Bärengeburtstag
Am Anfang waren es noch schlichte, kleine Stoffbären aus dem Kaufhaus. Heute sind die Trophäen zwar nicht wesentlich größer, dafür aber um einiges schwerer geworden. Denn der Teddy Award ist mittlerweile eine Trophäe aus massiver Bronze und sitzt zudem auf einem original Berliner Pflasterstein. Entworfen hat den Bären mit dem trotzig-liebenswerten Blick der Comic-Zeichner Ralf König.
Bei den am Donnerstag beginnenden 66. Berliner Filmfestspielen wird der Teddy Award – der älteste, wichtigste und bekannteste queere Filmpreis überhaupt – nunmehr zum 30. Mal verliehen. Rund 30 Kurz-, Dokumentar- und Spielfilme aus den unterschiedlichen offiziellen Festivalsektionen konkurrieren um diesen ganz besonderen Berlinale-Bären.
Ganz einfach wird es die Fachjury aus internationalen LGBT-Festivalmacher_innen nicht haben. Denn Preiswürdiges gibt es einiges zu sehen. Und für die Berlinale-Besucher_innen ist das Filmprogramm in diesem Jahr ebenfalls ein besonderes Erlebnis, ermöglicht es doch Einblicke in unterschiedlichste Lebenswelten von Schwulen, Lesben, Trans*Personen, Sexarbeiter_innen und Menschen mit HIV/Aids.
Sexarbeit in Wien und Seoul
So beleuchtet Patric Chiha in seinem halbdokumentarischen Film „Brüder der Nacht“ das Leben von bulgarischen Sexarbeitern in der Wiener Stricherszene. Sie haben die Armut, ihre Familien, viele auch Ehefrau und Kinder hinter sich gelassen in der Hoffnung auf schnelles Geld und zugleich mit dem Gefühl, endlich frei und ohne Verantwortung für andere zu sein.
Auch in „Jug-yeo-ju-neun Yeo-ja“ (The Bacchus Lady) von E J-yong gehen Menschen aus Not heraus der Prostitution nach. In dem südkoreanischen Spielfilm sind dies allerdings Frauen, die nur zwei Möglichkeiten sehen, um ihre Altersarmut zu lindern: entweder Altglas zu sammeln oder sich in einem Park älteren Männern für sexuelle Dienstleistungen anzubieten.
Dem schwulen Alltag in der stark von Homophobie geprägten koreanischen Gesellschaft widmet sich die Dokumentation „Weekend“. Lee Dong-ha hat dazu die Mitglieder von G-Voice, dem schwulen Männerchor Seouls interviewt, sie zu Proben und Konzerten begleitet und ihre Songnummern wie Musikvideos inszeniert.
Auch für Saar ist der schwule Männerchor zur Wahlfamilie geworden. Der Israeli war als 17-Jähriger aus seinem Kibbuz ausgeschlossen worden, über 20 Jahre lebt er nun in London und singt im London Gay’s Mens Choir. Doch mit zunehmenden Alter drängt es Saar, sich mit seinen streng religiösen Eltern und Geschwistern auszusöhnen.
Schwierige Familienverhältnisse
Die haben sich weder mit seinem schwulen Lebensstil arrangieren können, noch einen Weg gefunden, mit Saars HIV-Erkrankung umzugehen. Bei den Wiederbegegnungen, einem der emotionalen Höhepunkte der Dokumentation in „Who‘s Gonna Love Me Now?“, prallen Welten aufeinander.
Wie offen in diesen Familiengesprächen die Ängste vor HIV und Vorurteile, aber auch Verletzungen und Entfremdungen ausgesprochen werden, ist bemerkenswert und zeugt vom Vertrauen, das alle Beteiligten den Regie führenden Brüdern Tomer und Barak Haymann entgegengebracht haben.
Auch in China sehen sich Homosexuelle dem Erwartungsdruck ihrer Eltern ausgeliefert. Um vor Nachbarn und der Verwandtschaft den Schein zu wahren, gehen Lesben und Schwule daher eine Alibi-Ehe ein. Für „Inside the Closet“ begleitete Sophia Luvarà einige von ihnen durch eine für westeuropäisches Publikum befremdliche Welt, in der es einen speziellen Markt für Scheinehen, Leihmütter und sogar Neugeborene gibt – alles, um den gesellschaftlichen Normen zu entsprechen.
