Menschenrechte

Claudia Jaworski: Aktivistin für Gefangenenrechte steht wieder vor Gericht

Von Axel Schock
Beitragsbild zum Beitrag
©Sinuswelle/stock.adobe.com; Bild: Marek Brandt
Im Verfahren gegen Claudia Jaworski geht es um die Frage, wie in Haft mit opioidabhängigen Menschen umgegangen wird.

Am 16. Oktober beginnt am Landgericht Traunstein ein neues Hauptverfahren gegen Claudia Jaworski. Im Kern geht es um die Frage, wie in Haftanstalten mit opioidabhängigen Menschen umgegangen wird.

Seit sechs Jahren bereits kämpft Claudia Jaworski für Gerechtigkeit. Andere hätten längst aufgegeben, das Urteil aus erster Instanz hingenommen und die rund 4000 Euro Strafe bezahlt. Denn dass sie tat, wofür sie ursprünglich angeklagt wurde, hat Claudia Jaworski nie bestritten. Die Frage aber ist, warum sie es tat und warum sie das Urteil eben nicht hingenommen hat, sondern die Aufmerksamkeit auf die Missstände in vielen Haftanstalten und insbesondere auf die JVA Bernau am Chiemsee gelenkt hat.

Dort saß ihr Bruder ein, wegen einer Lappalie. Seit seiner Jugend ist er heroinabhängig, seit vielen Jahren macht er eine Subtitutionstherapie. Um die Fahrtkosten in die weit entfernt liegende Substitutionspraxis zu sparen, fährt der Bruder oft ohne Ticket. Er wird erwischt und 2018 zu einer Haftstrafe verurteilt, die er in der Justizvollzugsanstalt Bernau absitzen muss. Dort jedoch wird ihm nicht nur die Freiheit entzogen, sondern auch die medizinische Behandlung verweigert: Mit Haftbeginn endet auch seine Substitutionstherapie, stattdessen zwingt ihn die JVA zu einem „kalten Entzug“.

Der Bruder bittet die Anstaltsärzte zwar mehrfach um eine Fortführung seiner Substitutionstherapie, doch die wird rüde abgelehnt. „Wir substituieren hier nicht. Besorg dir das Zeug doch auf dem Schwarzmarkt auf dem Hofgang“, soll ihm einer entgegnet haben. Damit wird er nicht nur seiner gesundheitlichen Rechte beraubt, sondern auch einem kriminellen Milieu ausgesetzt, das von Gewalt, Schuldenfallen und gefährlichen Ersatzpräparaten geprägt ist.

„Wir substituieren hier nicht. Besorg dir das Zeug doch auf dem Schwarzmarkt auf dem Hofgang.“

Angebliche Äußerung des Anstaltsarztes der JVA Bernau

Als Claudia Jaworski ihren Bruder in der JVA besucht, ist sie über seinem körperlichen und psychischen Zustand erschrocken. Er ist abgemagert, depressiv und äußert sogar Suizidgedanken. Von den Ärzten könne er keine Hilfe erwarten, sagt er seiner Schwester. „Die interessieren sich einen Dreck für uns, wir werden von denen auf den Schwarzmarkt geschickt“, zitiert sie ihn später bei ihrer Gerichtsverhandlung. Ein tödlicher Vorfall in der JVA wenige Monate zuvor – ein Häftling war nach Drogenschulden von Mitgefangenen erschlagen worden – verstärkt ihre Sorge zusätzlich.

Die Tat: Hilfe als „Notstandshandlung“

Im Oktober 2019 entschließt sich Claudia Jaworski deshalb, ihrem Bruder während eines Besuchs in der JVA Bernau zwei Tabletten des Substitutionsmittels Subutex zuzustecken.

Die Übergabe wird jedoch entdeckt, Kameras dokumentieren den Vorgang. Für die Staatsanwaltschaft ist der Fall eindeutig, und Claudia Jaworski erhält wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz einen Strafbefehl über 90 Tagessätze.

Doch Claudia Jaworski legt Einspruch ein. Am 15. Juni 2021 steht sie deshalb vor dem Amtsgericht Rosenheim. Schon in diesem Verfahren wird deutlich, dass es nicht allein um eine einzelne Tat geht, sondern um das System dahinter. Jaworski und ihr Anwalt legen detailliert dar, wie in der Justizanstalt Bernau mit Suchtkranken umgegangen wird. Nicht sie, sondern der zuständige Anstaltsarzt müsse eigentlich auf der Anklagebank sitzen, sagt Claudia Jaworski. Ihr Verteidiger spricht gar von „Folter“, weil Gefangenen medizinisch erforderliche Behandlungen systematisch verweigert würden.

