„Diamorphin muss jedem Menschen mit Opiatkonsum zugänglich gemacht werden“
Seit 2009 ist die Behandlung von Drogengebraucher*innen mit pharmazeutischem Heroin (Diamorphin) in Deutschland zugelassen, bleibt aber unter ihren Möglichkeiten. Wir sprachen darüber mit Dirk Schäffer.
Dirk leitet den Fachbereich Drogen und Strafvollzug der Deutschen Aidshilfe. Er kommt aus der Selbsthilfe und arbeitet eng mit Selbsthilfenetzwerken wie JES zusammen, um lebensrettende und schadensminimierende Angebote für Drogengebraucher*innen auszubauen – zum Beispiel die Substitutionsbehandlung, bei der „Ersatzstoffe“ für Heroin eingesetzt werden.
Das Gespräch gehört zu einer dreiteiligen Interview-Reihe von Philine Edbauer (#MyBrainMyChoice) zum Thema Diamorphin.
Dirk, die Substitutionsbehandlung für Heroinkonsument*innen gibt es in der jetzigen Form seit Anfang der 1990er-Jahre. Die Behandlung mit Diamorphin, also medizinisch reinem Heroin, wurde erst 2009 zugelassen. Warum so viel später? Der Gedanke, bei einer Heroin-Abhängigkeit Heroin ohne Streckstoffe und mit medizinischer Begleitung einzusetzen, müsste ja längst naheliegend gewesen sein, oder?
Genau, schon Anfang der 1990er, kurz nach der Gründung von JES, haben wir von Originalstoffvergabe gesprochen. Ins Rollen kam das dann durch die Schweiz – dieses Jahr gibt es dort 30 Jahre die Diamorphin-Behandlung mit Tabletten und auch mit flüssigen Medikamenten. Man hat sehr früh gesehen, dass das eine gute Alternative zur Substitution mit den „üblichen“ Medikamenten wie Methadon oder Buprenorphin sein kann, dass der Beikonsum sinkt und die Leute deutlich zufriedener sind in ihrem Leben, weil sie das Rauscherleben haben, aber sich nicht mehr dafür kriminalisieren lassen müssen und den illegalen Kontext verlassen können.
Und dann haben die Deutsche Aidshilfe und der Fachverband Akzept gesagt: Lasst uns versuchen, die Ergebnisse aus der Schweiz zu nutzen, um dasselbe hier in Deutschland zu machen.
Dirk Schäffer, Referent für Drogen und Haft der Deutschen AidshilfeDie Diamorphinbehandlung ist eine sehr erfolgreiche Alternative zur Methadonbehandlung.
Die Regierung hat sich aber nicht davon überzeugen lassen, dass man die Medikamente auf Grundlage der Zulassungsstudien aus der Schweiz auch für Deutschland zulässt. Stattdessen beschloss sie 1998, einen Modellversuch durchzuführen. Er lief unter dem Namen „Heroinstudie“ von 2002 bis 2005 in Hamburg, Bonn, Hannover, Karlsruhe, Frankfurt, Köln und München – und kostete insgesamt 32 Millionen Euro.
An der Studie nahmen rund 1.000 Drogengebraucher*innen teil, bei denen bisherige Therapieversuche nicht erfolgreich waren, die noch gar keine Therapie gemacht hatten oder bei denen die Methadon-Behandlung nicht gut funktionierte. Sie wurden nach Zufall in zwei Gruppen aufgeteilt: Die einen bekamen Methadon, die anderen injizierbares Heroin, also Diamorphin, als Medikament. Nach der Studie war klar: Die Diamorphinbehandlung ist in dieser Gruppe – man sprach hier von „Schwerstabhängigen“ – eine sehr erfolgreiche Alternative zur Methadonbehandlung.
Danach ging es darum, die neue Behandlung kassenfinanzierbar zu machen, was allerdings sehr umstritten war und erst 2012 gelang.
Die SPD war damals in einer Großen Koalition mit der CDU, und die Union war strikt dagegen. Die SPD hat das aber zur Gewissensentscheidung erklärt und dann mit den Linken, den Grünen und der FDP gegen die eigene Koalition beschlossen. Jens Spahn hatte am Abend vor der Abstimmung alle Bundestagsabgeordneten angeschrieben und sie und insbesondere die SPD gewarnt, dem Gesetz zuzustimmen. Bis auf einen haben aber alle Abgeordneten der SPD und sogar elf Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion dafür gestimmt, nämlich jene, die aus den Städten kamen, in denen es die Behandlung schon gab.
Das Ganze war damals sehr moralbesetzt, völlig losgelöst von medizinischer und wissenschaftlicher Expertise. So war zum Beispiel aus den Reihen der Union von „Heroin auf Krankenschein“ und dem „Staat als Dealer“ die Rede, außerdem wurde die Gefahr einer Kostenexplosion an die Wand gemalt. Letztendlich haben es aber Konsument*innen und die Ärzt*innen, die davon überzeugt waren, vorangebracht und haben es verstanden, die Politik in die Spur zu setzen.