Queere Scheinehen und antischwule Gewalt
Der Spielfilm „Antes o tempo não acabava“ (Time Was Endless) des Brasilianers Sérgio Andrade und Fábio Baldo wiederum führt in die für uns noch exotischere Welt eines indigenen Stammes im Amazonasgebiet. Anderson lebt und arbeitet zwar in Manaus, wo er sich in einem Nachtclub auch mal selbstbewusst zu einem One-Night-Stand abschleppen lässt. Doch die Schamanen seines Heimatdorfes wollen ihm helfen, sein „Anderssein“ durch ein schmerzhaftes Ritual zu kurieren.
Unverständnis gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe ist in vielen Kulturen zu finden, und auch die Gewalt gegen Schwule ist leider ein universelles Phänomen. In „Nunca vas a estar solo” (You’ll Never Be Alone) wird der 18-jährige Pablo Opfer eines homophoben Gewaltaktes durch Jugendliche aus der Nachbarschaft. Wochenlang liegt er im Koma, die Täter kommen ungeschoren davon, während Pablos Vater angesichts der Krankenhausrechnungen verzweifelt. Das Debüt des Chilenen Alex Anwandters basiert auf einer wahren Geschichte und lässt niemanden kalt.
Ein Drama ganz anderer Art erlebt Pierre, die Hauptfigur in „Mãe só há um“ (Don’t Call Me Son) von Anna Muylaert. Der 17-jährige Rebell ist queer im besten Sinne des Wortes: Ein cooler Typ, der gegen einen Quickie mit Frauen nichts einzuwenden hat, aber auch mit einem Musiker aus seiner Rockband herumknutscht und gerne auch mal Damenslips und Frauenkleider trägt. Sein Leben verändert sich schlagartig, als er erfährt, dass er keineswegs adoptiert, sondern als Neugeborenes aus einem Krankenhaus gestohlen wurde. Über Nacht verliert er seine bisherige Familie und muss sich in das Leben seiner leiblichen Eltern einfügen.
Rara und ihre beiden Mütter
„Rara“, die junge Heldin des gleichnamigen chilenischen Spielfilms (Regie Pepa San Martin), hat zwei lesbische Mütter und muss sich mit den Vorurteilen ihrer Mitschüler_innen auseinandersetzen.
In Piotr J. Lewandowskis „Jonathan“ wiederum muss ein Bauernsohn damit zurechtkommen, dass sein im Sterben liegender Vater in seinen letzten Tagen von dessen großer Liebe, einem Mann gepflegt wird. Und in „Kater“, dem Regiedebüt des österreichischen Dramatikers Händl Klaus, droht die überaus sinnliche und geradezu perfekte Lebenspartnerschaft zweier Orchestermitglieder nach einem verstörenden Ereignis auseinanderzubrechen.
Wer es bereits ungewöhnlich findet, wie selbstverständlich sich die Hauptdarsteller Lukas Turtur und Philipp Hochmair hier nackt vor der Kamera bewegen und an die Wäsche gehen, wird in den ersten 15 Minuten von „Théo et Hugo dans le même bateau“ (Paris 05:59) aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Denn das Filmemacherpaar Olivier Ducastel und Jacques Martineau lässt ihre Reise durch das nächtliche Paris in einem schwulen Sexclub und folgerichtig mit einer Orgie beginnen, bei der es ausgiebig und absolut nicht jugendfrei zur Sache geht.
Die PEP wird Kinothema
In diesem Getümmel finden Théo und Hugo zueinander und wissen schnell, dass es ihnen nicht nur um das Eine geht. Diese Euphorie des Sich-Verliebens aber ist jäh zu Ende, als klar wird, dass einer der beiden unbemerkt das Kondom weggelassen und sich damit einem HIV-Risiko ausgesetzt hat.
