschen, die Drogen injizieren. Diese Menschen haben es aus ihrer Sicht nicht verdient, behandelt zu werden – oder überhaupt zu leben.

In Luhansk wurden im Grunde alle Angebote der HIV-Prävention und Schadensminimierung gestrichen, zum Beispiel Substitutionstherapien und Nadelaustauschprogramme.

Ganz genau. Sie haben sie eingestellt und sie sind gegen Substitution. Sie glauben nicht an diese Behandlung, sondern sagen, dass sie viele Menschen tötet. Für sie gibt es nur einen Weg der Drogentherapie: Rehabilitation und Abstinenz. In Luhansk sagte man uns auch, dass all die Nadeln, Spritzen und Kondome, die ja der Schadensminimierung dienen, in Wirklichkeit die junge Generation zu einem frühen Beginn des Sexuallebens und zu Drogen ermutigen.

„Eine russische Besatzung wäre eine Bedrohung für alle. Vor allem für Aktivist*innen.“

Im Donbass waren sie auch gegenüber LGBTIQ*-Personen grausam. Und Sexarbeiterinnen wurden vergewaltigt, wochenlang von ihnen in ihren militärischen Stützpunkten festgehalten und sexuell ausgebeutet, gedemütigt und zum Beispiel gezwungen, für sie zu kochen.

Das ist eigentlich Sklaverei. Sie haben das auch mit Menschen gemacht, die Drogen injizieren. Auch sie wurden an ihren Stützpunkten festgehalten, gefoltert und geschlagen. Und, und, und. Sie demütigen Menschen, die einen „ungesunden Geist“ haben.

Deshalb ist von den Russen in Sachen HIV-Prävention und -Behandlung nichts Gutes zu erwarten. In Mariupol haben sie eine Entbindungsstation bombardiert. Was können wir also erwarten? Eine russische Besatzung wäre eine Bedrohung für alle. Vor allem für Aktivist*innen. Die stehen auf ihren Listen.

Stehen Sie selbst auch auf so einer Liste?

Hoffentlich nicht, aber mein Chef definitiv. Das wissen wir mit Sicherheit. Niemand, der mit NGOs oder Aktivismus in Verbindung steht, kann sicher sein. Weil sie so sehr gegen jede Freiheit und Transparenz sind – und gegen jede Art von Zivilgesellschaft, die den Menschen außerhalb der staatlichen Einrichtungen hilft.

Sie werden Ihre Kinder über die Grenze bringen, selbst aber in der Ukraine bleiben?

Ich bin mir der Risiken bewusst. Aber wenn alle, die kämpfen und sich wehren können, weglaufen, wer wird dann die Ukraine schützen? Die ganze Welt kann sehen, was die Russen in die Welt bringen. Wenn wir das nicht aufhalten, bin ich mir nicht sicher, dass meine Kinder in Europa in Zukunft sicher sein werden. Wenn ich also eine Zukunft für meine Kinder haben will, muss ich hierbleiben, muss mein Bestes geben, muss kämpfen, mich einsetzen.

Wie sieht im Augenblick Ihre Arbeit aus?

Wir sind gerade dabei, unsere Programme komplett neu aufzustellen, kümmern uns nicht nur um Medikamente, sondern auch um Notunterkünfte, Nahrungsmittel, Transport, Evakuierungen, Wasser, sanitäre Einrichtungen und, und, und.

Unsere Hauptaufgabe besteht darin, HIV zu stoppen. Also müssen wir dafür sorgen, dass die Medikamente die Menschen erreichen, die sie brauchen.

Schätzungen gehen von mehr als 250.000 Menschen mit HIV in der Ukraine aus. Was wird passieren, wenn wir die Behandlungs- und Präventionsangebote unterbrechen?

Rachinska Valeria
Valeria Rachinska;
© 100% Life / www.network.org.ua

Bei Menschen, bei denen dank der Medikamente kein HIV mehr im Blut nachweisbar ist, kann man sich beim Sex nicht anstecken. Wenn sie längere Zeit keine Medikamente mehr bekommen, kann es wieder zu Übertragungen kommen. Außerdem bekommen wir eine neue Generation von HIV-positiven Kindern. Das hatten wir lange Zeit nicht mehr. Und wenn wir die Präventions- und Testangebote einstellen, werden wir Menschen haben, die nicht getestet werden, ihren Status nicht kennen und nicht behandelt werden, was auch zu HIV-Übertragungen führt.

Daneben geht es aber zum Beispiel auch um Evakuierungen unserer Leute – von Menschen mit HIV. Und natürlich um die Grundversorgung. Essen, Unterkunft und Wasser. Es ist Winter hier, minus 7 Grad, und wir haben Menschen ohne Obdach, ohne Kleidung und ohne Papiere. Wenn unsere Leute sterben, sind unsere Programme nutzlos.

Die Zahl der Fliehenden steigt immer weiter an. Immer mehr Menschen bewegen sich in Richtung Europa, und wir müssen sie unterstützen. Deshalb arbeite ich rund um die Uhr an Evakuierungen und der Beschaffung von Gütern.

„Hinter jeder Nachricht stehen verängstigte Menschen.“

Im Moment evakuieren wir zehn HIV-positive Jugendliche nach Westeuropa, Waisen aus Adoptivfamilien. Und wir bekommen ständig Nachrichten von Menschen, die Hilfe brauchen oder sich erkundigen, wo sie ihre Medikamente bekommen können. Unsere Aufgabe ist es, auf alles zu antworten. Denn hinter jeder E-Mail, hinter jeder Nachricht stehen verängstigte Menschen, die festsitzen oder die keine Medikamente oder Lebensmittel haben.

Was brauchen Sie am dringendsten?

Nun, erstens brauchen wir Medikamente zur Versorgung der Verletzten. Es gibt viele Kämpfe. Und zweitens brauchen wir Lebensmittel. Wir haben Geld, aber es gibt viele Probleme mit der Lieferung. Die Produktionsstätten für Lebensmittel sind geschlossen und die Verteilung der vorhandenen Mittel ist schwierig. Wir haben sogar Probleme mit LKW-Fahrern, weil alle Fahrer eingezogen werden. Um ehrlich zu sein: Wir brauchen einfach alles!

Noch eine Sache: Wenn die NATO wirklich humanistisch ist, muss sie den Himmel schließen. Um uns zu schützen. Das muss sie. Ich bin mir nicht sicher, ob Russland darauf reagieren würde oder könnte. Womit sollen sie reagieren? Sie haben keine Armee, das haben sie schon gezeigt. Sie haben keine wirtschaftliche Kapazität. Ja, sie haben Atomwaffen, aber um ehrlich zu sein, wenn man dieses Risiko bedenkt – all die Verwandten und Kinder und Enkel der Menschen, die Entscheidungen treffen, leben in NATO-Ländern! Deshalb glaube ich nicht daran. Auf keinen Fall.

Leute, seid nicht so erbärmlich.

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„Mein Traum ist, dass ich bald wieder auf der Chreschtschatyk spazieren gehe“

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Verpasste Chancen und späte Diagnosen

Über

Christopher Klettermayer

Christopher Klettermayer (er hat auch Beiträge unter dem Pseudonym Philipp Spiegel veröffentlicht) bekam 2014 seine HIV-Diagnose. Als Fotograf, Autor und Künstler beschäftigt er sich unter anderem mit Themen rund um HIV.

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