Diskriminierung

Gegen den Strom: Was es bedeutet, kein Passing zu haben

Von Gastbeitrag
©The Gender Spectrum Collection

Ahmed Awadalla reflektiert als queere Person of Color das Konzept „Passing” und seine Überschneidungen mit Identität, Akzeptanz und Zugehörigkeit.

In einem Workshop sind alle Fragen erlaubt, aber diese hat mich dann doch kalt erwischt.

Als Sexualpädagoge durfte ich schon Workshops für viele verschiedene Menschen geben, vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene. Vor einigen Jahren befand ich mich in einer einzigartigen Situation: in einem Flüchtlingslager in Berlin. In meiner Zeit bei der Berliner Aids-Hilfe koordinierte ich das Projekt Safer Welcome. Unser Ziel war es, einen sicheren und geschützten Raum für junge Geflüchtete und Asylsuchende zu schaffen, in dem sie Informationen zu sexueller Gesundheit erhalten und Fragen stellen können.

Die Fragen der Jugendlichen waren dabei so vielfältig wie ihre Herkunftsländer. Sie fragten nach allem Möglichen: Selbstbefriedigung, Flirten, Kondome, Jungfräulichkeit – wirklich alles. Jede Frage gewährte Einblicke in ihre Welt, ihre Neugierde und ihr Verlangen, ihren Körper und ihre Beziehungen besser zu verstehen.

Aber dann kam in einem dieser Workshops eine Frage auf, die mich wirklich überrumpelte. Ein junger Mann war zögerlich und ich ermutigte ihn. Schließlich fragte er: „Warum starren uns einige der Deutschen so negativ und hasserfüllt an?“ Ich schaute mich um und sah neugierige Blicke. Andere nickten, als ob sie dieselbe Frage gehabt hätten. Ich war betroffen. Wie beantwortet man eine solche Frage taktvoll? Wie erklärt man Teenagern die harte Realität des Rassismus? Wie erklärt man ihnen, dass sie in ihrem neuen Zuhause kein „Passing“ haben?

Der Begriff „Passing“ bezieht sich auf die Fähigkeit einer Person, als Mitglied einer anderen Identitätsgruppe oder Kategorie als der eigenen angesehen zu werden.

Ahmed Awadalla

Der Begriff „Passing“ bezieht sich auf die Fähigkeit einer Person, als Mitglied einer anderen Identitätsgruppe oder Kategorie als der eigenen angesehen zu werden. In Gesprächen über Rassismus bezieht sich „white-passing“ auf eine Person mit (teilweise) rassifizierter Herkunft, die von anderen Menschen als weiß wahrgenommen wird. Das kann aufgrund des äußeren Erscheinungsbilds, von Verhaltensweisen oder kultureller Assimilation geschehen und ermöglicht es der Person in der Regel, sich in sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Bereichen mit Privilegien zu bewegen, die normalerweise nur weißen Menschen gewährt werden. In westlichen Ländern können allerdings viele People of Color aufgrund ihres Aussehens, ihres Namens oder ihres Auftretens nicht als weiß „passen“.

„Passing“ wird häufig auch im Zusammenhang mit Geschlecht und Sexualität verwendet. In der trans Community bezieht sich diese Lesart auf die Fähigkeit einer trans Person, von anderen als ihr tatsächliches Geschlecht wahrgenommen zu werden – statt als das Geschlecht, das ihr bei der Geburt zugewiesen wurde. Das kann bedeuten, sich den gesellschaftlichen Normen des Geschlechtsausdrucks anzupassen, z. B. in Bezug auf Aussehen, Stimme und Verhaltensweisen, um nicht falsch zugeordnet oder diskriminiert zu werden. Dieses Konzept lässt sich auch auf andere Aspekte des Lebens anwenden – zum Beispiel auf Sexualität.

