Barock meets 21. Jahrhundert: Aids-Benefiz-Album „Red, Hot + Bach“
1989, auf dem Höhepunkt der Aidskrise in den USA, waren allein in New York Tausende Tote zu beklagen, darunter viele Menschen aus der kreativen Szene der Stadt. John Carlin, der als Künstleranwalt für diverse Plattenfirmen tätig war, wollte nicht länger untätig bleiben, sondern seine Beziehungen nutzen, um Geld für unterstützenswerte Projekte zu sammeln.
Gemeinsam mit seinem Kollegen Leigh Blake lud er bekannte Musiker ein, Lieder von Cole Porter neu aufzunehmen. Der Sampler „Red, Hot + Blue“ wurde zu einer musikalischen Sensation.
Die exquisiten Coverversionen von Bands wie U2 und Fine Young Cannibals, von Sängerinnen und Sängern wie Neneh Cherry, Jimmy Somerville, k.d. lang und Annie Lennox lieferten zeitgemäße Interpretationen dieser klassischen Songs des 1964 verstorbenen Film- und Broadwaykomponisten. Filmemacher wie Wim Wenders, Jim Jarmusch, Percy Adlon und Neil Jordan unterstützten die gute Sache mit Videoclips. Das Album verkaufte sich über eine Million Mal.
„Red, Hot + Blue“ wurde zum Millionenseller
Was zunächst als einmaliges Projekt gedacht war, ist längst zu einer Institution geworden. 16 weitere Alben folgten. Auf „Red, Hot + Rhapsody“ dienten Werke von George Gershwin und Bossa Nova-Hits des Brasilianers Jobim als Vorlage; es gab Sampler mit Country- und Dance-Titeln. „Red Hot + Latin: Silencio = Muerte“ fokussierte auf die Situation von HIV-Positiven in Lateinamerika und in der Latino-Community in den USA.
Auf dem Album „Red, Hot + Riot“ widmeten sich HipHop-, Soul- und Jazz-Größen den Songs des nigerianischen Afrobeat-Erfinders Fela Anikulapo Kuti. Das war insofern bemerkenswert, als der 1997 an den Folgen der Immunschwäche verstorbene Musiker die Existenz von HIV geleugnet hatte und damit für eine in Afrika weit verbreitete Haltung stand.
Der Erlös aus „Red, Hot + Blue“ floss seinerzeit maßgeblich in die Unterstützung der Aids-Aktivistengruppen ACT UP und Treatment Action Group. Mittlerweile hat die Red Hot Organization durch ihre Kompilationen, Spenden und breitgefächterten Medienproduktionen rund zwölf Millionen Dollar erwirtschaftet. Mit dem Geld wurden schwerpunktmäßig Projekte in den USA unterstützt, aber auch Organisationen in Afrika und Europa.
Die erste Hommage eines klassischen Komponisten
Mit „Red, Hot + Bach“ haben die Initiatoren nun erstmals das Werk eines klassischen Komponisten als Grundlage für einen Sampler ausgewählt, und auch bei Johann Sebastian Bach beeindrucken die eingeladenen Musiker, DJs und Produzenten durch sehr unterschiedliche und bisweilen eigenwillige Sichtweisen auf das Material.
Stuart Bogie und Grey McMurray zeichnen die melodischen Linien der Cello-Suite Nr. 3 mit E-Gitarren nach. Die isländische Band amiina adaptiert Bachs Orgelwerk Passaglia für Streicher, Schlagzeug und Vibrafon, und Om’mas Keith macht mit seinen retromäßigen Synthesizer-Klängen aus dem Concerto Nr. 5 eine Mischung aus Fahrstuhl-Musik und SciFi-Soundtrack.
J.S. Bach im Elektro-Gewand
Der Techno-Produzent Carl Craig wiederum hat für den luxemburgischen Pianist Francesco Tristano das Prelude Nr. 2 neu arrangiert und bis aufs Gerüst reduziert. Acht Minuten lang läuft diese Maschinerie, fein getaktet wie ein Uhrwerk, und erzeugt einen unwiderstehlichen Sog.
Wie Craig begeistert sich auch Jeffs Mills (im Zusammenspiel mit dem Kronos Quartet) vor allem an den strengen barocken Strukturen der Bach-Kompositionen, um sie modernen Hörgewohnheiten und musikalischen Mitteln zu unterwerfen. Bisweilen genügt auch bereits eine geänderte Instrumentierung, um einer Komposition einen neuen Stempel aufzudrücken, wie etwa bei Gary Bartz und Ron Carter, die die Cello-Suite Nr. 1 mit Kontrabass und Saxofonen beinahe wie ein Freezjazz-Stück klingen lassen.
Ob das „Ave Maria“ in Pia Ercoles Eletropop-Version oder das Vokalstück des US-amerikanischen Singer-Songwriters Gabriel Kahanes zu den „Goldberg-Variationen“– die 19 Beiträge auf dem Hard-Disc-Album (die digitale Deluxe-Version bietet neun weitere Tracks) stecken voller kleiner und großer Überraschungen, gerade auch für Menschen, die mit klassischer Musik im Allgemeinen und Bach im Besonderen nicht viel am Hut haben.
„Fighting AIDS Through Popular Culture”
„Red, Hot + Bach“ will aber nicht nur – gemäß des Stiftungsmottos „Fighting AIDS Through Popular Culture” – den vor über 300 Jahren geborenen Komponisten als Schöpfer der bis heute im besten Sinne populären Musik feiern, sondern seine Werke mit den Mitteln des neuen Jahrtausends neu entdecken. Dazu gehört auch eine (kostenlose!) App, mit der man Bachs Musik in digitale Kunst transformieren kann.
„Red, Hot + Bach“ (Sony Classical)
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