Zugang zur Gesundheitsversorgung

HIV-Therapie unbürokratisch – ein Modellprojekt in Berlin

Von Axel Schock
Person mit Bart nimmt eine Tablette ein.
© DAH | Bild: Renata Chueire

Menschen ohne Krankenversicherung oder mit einem unklaren Versichertenstatus haben es schwer, Zugang zur HIV-Therapie zu bekommen. Die Kooperation des Berliner Checkpoint BLN mit der örtlichen Clearingstelle macht nun unbürokratisch Behandlungen möglich – und könnte als Modell für andere Städte dienen.

Es ist eine unfassbar hohe Zahl: Rund 60.000 Menschen leben nach Schätzungen nichtstaatlicher Organisationen allein in Berlin ohne ausreichenden oder mit gänzlich fehlendem Krankenversicherungsschutz. Darunter sind neben Menschen in Wohnungs- und Obdachlosigkeit auch Selbstständige, die sich die Versicherung nicht leisten können oder wollen, aber auch Tourist*innen, Student*innen und EU-Bürger*innen, deren Krankenversicherung nur eingeschränkten Schutz bietet. Und nicht zuletzt Menschen, die ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Deutschland leben bzw. sich aufgrund einer fehlenden Arbeitserlaubnis nicht sozialversichern können.

Für Menschen, die ohne Krankenversicherung leben müssen, kann bereits eine akute Verletzung oder Erkrankung äußerst problematisch werden. Für eine chronisch-fortschreitende Krankheit eine Behandlung zu bekommen, ist jedoch fast unmöglich – für Menschen mit einer HIV-Infektion ist dies fatal.

Clearingstelle und Checkpoint arbeiten Hand in Hand

Im Zuge der von UNAIDS ausgerufenen Fast-Track Cities Initiative, der Berlin 2016 beigetreten ist, konnten unter anderem zwei zentrale, von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung geförderte Projekte realisiert werden, um insbesondere in den bislang nur begrenzt erreichten Bevölkerungsgruppen HIV-Infektionen diagnostizieren und behandeln zu können.

Der Checkpoint BLN bietet gezielt für schwule und bisexuelle Männer sowie trans* und inter* Menschen HIV-Prävention und -Tests sowie Beratung, Diagnostik und Behandlung anderer sexuell übertragbarer Krankheiten; hier kooperieren die Schwulenberatung Berlin, die Berliner Aidshilfe und die dagnä. Die Clearingstelle wiederum ermöglicht nicht krankenversicherten Menschen die notwendige medizinische Behandlung; Träger der Clearingstelle ist die Berliner Stadtmission.

Seit Dezember vergangenen Jahres arbeiten diese beiden Einrichtungen nun noch enger zusammen. Genauer gesagt übernimmt das Team des Checkpoint BLN bei HIV-Neudiagnosen im Bedarfsfall bereits selbst ein erstes Clearing und ermöglichst so einen schnelleren Beginn der HIV-Therapie. Gonorrhoe- oder Syphilis-Infektionen werden ohnehin schon unbürokratisch und aus dem eigenen Budget behandelt, wenn die Person nicht oder nicht ausreichend versichert ist und kein entsprechendes Einkommen vorweisen kann. Bei einer HIV-Therapie ist dies aufgrund der höheren Kosten jedoch nicht möglich.

„Wir prüfen zunächst, worauf die Patient*innen Anrecht haben, welche Zugänge zur Krankenkasse ihnen offenstehen oder helfen ihnen, sich zu versichern. Es gibt aber auch Fälle, wo es keine unmittelbare Lösung gibt“, schildert Jacques Kohl, psychosozialer Leiter des Checkpoint BLN, die Vorgehensweise. „Wir geben dann unsere Unterlagen an die Clearingstelle weiter, sodass dort das Clearingverfahren direkt fortgeführt werden kann.“

Noch ausreichendes Budget, doch keine finanzielle Sicherheit

Für ein Quartal, also maximal drei Monate, überbrückt der Checkpoint BLN nun die Finanzierung aus dem eigenen Budget. „Im Augenblick können wir das finanziell stemmen“, sagt Christoph Weber, der ärztliche Leiter des Checkpoint BLN. „Wir wissen aber nicht, wie sich der Etat und die Bedarfe entwickeln werden.“

Bereits während der ersten beiden Corona-Wellen hatte der Checkpoint unbürokratisch Menschen mit HIV-Medikamenten versorgt. Doch da ging es vor allem um in Berlin gestrandete Personen, die durch den Lockdown und die Einschränkungen im Flugverkehr nicht mehr in ihre Herkunftsländer reisen konnten, um sich dort mit Medikamenten zu versorgen, sich diese aber auch nicht so einfach per Post schicken lassen konnten. In rund 40 solcher Fälle konnte der Checkpoint BLN die HIV-Medikation überbrücken und übernahm bisweilen auch die notwendigen Laboruntersuchungen.

Das Problem gibt es in jeder größeren Stadt. Nur an Lösungen mangelt es fast überall

Im Februar 2022 bezogen rund ein Dutzend Menschen, bei denen ein Clearingverfahren notwendig war, ihre HIV-Medikamente über den Checkpoint BLN. Darunter war zum Beispiel ein Student aus dem asiatischen Raum, dem nicht bewusst war, dass das deutsche Gesundheitssystem so anders funktioniert und es die Medikamente nicht wie im Herkunftsland an der Universität gibt, sondern dafür eine Krankenversicherung notwendig ist. Andere Menschen mit HIV stammen aus Süd- und Mittelamerika und gehen künstlerischen Berufen nach oder leben von Sexarbeit, weil sie oft ohne Arbeitserlaubnis illegalisiert werden.