Queer aufzuwachsen war für mich nicht einfach. Wenn Menschen über ihr Coming-out und darüber sprechen, sich nicht mehr verstecken zu müssen, finde ich das irgendwie amüsant. Als queeres Kind in einer Kleinstadt in Ägypten konnte ich mich nicht verstecken – ich fiel einfach auf, und das hatte Konsequenzen. Mir wurde oft gesagt, ich solle mich mehr wie ein Mann verhalten. Vor allem in der Pubertät – einer Lebensphase, die wohl für alle eine der größten Herausforderungen ist. Der Körper verändert sich, und viele von uns sind nicht darauf vorbereitet. Und selbst wenn wir es sind, kann der Aufruhr der Gefühle überwältigend sein. Wir sind verwirrt und suchen nach Bestätigung und Unterstützung.

Ahmed Awadalla

Ich erinnere mich noch lebhaft an ein Erlebnis bei meinem ersten Fußballspiel in der Schule. Ich hatte noch keine Haare am Körper, ich war unbeholfen und frühreif – und wirkte damit weiblich. Durch meine feminine Ausstrahlung war ich für die anderen Jungs sowohl anstößig als auch begehrenswert. Ich war ihren Schikanen und sexuellen Belästigungen ausgesetzt. Meine Sexualität wurde eingeordnet, noch bevor ich sie überhaupt verstanden hatte.

Auch Sportplätze sind Orte, an denen die Geschlechtsidentität streng und gewaltsam kontrolliert wird. Für diejenigen, die von den vorgeschriebenen Gender-Normen abweichen, können sie unbehagliche Orte sein. In meiner Schule durften die Jungs zum Beispiel Fußball oder Basketball spielen, während den Mädchen Tennis und manchmal Gymnastik offen stand. Auch die Kleidung unterschied sich. Die Jungs durften lockere Kleidung tragen, während von den Mädchen erwartet wurde, dass sie ihre Haut bedeckten oder Strumpfhosen trugen, was schon eine große Ausnahme war. Mädchen wurden von Anfang an als Sexualobjekte gesehen.

Viele queere Menschen passen sich an ihre Umgebung an. Sie gehen anders, reden anders, kleiden sich anders, geben sich als hetero- oder bisexuell aus – sie bemühen sich um ein Passing. Und ich verstehe das. Natürlich möchte man nicht auffallen, denn man könnte ja abgelehnt, ausgeschlossen oder angegriffen werden. Und man möchte doch akzeptiert und geliebt werden, auch wenn man sich dafür teilweise selbst verleugnen muss. Manchmal findet diese Dynamik auf einer viel tieferen, unbewussten Ebene statt. Der gesellschaftliche Druck kann dazu führen, dass man sich an heterosexuelle Normen und Beziehungen anpasst – egal, welche sexuelle Orientierung man tatsächlich hat.

Durch die feministische Autorin Adrienne Rich lernten wir das Konzept der Zwangsheterosexualität kennen. Sie argumentierte, dass Heterosexualität nicht nur eine sexuelle Vorliebe ist, sondern eine politische Institution, die männliche Dominanz aufrechterhält und andere Sexualitäten ausgrenzt. Daher kann Heterosexualität als Versuch gelesen werden, in ein einfacheres, überschaubareres Leben zu „passen“.

Mir wurde klar, dass ich mich nicht an die Erwartungen der Gesellschaft anpassen konnte, und ich glaube, ich habe das zu schätzen gelernt. Anstatt mich um Passing zu bemühen, habe ich die Norm hinterfragt und versucht, sie auszureizen. Die Arbeit im Bereich der sexuellen Gesundheit war deshalb ein logischer Schritt. So etwas galt als Tabu, eine Entscheidung, die andere nicht verstanden haben, da sie häufig als zu unkonventionell galt. Aber für mich ging es darum, Menschen zu stärken, die sich in ihrem Umfeld nicht zugehörig fühlten, und unterschiedliche Maßnahmen und Ansätze zu fördern, um inklusive und gerechte Communitys zu schaffen.