Der Staatsanwalt zeigt zwar Verständnis und Mitgefühl für Jaworskis Einsatz für die Menschenrechte von drogenabhängigen Häftlingen, bleibt aber beim geforderten Strafmaß.

Auch die Richterin erkennt an, die Zustände in der Haftanstalt Bernau unhaltbar sind, und bezeichnet die Verweigerung der Substitution als „Frechheit“. Eine Notstandshandlung, wie von den Anwälten vorgebracht, sei rechtlich jedoch nicht gegeben, ihr Bruder habe noch nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft gehabt, um substituiert zu werden. Jaworski wird zu 60 Tagessätzen verurteilt – und kündigt an, alle Rechtsmittel auszuschöpfen, bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Der Kampf durch die Instanzen

Die folgenden Jahre sind geprägt von Berufungen, Revisionen und weiteren Verfahren. 2024 verurteilt das Landgericht Traunstein Jaworski in zweiter Instanz zu einer milderen Strafe von 45 Tagessätzen, diesmal wegen fahrlässiger Abgabe von Betäubungsmitteln.

Umso deutlicher fällt die Einschätzung der Richterin aus, was die Zustände in der JVA Bernau angeht. Der mediale Druck, den Claudia Jaworski aufgebaut hat, zeigt Wirkung. Endlich wird genauer auf die Sache geschaut. Dass die Anstaltsärzte dem Gericht unvollständige Akten vorgelegt haben, macht sie nicht unbedingt glaubwürdiger. Dass sie zwischen Betäubungsmitteln und Substitutionsmitteln keinen Unterschied sehen und beides als Drogen bezeichnen, lässt an ihrer fachlichen Kompetenz zweifeln.

Doch auch hier bleibt für die Angeklagte die entscheidende Frage unbeantwortet: War ihre Tat durch eine Notsituation gerechtfertigt? Weil das Landgericht diesen Aspekt bislang unberücksichtigt ließ, verweist das Oberlandesgericht München den Fall wieder ans Landgericht zurück.

„Die Wahrheit bricht sich Bahn, und ich merke, wie durch die Instanzen hinweg die Beteiligten immer nervöser werden.“

Claudia Jaworski

Parallel dazu müssen sich Jaworski und ihr Bruder weiteren Verfahren stellen: Die JVA-Ärzte haben beide wegen Verleumdung angezeigt, vermutlich, so Claudia Jaworski, um die Geschwister unglaubwürdig zu machen. Verhandelt wird in getrennten Verfahren. Bei ihrem Bruder wird kurzer Prozess gemacht und Entlastungszeugen werden nicht zugelassen. Dass er am Ende zu einer Geldstrafe verurteilt wird, weil er offen und ehrlich über die medizinischen Missstände in der Haftanstalt gesprochen hat, hat er nicht erwartet. Er erleidet noch im Gerichtsaal einen Nervenzusammenbruch.

Claudia Jaworski geht gut vorbereitet in ihre Verhandlung. Sie hat im Vorfeld die Medien über den Hintergrund dieses Prozesses in Kenntnis gesetzt und auch den bayrischen Justizminister auf den Fall aufmerksam gemacht – und wird im November 2024, obgleich für die gleiche Tat angeklagt, vom Amtsgericht Rosenheim rechtskräftig freigesprochen. Der Richter würdigt, dass sie ihre Aussagen sorgfältig recherchiert und auf zahlreiche ähnliche Fälle gestützt hat. Der Versuch, Claudia Jaworskis Glaubwürdigkeit zu erschüttern, ist gescheitert. Im Gegenteil: Sie geht gestärkt aus dem Verfahren hervor.

Systemische Fragen: Substitution in Haft

Vor allem aber hat der Fall nun bundesweite Aufmerksamkeit erlangt und ein strukturelles Problem in den Blick gerückt. Während die Bundesärztekammer seit Jahren empfiehlt, opioidabhängige Menschen kontinuierlich zu substituieren – unabhängig davon, ob sie sich in Freiheit oder in Haft befinden –, setzt man in den Gefängnissen in Bayern (sowie in weiteren Bundesländern) traditionell eher auf Abstinenzprogramme und kalten Entzug – entgegen der klaren Empfehlung der Ärztekammer.