Was war das für ein Moment für euch, die ihr euch für den Beschluss eingesetzt hattet? Habt ihr das gefeiert?
Ich saß damals in der Geschäftsstelle der Deutschen Aidshilfe vorm Rechner und habe mir den Livestream angeguckt, das war schon ziemlich spät am Abend. Als das Ergebnis dann bekanntgegeben wurde, sind viele Abgeordnete aufgesprungen und sich in die Arme gefallen, über Parteigrenzen hinweg, und haben sich gar nicht mehr beruhigt. Das war schon sehr emotional und ich habe mich natürlich sehr gefreut, nachdem ich bei der Anhörung dabei war und am Anfang überhaupt nicht abzusehen war, ob ein Beschluss über die Kassenfinanzierung gelingen konnte.
Die Diamorphinbehandlung ist jetzt seit 2012 Kassenleistung, aber es gibt Kritik an den Rahmenbedingungen. Was sind die Herausforderungen?
Derzeit gibt es sieben Punkte, die man erfüllen muss, um in die Diamorphin-Behandlung zu kommen, und das ist einzigartig. In negativer Hinsicht. Erstens: Patient*innen müssen fünf Jahre heroinabhängig sein. Zweitens: Das 23. Lebensjahr muss vollendet sein. Drittens: Es müssen zwei erfolglos beendete Behandlungen vorliegen, davon eine mindestens sechsmonatige Substitutionsbehandlung einschließlich psychosozialer Betreuung. Viertens: Patient*innen müssen unter einer oder mehreren schweren somatischen und psychischen Funktionsstörungen leiden. Fünftens: Patient*innen müssen überwiegend intravenös konsumieren. Sechstens: In den ersten sechs Monaten der Behandlung müssen Maßnahmen der psychosozialen Betreuung stattfinden. Siebtens: Nach jeweils spätestens zwei Jahren Diamorphin-Behandlung muss geprüft werden, ob die Voraussetzungen noch gegeben sind. Diese Prüfung erfolgt durch suchtmedizinisch qualifizierte Ärzt*innen, die nicht der Einrichtung angehören.
Dirk Schäffer, Referent für Drogen und Haft der Deutschen AidshilfeDiamorphin gilt gewissermaßen als … Mittel der letzten Wahl. Das hängt natürlich damit zusammen, wie es eingeführt wurde.
Unser Ziel ist, die Behandlung allen zugänglich zu machen, die opiatabhängig sind. Ganz einfach. Die Diamorphinbehandlung muss der Substitutionsbehandlung mit Methadon und anderen oralen Ersatzstoffen zudem gleichgestellt werden, sodass es also, außer der Bedingung, dass Diamorphin in einem sogenannten Applikationsraum zu verabreichen ist, keinen rechtlichen Unterschied mehr gibt. Daran arbeiten wir gerade. Der wichtigste Punkt ist, dass eine Diamorphinbehandlung ohne vorheriges Scheitern einer Substitution mit Methadon, Buprenorphin oder Morphin geschehen kann.
Wäre damit dann in Sachen Diamorphin-Behandlung alles erreicht?
Nein, wünschenswert ist, dass es Diamorphin endlich als Tablette gibt. Dann können alle Ärzt*innen, die jetzt schon substituieren, auch mit Diamorphin behandeln und es bräuchte diese Ambulanzen mit den Applikationsräumen nicht. Die sind nämlich teuer und erfordern viel Personal, und außerdem ist der Aufwand für die Patient*innen hoch, weil sie jedes Mal dorthin müssen. Viele schließen die Diamorphin-Behandlung auch deshalb für sich aus, weil sie sich vornehmen, „Ich höre jetzt ganz auf, ich will nicht mehr zurück an die Nadel“. Diesen Wunsch kann ich auch gut verstehen. Auch deshalb ist die Tablette extrem wichtig.
Tatsächlich gibt es einen Antrag auf Zulassung von Diamorphin-Tabletten. Ob dieser Antrag aberohne Zulassungsstudie genehmigt wird, ist aktuell unsicher.
Wäre Diamorphin als Tablette nicht auch deshalb wichtig, weil mit dem Spritzen immer noch ein Stigma verbunden ist?
Klar. Und auch Substituierte blicken ein bisschen auf die Leute hinab, die Diamorphin kriegen. Da gilt Diamorphin gewissermaßen als Loser-Medikament für all jene, wo was anderes keinen Erfolg gebracht hat, quasi als Mittel der letzten Wahl. Das hängt natürlich damit zusammen, wie es eingeführt wurde.
Deswegen ist es für die Überwindung dieses Stigmas meiner Meinung auch sehr wichtig, die Voraussetzung fallen zu lassen, dass man vorher oral substituiert wurde. Derzeit ist es ja für Ärzt*innen nicht möglich, jemanden, der von der Straße oder aus der Drogenberatung kommt und sagt, ich möchte Diamorphin, zu behandeln. Die Person müsste erst sechs Monate ein anderes Medikament nehmen, muss scheitern, was auch immer man als Scheitern definiert, und kann erst dann behandelt werden. Wenn Diamorphin ein Medikament der ersten Wahl wird, dann verändert sich, glaube ich, auch die Haltung von Menschen dazu.