Ich habe versucht, das Beste aus dem Wissen zu machen, dass ich kein Passing hatte.

Ahmed Awadalla

Queer zu sein, fühlt sich manchmal so an, als würde man gegen den Strom schwimmen. Ich habe versucht, das Beste aus dem Wissen zu machen, dass ich kein Passing hatte.

Aber Geschlecht und Sexualität sind nicht die einzigen Schubladen, in die man Menschen stecken kann. Mit Rassismus wurde ich erst später im Leben konfrontiert, als ich nach Deutschland zog. Es ist immer ein Privileg, seinen Platz in der Gesellschaft nicht in Frage stellen zu müssen. Die Zugehörigkeit zu einer Mehrheit bedeutet, nicht persönlich betroffen zu sein. Dies kann dazu führen, dass man die Machtdynamik, die das Leben anderer prägt, nicht wahrnimmt. Durch meinen Umzug nach Deutschland musste ich mich tiefer mit Rassismus auseinanderzusetzen.

Die Frage des Jungen im Workshop weckte Erinnerungen an meine erste Zeit in Berlin. Ich war mir meines Andersseins sehr bewusst. Die Blicke auf der Straße und in der U-Bahn machten mir sehr zu schaffen. Einfache Interaktionen waren unnötig mühsam. Berlins unverblümte und ungeschliffene Umgangsformen waren ein Schock für mich (und ist es manchmal heute noch).

Eines Tages griff mich eine Gruppe von Männern an und sagte, dass ich zu denen gehören müsse, die wegen Merkel mit dem Boot hergekommen seien. Ich war schockiert. Ich wollte antworten, dass ich mit dem Flugzeug gekommen war und es meine – und nicht Merkels – Entscheidung war, aber wahrscheinlich hätten sie das nicht amüsant oder aufschlussreich gefunden. Ich fand es seltsam, welche Vorurteile mir entgegenschlugen. Meine Identität und mein Lebensweg wurden auf einfache Stereotypen reduziert. Die Bewältigung solcher Spannungen im Alltag ist untrennbar mit dem Leben von People of Color in der westlichen Gesellschaft verbunden. Dies hat einen nachhaltigen Einfluss darauf, wie ich mich selbst und andere in dieser Gesellschaft wahrnehme.

Berlin ist auch eine queere Oase, und ich suchte nach queeren Räumen, in denen ich mich endlich entspannen konnte. Anfangs fühlte es sich befreiend an. Aber diese neu gewonnene Freiheit brachte bald eine andere Art von Rassismus zum Vorschein: den sexuellen Rassismus. Es war entmutigend, ausschließlich als Fetisch ohne echte Beziehung objektifiziert zu werden. Ich bin dabei auch auf positiven Rassismus gestoßen: auf Komplimente, die auf subtile Weise Stereotypen verstärken. Ich habe Sätze gehört wie „Aber du bist zivilisiert“ oder „Du bist klug, du bist nicht wie die anderen Migrant*innen“. Diese Mischung aus Befreiung und subtilen Vorurteilen führte zu einer komplexen, oft unangenehmen Erfahrung.

Ich habe Jahre gebraucht, um zu verarbeiten, wie sich Rassismus auf mein Leben in Deutschland ausgewirkt hat. Rassismus kann viele Formen haben: von offener Gewalt und Beleidigungen bis hin zu heimtückischen und gefährlichen Aspekten, die unsichtbar sind. Es kommt einer Infantilisierung gleich – man wird als weniger fähig oder wissend dargestellt, vergleichbar mit der geschlechtsspezifischen Dynamik beim Mansplaining. Es entsteht Druck, in Beziehungen, bei der Arbeit und in anderen Lebensbereichen makellos zu funktionieren. Ich habe das Gefühl, dass ich für dieselben Fehler härter verurteilt werde und im Zweifelsfall seltener zu meinen Gunsten entschieden wird.