Gegenseitiger Wissenstransfer

Die Berliner Clearingstelle war sich lange unsicher, wie man mit chronischen Erkrankungen umgehen sollte, schließlich gab es noch keinerlei Erfahrungswerte, wie weit das Budget reichen oder ob es etwa durch die Übernahme von HIV-Therapien gesprengt würde. Solche Szenarien sind jedoch nicht eingetreten.

„Zwischen der Stadtmission als Träger der Clearingstelle und dem Checkpoint BLN besteht nun ein intensiver Erfahrungs- und Wissensaustausch“, berichtet Jacques Kohl. Das Team in der Clearingstelle profitiere von der fachlichen Expertise des Checkpoint BLN etwa zu HIV und Aids, aber auch zu gendersensibler Sprache und zum Umgang mit trans* Patientinnen. „Wir wiederum haben durch Schulungen sehr viel von der Clearingstelle zu dem recht komplexen Bereich Krankenversicherung gelernt.“

Das Problem, dass Menschen, die mit HIV leben oder einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind, nicht versichert sind, gibt es in jeder größeren deutschen Stadt. Nur an konkreten Lösungen bzw. an der dauerhaften Finanzierung mangelt es fast überall.

Versorgung meist auf ehrenamtlicher Basis

Das CASAblanca in Hamburg etwa bietet im Rahmen eines Modellprojekts seit Januar 2020 – und zunächst auf fünf Jahre befristet – eine kostenlose HIV-Therapie für Menschen ohne Krankenversicherung an. Damit soll Menschen geholfen werden, die durch fehlenden Versicherungsschutz und nicht ausreichende finanzielle Mittel sonst keinen Zugang zu einer Therapie hätten. Das Angebot ist an eine bedarfsgerechte Sozial- und Rechtsberatung gekoppelt und erfolgt, bis die Personen ins reguläre Versicherungssystem eingegliedert werden können.

Es gibt engagierte Personen, die sich von einer Einzelfall-Lösung zur nächsten retten

In anderen Städten gibt es zwar Clearingstellen oder Möglichkeiten der ärztlichen Versorgung von Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus. Doch die meisten der Projekte arbeiten auf ehrenamtlicher Basis, mit unzureichenden oder gar fehlenden finanziellen Mitteln. Menschen ohne Aufenthaltspapiere sind unter diesen Voraussetzungen von einer HIV-Versorgung daher oft ausgeschlossen.

Anonyme Behandlungsscheine geplant

„Es gibt einige engagierte Personen in der Versorgung und Beratung, die sich von einer Einzelfall-Lösung zur nächsten retten“, so der Eindruck von Holger Dieckmann. Er arbeitet in der Clearingstelle der Humanitären Sprechstunde des Vereins für Innere Mission in Bremen. „Die Lösungsversuche liegen dabei zwischen einer gesundheitlich begründeten aufenthaltsrechtlichen Regularisierung des Aufenthaltes und einer provisorischen, vorübergehenden, auch medikamentösen Versorgung.“ Beide Wege seien jedoch nicht verlässlich gesichert.

Er verspricht sich daher von der Einführung des geplanten „anonymisierten“ oder pseudonymisierten Krankenscheins eine verbesserte bzw. verlässlichere Versorgung. Der Vorteil eines solchen Krankenscheins: Die Patient*innen können damit ein Quartal lang unterschiedliche Ärzt*innen aufsuchen; bei der Clearingstelle muss dafür jeweils eine eigene Kostenübernahme ausgestellt werden.

Ein Vorbild für andere Städte

Das „Berliner Modell“ eines Checkpoints mit den Möglichkeiten des Clearings hat für Jacques Kohl dennoch Vorbildcharakter. Er plädiert für eine Gesundheitsversorgung, bei der möglichst viele Dienstleitungen unter einem Dach versammelt sind und – wie im Beispiel des Checkpoint BLN für sexuelle Gesundheit – Sozialarbeit und Medizin Hand in Hand arbeiten. „Dazu gehört, dass ich im Bedarfsfalle auch Hilfe bekomme, um überhaupt Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erhalten.“

Es lässt sich nicht vertreten, dass HIV-Infektionen bei Menschen ohne Versicherung unbehandelt bleiben

Christoph Weber sieht im Zuge der durch Corona ohnehin anstehenden Neugestaltung des öffentlichen Gesundheitsdienstes große Chancen, dass verstärkt Koalitionen mit freien, gemeinnützigen Trägerschaften eingegangen werden. Kleinere Städte etwa könnten überlegen, die Beratung zu sexueller Gesundheit von Gesundheitsämtern mit externen Behandlungs- und Betreuungsangeboten zu koppeln, so sein Vorschlag.

„Es lässt sich einfach nicht mehr vertreten, dass HIV-Infektionen bei Menschen ohne Krankenversicherung unbehandelt bleiben“, sagt Christoph Weber. Mit einer Beratungsstelle, die auch Clearingfunktion übernimmt, wäre dies seines Erachtens möglich – und das müsse sich jede Stadt leisten. „Man kann das Problem weiter ignorieren – oder Zugänge schaffen. Berlin zeigt, es geht, es ist möglich und nicht zu kompliziert.“

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