Siehst du insgesamt eine Bewegung zur Entstigmatisierung von Menschen, die Drogen konsumieren, in den Medien und in der Gesellschaft?
Nicht wirklich. Wir versuchen das als Deutsche Aidshilfe, andere Institutionen ebenfalls, aber in Deutschland gab es noch nie eine große öffentliche Kampagne, die zur Entstigmatisierung von Drogengebraucher*innen maßgeblich beitragen konnte. In anderen Ländern schon. In Norwegen zum Beispiel gab es eine öffentliche Kampagne der NGO Rusopplysningen mit Slogans wie „John ist nicht gestorben, als er eine Heroin-Überdosis hatte, weil er nicht allein war und seine Freund*innen Naloxon dabei hatten“ oder „Emma ist nicht an einer Alkoholvergiftung gestorben – ihre Freund*innen erkannten die Symptome und haben den Rettungsdienst gerufen“.
Wie stark das Stigma ist, hat man zum Beispiel auch in Berlin-Kreuzberg gesehen, das ja eher als links-grün gilt. Als man dort 2009 die Eröffnung eines Drogenkonsumraums ankündigte, gingen die Leute mit Schildern wie „Dealer raus“ oder „Ich will keine Spritzen in meinem Garten“ auf die Straße. Und so verhindert das Stigma oft, dass dringend benötigte Angebote eingerichtet werden.
In den Medien wurden zuletzt öfter Bilder von Menschen gezeigt, die in der Öffentlichkeit und unter sehr schlechten Umständen Drogen konsumieren. Wie blickst du auf diese Art der Berichterstattung?
Das ist für die gesellschaftliche Akzeptanz eine Katastrophe, weil es Bilder verfestigt oder gar verschlimmert. Wenn man nüchtern draufblickt, gibt es ja Gründe für das Verhalten der Leute. Zum Beispiel, wenn sie unter dem Einfluss von sedierenden Substanzen in einer Hock- und Kipphaltung verharren, weil sie einfach vermeiden wollen, in der Öffentlichkeit auf der Straße zu liegen. Durch den in den letzten Jahren stark aufkommenden Konsum von Crack, der mit sehr langen Phasen ohne Schlaf verbunden sein kann, kommt es vor, dass Menschen sehr müde sind und dort einschlafen, wo sie sich gerade aufhalten. Diese Bilder werden mit höchst stigmatisierenden Begriffen verwendet. Das Ganze wirkt meist voyeuristisch und sensationslüstern, die Individualität der Menschen und die Gründe für diese Situationen werden komplett ausgeblendet. Und auch nach Hilfsmöglichkeiten fragt kaum jemand.
Dirk Schäffer, Referent für Drogen und Haft der Deutschen AidshilfeStigma und Kriminalisierung tragen dazu bei, dass viele Menschen erst sehr spät Hilfe suchen.
Es gibt ja viele hunderttausende Menschen, die psychoaktive Substanzen konsumieren, aber gezeigt werden immer nur diejenigen, denen es besonders schlecht geht, die da sitzen, hocken, liegen oder schlafen, jedoch nie diejenigen, die sozial integriert konsumieren. Die Folge ist, dass die Menschen denken, allen Drogenkonsumierenden gehe es so schlecht.
Wie lässt sich denn das Elend, das es ja unbestreitbar auch gibt, vermeiden?
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir dazu, neben der Anti-Stigma-Arbeit, den Pfad der Kriminalisierung verlassen müssen. Stigma und Kriminalisierung tragen dazu bei, dass viele Menschen erst sehr spät Hilfe suchen. Erst dann, wenn es kaum mehr anders geht. Und zur Entkriminalisierung gehört dann auch der legale Zugang.
Also Originalstoffvergabe von Benzodiazepinen, Crack, Kokain und Methamphetaminen?
Ja, zum Beispiel. Man sieht ja, was Substitution erreichen kann: dass es Menschen damit besser geht. Ein Weiter-so wie bisher bringt uns jedenfalls nicht weiter. Die Kriminalisierung führt dazu, dass die Stoffe völlig unkontrolliert sind und der Konsum mit gesundheitlichen Risiken einhergeht. Da Erwerb und Besitz Straftaten sind, kommt es unweigerlich dazu, dass Drogenkonsumierende im Strafvollzug landen und in der Regel ihre Wohnung und ihre sozialen Bezüge verlieren. Das alles nach der Haft wiederzufinden, ist außerordentlich schwer. Das sieht man auch an denen, die ohne eigenen Wohnsitz sind, ohne Obdach, und mehr oder weniger draußen leben. Aber solange die Bilder so sind, wie sie sind, wird sich der Blick der Gesellschaft auf Menschen, die Drogen konsumieren, nicht wirklich verändern.
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