Indem wir auffallen, können wir anderen zeigen, dass Unterschiede nicht gefürchtet oder ausgelöscht, sondern gefeiert werden sollten.

Ahmed Awadalla

Als queere Person of Color erlebte ich ständig, wie meine Identität verhandelt wurde. Ich hatte oft das Gefühl, einen Teil von mir verbergen zu müssen, um dazuzugehören. So wie Passing schon für mich als queere Person keine Möglichkeit war, wurde es als Person of Color in einer weißen Mehrheitsgesellschaft unmöglich. Glücklicherweise gibt es in Berlin eine blühende Queer-of-Color-Szene, die ständig neue Safe Spaces schafft, in denen Menschen ihre Identität nicht verstecken müssen, um dazuzugehören. Diese Räume sind lebenswichtig und verdienen es, unterstützt und gestärkt zu werden.

Diese Erfahrungen haben mir die Augen geöffnet und mein Verständnis von Identität, Akzeptanz und Zugehörigkeit auf tiefgreifende Weise verändert. Es ist ein Weg der Selbstentdeckung inmitten von gesellschaftlichem Druck und persönlichem Wachstum, auf dem jeder Schritt nach vorn ein Beweis für Widerstandsfähigkeit und das Streben nach einem authentischen Leben ist. Eine befreundete Person sagte einmal zu mir: „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom“.

Um auf die Frage zurückzukommen, die mich beim Workshop so kalt erwischt hat: Sie hat mir viele dieser komplexen Themen ins Gedächtnis gerufen. Für mich suchte der junge Mann nach der gleichen Bestätigung und demselben Verständnis, wie ich es mein ganzes Leben lang getan hatte. Bei der Beantwortung seiner Frage konnte ich die Erfahrungen meines eigenen Wegs zu Identität und Zugehörigkeit einfließen lassen.

Manchmal haben die Menschen Angst vor dem, was sie nicht verstehen. Dies spiegelt nicht de Werts einer Person, sondern die Unwissenheit der anderen. Wir können auf diese Formen der Diskriminierung auf vielerlei Weise reagieren: Wir können sie anprangern, Menschen damit konfrontieren oder uns für Schweigen und Ausweichen entscheiden. Aber letzten Endes kommt es darauf an, die Unterstützung einer Community und echte Verbündete zu finden.

Kein Passing zu haben und sich nicht anzupassen kann ein Akt des Widerstands sein. Dadurch können wir die Rahmenbedingungen, die uns einschränken, hinterfragen und aufbrechen, um uns gegen den Druck der Anpassung zu wehren. Dadurch erlangen wir ein tieferes Verständnis für uns selbst und ein stärkeres Gefühl der Zugehörigkeit zu Menschen, die unsere Erfahrungen teilen.

Indem wir auffallen, können wir anderen zeigen, dass Unterschiede nicht gefürchtet oder ausgelöscht, sondern gefeiert werden sollten.

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1 Kommentare

Lu 16. August 2024 14:27

Ein interessanter und lesenswerter Artikel. Gleichzeitig ist es so, dass Bisexualität ein Teil der queeren Community ist und ich noch nicht von queeren Menschen gehört habe, dich sich als bisexuell ausgeben um besser in die Heterowelt zu passen. Es ist eher so, dass Bisexualität oftmals nicht ernst genommen wird und Vorurteile und Diskriminierung dagegen herrschen. Bisexuelle gehen weniger offen mit ihrer Identität um als Schwule und Lesben und haben auch ein größeres Risiko an psychischen Krankheiten zu leiden als diese. Und in Bezug auf bisexuelle Geflüchtete ist es eher andersrum, ihnen wird geraten sich als homosexuell auszugeben um in Deutschland bessere Chanen auf Asyl zu haben, da Bisexuelle hier strukturell diskriminiert werden.
Für weitere Einblicke in die Bisexualität empfehle ich „Bi“ von Dr. Julia Shaw.

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