HIV-AKTIVISMUS

Aids-Geschichte wird gemacht

Von Axel Schock
Ein Abend mit dem New Yorker Aids-Aktivisten Peter Staley, dem Dokumentarfilm „How to Survive a Plague“ und der Frage, wie die Geschichte des Kampfes gegen Aids und die Geschichten der Menschen mit HIV bewahrt werden können.

Ein Semester an der Musikhochschule hatte Peter Staley genügt, um zu erkennen, dass es mit einer Pianistenkarriere wohl nichts werden würde. Stattdessen wurde er 1983 Broker, und ein erfolgreicher dazu.

Bis zwei Jahre später bei ihm Aids diagnostiziert wurde. Tagsüber handelte er weiterhin im Bankhaus J.P. Morgan mit Aktien, abends saß er nun aber in den Meetings der neugegründeten Aids-Aktivistengruppe ACT UP und wurde schnell zu einem ihrer wichtigsten Mitstreiter.

In „How to Survive a Plague“, einem Dokumentarfilm über ACT UP New York beziehungsweise deren Abspaltung Aids Treatment Group (TAG), ist Staley einer der Hauptprotagonisten. Man sieht ihn 1987 bei einer ACT-UP-Blockade seines Arbeitsplatzes, der Wallstreet, um gegen die hohen Preise der HIV-Medikamente zu protestieren. Später hisst er bei einer Demonstration gegen den Arzneimittelhersteller Burroughs Wellcome ein ACT-UP-Transparent auf dem Vordach des Firmensitzes.

Proteste gegen überhöhte Arzneimittelpreise

1989 gehört er zu jener Gruppe von Aktivisten, die das Podium der internationalen Aids-Konferenz in Montréal stürmen und die dort versammelten Wissenschaftler dazu aufruft, Menschen mit HIV und Aids in die medizinische Forschung einzubinden, um so schneller zu wirksamen HIV-Medikamenten zu gelangen. Bei der 6. Welt-Aids-Konferenz 1990 in San Francisco hält er als Vertreter von ACT UP New York eine bewegende und bis heute zentrale Rede des weltweiten Aids-Aktivismus.

Vergangenen Mittwoch war Staley nun in Berlin, um auf Einladung des Archivs für Sexualwissenschaft der Humboldt-Universität die Dokumentation „How to Survive a Plague“ vorzustellen. Staley, ein smarter, charmanter und redegewandter Mann, ist schon lange kein Börsenmakler mehr, aber immer noch Aidsaktivist, unter anderem als Initiator der Internetplattform AIDSmeds.com.

„Diese Bewegung hat Bemerkenswertes geleistet“

Und er ist ein wichtiger Zeitzeuge, nicht nur in David Frances Dokumentation. „Ich repräsentiere eine Bewegung, die etwas sehr Bemerkenswertes geleistet hat“, sagte Staley. „Ich habe in letzter Zeit allerdings immer wieder feststellen müssen, dass die junge Generation ACT UP gar nicht kennt und dass die Geschichte einer der wichtigsten sozialen Bewegungen in den USA aus dem öffentlichen Bewusstsein zu entschwinden scheint“.

Frances’ Film hat hierzulande zwar bislang weder einen Verleih gefunden, noch wollte ihn eine Firma auf DVD herausbringen, in den USA aber hat er eine respektable Verbreitung gefunden – nicht zuletzt dank der Oscar-Nominierung. „Warum aber hat es überhaupt so lange gedauert, bis diese Dokumentation realisiert werden konnte?“, fragte Moderator Paul Schulz.

Für Staley ist diese Tatsache hingegen wenig überraschend. „Wann immer es eine schmerzvolle Phase in der Geschichte gibt – denken wir an den Holocaust oder an den Vietnamkrieg – folgt danach eine Lücke von rund 15 Jahren.“ Erst nach dieser Zeit der Verdrängung sei der Abstand groß genug, um die Geschichte aufarbeiten zu können. Tatsächlich ist seit geraumer Zeit eine Art Renaissance der Aidsgeschichte festzustellen.

Wachsendes Interesse an der Geschichte

Eine ganze Reihe neuer Filme beschäftigt sich mit den entscheidenden anderthalb Dekaden der Aidskrise vom Ausbruch der Epidemie Anfang der 1980er-Jahre bis zum medizinischen Durchbruch in Form der antiretroviralen Kombinationstherapie 1996 – wie etwa „Dallas Buyers Club“ und „United in Anger“. Larry Kramers Theaterstück „The Normal Heart“ erlebte eine gefeierte Neuinszenierung am Broadway und wurde mittlerweile auch fürs US-Fernsehen verfilmt.

In Deutschland fehlen solch markante Film- und Theaterproduktionen zwar noch, doch wächst das wissenschaftliche Interesse an diesem Thema, besonders unter Studierenden und jungen Akademikern. Ob aber eine Dokumentation wie „How to Survive a Plague“ auch für Deutschland möglich wäre?

Realisiert werden konnte der Film nur, weil die ACT-UP-Mitglieder seinerzeit das neue Medium Video intensiv für die Dokumentation ihrer eigenen Aktionen nutzten und Menschen wie Staley die Aufnahmen aufbewahrten. David France konnte so auf über 700 Stunden Material aus privatem Besitz zurückgreifen.

Das umfangreiche Archiv von ACT UP New York ist mittlerweile in der New York Public Library untergebracht – inklusive eines Safer-Sex-Lehrfilms, mit ihm selbst als Akteur, wie Staley im Gespräch verrät. Aber auch in anderen großen Städten der USA, in LGBT-Archiven und Universitätsbibliotheken, werden Dokumente zur Aidsgeschichte bewahrt.