„Théo et Hugo dans le même bateau“ handelt nicht nur von Verlangen, Verantwortung und Vertrauen, von Nähe und Leidenschaft, sondern ist wahrscheinlich der erste Spielfilm, der die Post-Expositions-Prophylaxe, also die Notfall-Behandlung nach einem Sexunfall, zum zentralen Thema macht.
Bis Mitte der 1990er-Jahre war eine HIV-Infektion für die meisten hingegen gleichbedeutend mit einem Todesurteil. So auch für den Fotografen Robert Mapplethorpe und den Filmemacher Howard Brookner. Die Dokumentationen „Mapplethorpe: Look at the Pictures“ (Regie Fenton Bailey und Randy Barbato) und „Uncle Howard“ (Regie Aaron Brookner) erinnern an die beiden viel zu früh verstorbenen Künstler.
Ihre ausgedehnte „Blond Ambition“-Welttournee Anfang der 1990er-Jahre hatte Madonna nicht nur dazu genutzt, um ihres Freundes, des Malers Keith Haring zu gedenken, sondern auch, um für Safer Sex und einen solidarischen Umgang mit HIV-Infizierten zu werben. Was sie damals nicht wusste: Zwei ihrer Background-Tänzer waren positiv, fanden aber nicht den Mut, dies ihrer Crew mitzuteilen. 25 Jahre danach haben Ester Gould und Reijer Zwaan die Tänzer von damals ausfindig gemacht. „Strike a Pose“ ist ein ungemein spannender, warmherziger Blick hinter die Kulissen.
Madonnas Tänzer
Wider Erwarten werden nicht Madonna und der Kult um den Popstar, sondern die Lebensgeschichten der Performer in den Mittelpunkt gerückt, die damals unverhofft zu Vorbildern für andere Schwule wurden, aber auch Abstürze verkraften mussten.
Madonna hatte seinerzeit mit dem Video zu „Vogue“ den Tanzstil aus dem schwarzen New Yorker LGBT-Underground in den Mainstream gebracht. Die Kinodokumentation „Paris is Burning“, 1991 mit dem Teddy Award prämiert, lieferte damals einen intimen Einblick in diese besondere Gemeinschaft. Die Ballroom-Szene mit ihren Voguing-Wettbewerben gibt es auch heute noch. Manches hat sich nicht geändert. Noch leben viele LGBT-Jugendliche aus der Black- und Latino-Community buchstäblich auf der Straße, kämpfen gegen Rassismus und Ausgrenzung, überleben durch Sexarbeit und sind in besonderem Maße von HIV und anderen Erkrankungen bedroht.
Doch nicht nur die Selbstbehauptung ist erstarkt, sondern auch das Bewusstsein für genderpolitische Diskussionen. Sara Jordenö, die für ihre Dokumentation „Kiki“ die neue Generation der Ballroom-Szene und einige ihrer charismatischen Protagonisten porträtiert, ist mit Sicherheit einer der Teddy Award-Favoriten dieser Berlinale.
Wer eine der gewichtigen Teddy-Awards tatsächlich überreicht bekommt, wird erst am 19. Februar auf der großen Jubiläums-Teddy-Gala in der Kreuzberger STATION enthüllt. Eine Preisträgerin allerdings steht jetzt schon fest, nämlich Produzentin Christine Vachon.
Seit den 1990er-Jahren hat sie unzählige queere Filmprojekte gefördert und überhaupt erst ermöglicht – von „Velvet Goldmine“ über „Ein Zuhause am Ende der Welt“ und „Boys Don’t Cry“ bis hin zur Highsmith-Verfilmung „Carol“. Für ihr wahrlich immenses Lebenswerk erhält Christine Vachon den diesjährigen Special-Teddy.
Teddy Award-Verleihung am 19. 2. in der STATION Berlin (Luckenwalder Str. 4–6) u. a. mit Host Jochen Schropp, Anna Naklab feat. Younotus, John Grant , Kovacs, Steffi & Virginia (Ostgut) und VJ Alkis.
Karten sind im Vorverkauf unter anderem im Prinz Eisenherz Buchladen (Motzstrasse 23, Berlin-Schöneberg) und online unter www.teddyaward.tv erhältlich.
Infos über die Berliner Filmfestspiele gibt’s unter www.berlinale.de
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