Für Claudia Jaworski geht es längst nicht mehr allein um ihren persönlichen Fall. Die Auseinandersetzung um ihren Bruder hat ihr Leben verändert und sie zu einer Aktivistin für Gefangenenrechte gemacht. Ihr Anliegen ist, die systemischen Missstände sichtbar zu machen: die Verletzung der Fürsorgepflicht, die Verweigerung medizinisch notwendiger Therapien, die doppelte Bestrafung durch Entzug, menschenunwürdige Disziplinarmaßnahmen und die Gefährdung von Menschenleben hinter Gefängnismauern.

Sie gibt Interviews und verschafft sich fachliche Expertise, hört zum ersten Mal vom Äquivalenzprinzip: Die medizinische Versorgung in Haft darf nicht schlechter sein als die von Kassenpatient*innen draußen. „Da ist mir klargeworden: Die Strafe ist der Freiheitsentzug. Der darf aber nicht zusätzlich zum Entzug von Menschenrechten beziehungsweise medizinischer Versorgung führen“, erläutert Claudia Jaworski im Gespräch mit der Deutschen Aidshilfe.

Ein neues Hauptverfahren

Das Oberlandesgericht München hebt das Traunsteiner Urteil schließlich auf und verweist den Fall ans Landgericht zurück, weil die Frage der Notstandshandlung bislang nicht ausreichend geprüft worden ist. Am 16. Oktober 2025 kommt es deshalb in Traunstein erneut zu einem Hauptverfahren, das als Präzedenzfall für die medizinische Versorgung in Haftanstalten dienen könnte.

Jaworskis Verteidiger – darunter renommierte Jurist*innen wie Prof. Dr. Christine Graebsch und Prof. Dr. Helmut Pollähne – wollen darlegen, dass ihre Tat nicht als kriminelles Delikt, sondern als rechtlich zulässige Notstandshandlung zu werten ist. Die Staatsanwaltschaft hingegen hält weiter an der Anklage fest.

Claudia Jaworskis Bruder ist als Zeuge geladen und wird, wie schon bei den vorangegangenen Verhandlungen, erneut seine Erlebnisse schildern müssen. Er lebt seit mittlerweile fünf Jahren wieder in Freiheit, erhält die notwendige und ihm zustehende Substitutionstherapie, ist berufstätig und könnte mit seiner Partnerin ein ruhiges Leben leben – wenn ihn die Vergangenheit nicht immer wieder einholte. Auch deshalb hofft Claudia Jaworski, dass bei der neuerlichen Verhandlung dieses Kapitel endlich geschlossen werden kann. „Er hat sicher nicht damit gerechnet, immer wieder zurückschauen zu müssen“, erklärt Jaworski im Gespräch. Das habe durchaus etwas Retraumatisierendes. Zugleich habe die Aufmerksamkeit, die sein Fall bekommen hat, auch positive Seiten. „Sie hat sein Selbstbewusstsein gestärkt und ihm ein Gefühl von Selbstwirksamkeit gegeben.“

Jaworski ist sicher, dass der Prozess mit einem Freispruch enden wird. „Die Wahrheit bricht sich Bahn, und ich merke, wie durch die Instanzen hinweg die Beteiligten immer nervöser werden“, sagt Claudia Jaworski. „Die Anstaltsärzte stolpern über ihre eigenen Füße.“

Zwar hat sich die Situation in Bernau inzwischen verbessert: Rund 80 bis 90 von etwa 800 Gefangenen erhalten heute Substitutionsmittel. Doch gemessen am Bedarf ist dies immer noch wenig. Fachleute wie der Suchtforscher Heino Stöver betonen, dass fehlende Substitution nicht nur Leiden verlängert, sondern auch kriminelle Strukturen im Gefängnis stärkt.

Die beiden Anstaltsärzte, die seinerzeit ihrem Bruder die Substitution verweigert hatten, sind inzwischen zwar pensioniert, doch Claudia Jaworski bezweifelt, dass sich die Grundhaltung in der JVA seither wirklich verändert hat. Umso wichtiger ist ihr Engagement – und umso größer die Hoffnung auf ein bahnbrechendes Urteil.

Weitere Beiträge zum Thema (Auswahl):

Der lange Kampf gegen den kalten Entzug (Beitrag von Timo Stukenberg auf deutschlandfunkkultur.de vom 21.06.2021)

Opioidabhängige Menschen in Haft: Am unteren Ende der Hierarchie (Beitrag von Petra Bührung im Deutschen Ärzteblatt, Ausgabe 47/2019)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

77 + = 80