„Die Geschichte der Aidsbewegung droht verloren zu gehen“

Ganz anders die Situation in Deutschland. „Die Geschichte der Aidsbewegung droht verloren zu gehen“, sagt die Politologin und langjährige Aktivistin von ACT UP Amsterdam, Corinna Gekeler. In öffentlichen Archiven, Museen und Sammlungen sei bislang nur sehr wenig zu den vielen Aspekten rund um das Leben mit HIV und Aids zu finden.

Und viele wichtige Zeugnisse seien bereits unwiederbringlich vernichtet – Manches von den Nachlassverwaltern der Verstorben schlicht entsorgt, anderes bereits zu Lebzeiten von den Besitzern weggeworfen, weil sie nicht länger mit den Erinnerungsstücken leben mochten oder deren historischen Wert verkannten. „Es muss daher nicht nur bei Museen und Archiven ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass HIV und Aids ein gesellschaftlich relevantes und damit bewahrenswertes Thema ist“, erklärt Corinna Gekeler. Auch innerhalb der HIV-Community mangele es oft an Wertschätzung der eigenen Geschichte und damit auch der Dokumente und Gegenstände, die von dieser Geschichte erzählen und deshalb bewahrt werden müssen.

Darum bemüht sich seit einiger Zeit der Arbeitskreis „Aids-Geschichte ins Museum“ und hat dazu die Webseite www.aidsarchive.net entwickelt. Ein erster großer Teilerfolg ist die Zusammenarbeit mit dem Archiv für Sexualwissenschaft und dem Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin. Hier entsteht derzeit eine exemplarische Sammlung zur Kulturgeschichte von HIV und Aids in Deutschland. Corinna Gekeler und der Autor dieses Beitrags tragen dazu seit nunmehr einem Jahr bundesweit Vor- und Nachlässe zusammen, die im Juli dem Archiv übergeben werden sollen.

Pilotprojekt des Archivs der Humboldt-Universität

Der Platz im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum, wo das Archiv untergebracht ist, ist zwar limitiert. Doch die rund zehn verfügbaren Regalmeter sind groß genug, um Material zu einem breiten Spektrum an Themen rund um HIV/Aids berücksichtigen zu können. Tausende Seiten Dokumente sind bereits im Rahmen der Vorerschließung gelistet, darunter Tagebücher und Briefe von Menschen mit HIV und Aids und ihren Angehörigen, Unterlagen zur Entstehung der ersten Aidshilfen und Selbsthilfegruppen in der 1980er-Jahren, aber auch Trauerbriefe, Demoaufrufe und viele Fotos.

Für Staley besteht kein Zweifel, dass die Archiv- und Geschichtsarbeit genauso öffentliche Förderung verdient wie die Prävention. Sich der Geschichte der eigenen Community bewusst zu sein und aus ihr Kraft und Bestätigung zu ziehen ist für Staley letztlich auch Teil der Präventionsarbeit und zudem Basis des HIV-Aktivismus heute wie morgen. „Die Erfolge von Gruppen wie ACT UP zeigen, wie kraftvoll wir sein können und dass wir etwas bewegen können. Wenn wir es einmal geschafft haben, dass sich in der Gesundheitspolitik, in der Pharmaindustrie, der Forschung und in der Gesellschaft etwas verändert, dann schaffen wir es auch noch ein weiteres Mal.“

Staley nennt als aktuelles Beispiel die Präventionspolitik, konkret: die Propagierung der Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) für eine zunehmend kondommüde Generation von Männern, die Sex mit Männern haben. In San Francisco und im US-Bundesstaat New York, wo die vorbeugende Einnahme von HIV-Medikamenten zur Verhinderung einer Infektion massiv beworben wird, sei die Zahl der Neuinfektionen bereits deutlich gesunken, weil viele Menschen tatsächlich ein PrEP-Medikament einnehmen oder weil durch die PrEP schwule Männer wieder mehr über HIV und die Übertragungswege sprechen würden.

Peter Staley in „How to Survive a Plague“
Peter Staley in „How to Survive a Plague“

Für Staley ist es daher unverständlich, dass sich gerade Deutschland mit einer weltweit vorbildlichen Behandlungsrate und einer nicht minder beispielhaften (und in den USA derzeit nicht vorstellbaren) Sexualaufklärung an den Schulen bislang dieser Präventionsstrategie verschließt.

In den USA haben Aids-Aktivisten maßgeblich dazu beigetragen, dass die HIV-Medikamente für den PrEP-Einsatz lizenziert wurden. Anders als in den 1980er- und 1990er-Jahren werde man heute nicht mehr eine breite Schwulenbewegung auf die Straßen bekommen, um sich für die Rechte von Menschen mit HIV oder die Bewilligung der PrEP einzusetzen. Aber, so Staley, die Massen seien gar nicht mehr notwendig, auch das könne man aus der Geschichte von ACT UP lernen.

„Die Zahl der Aktivisten ist heute vergleichsweise klein, aber sie sind klug und gut vernetzt.“ Eine Gruppe von sieben Menschen habe ausgereicht, um das Haus des homophoben US-Senators Jesse Helms unter einem monumentalen Kondom verschwinden zu lassen, betont Staley.

Auch diese unglaubliche Aktion ist in der Doku „How to Survive a Plague“ zu sehen und zeigt zugleich, dass Aids-Geschichte ­– trotz ihrer vielen entsetzlichen, traurigen, Wut erzeugenden und beklemmenden Geschichten – durchaus komische und unterhaltsame Momente zu bieten hat.

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