Fernsehserie

Bittere Tränen

Von Axel Schock
Zwei junge Männer, der eine hält den anderen in den Armen.
Die schwedische TV-Serie „Don’t Ever Wipe Tears Without Gloves“ führt zurück in das erste Jahrzehnt der Aidskrise und entfaltet am Beispiel einer Clique ein berührendes Panorama der schwulen Community Stockholms.

Eigentlich ist es nur eine beiläufige und schlicht menschliche Geste: Eine Krankenschwester wischt einem bereits schwer gezeichneten Patienten nach dem Umbetten die Tränen aus dem Gesicht. Aber dies ist nicht irgendein Krankenzimmer, sondern ganz offenkundig eine Isolierstation, und der junge, verzweifelte Mann leidet an keiner gewöhnlichen Krankheit, sondern an Aids.

„Niemals die Tränen ohne Schutzhandschuhe wegwischen!“

Anfang der 80er-Jahre, in denen diese Filmszene spielt, führte das noch völlig rudimentäre Wissen über die neue Seuche und ihre Übertragungswege zu extremen und unmenschlichen Vorsichtsmaßnahmen. „Niemals die Tränen ohne Schutzhandschuhe wegwischen!“, wird die Krankenschwester auch gleich von ihrer Kollegin ermahnt.

Diese kurze bezeichnende Szene liefert nicht nur den Titel der bemerkenswerten schwedischen Fernsehproduktion, sondern setzt auch den Ton des Dreiteilers. „Don’t Ever Wipe Tears Without Gloves“ ist nichts weniger als eine Chronik über ein Jahrzehnt des schwulen Lebens und der Aids-Epidemie in Schweden, das in den frühen Achtzigerjahren beginnt und sich bis zur hoffnungsvollen Zeitenwende durch die funktionierende HIV-Therapie hinstreckt.

Eine Chronik des schwulen Lebens und der Aids-Epidemie in Schweden

Simon Kaijsers kleines Epos war in Schweden eine TV-Sensation. Zum einen, weil hier zur besten Sendezeit und mit überraschender Offenheit das Leben und Treiben in der schwulen Subkultur zu dieser Zeit so ungeschönt, direkt und dokumentarisch genau nachgezeichnet wurde: die Cruisingorte wie der „Tuntenkreisel“ mitten im Stockholmer Hauptbahnhof, schwule Saunen und Parks genauso wie die Homophobie in weiten Teilen der Gesellschaft.

Zum anderen erlebten die Fernsehzuschauer_innen,  was der Einbruch der Epidemie für das schwule (Über-)Leben in jenem entscheidenden Jahrzehnt bedeutete – und dies am Beispiel einer bunt zusammengewürfelten Clique von Freunden.

So etwa anhand von Rasmus (gespielt von Adam Pålsson), der nach dem Abitur aus der schwedischen Provinz in die Hauptstadt zieht, die Pöbeleien seiner Mitschüler_innen hinter sich lässt und die Möglichkeiten der schwulen Szene in vollen Zügen auskostet.

Filmszene aus „Don't Ever Wipe Tears Without Gloves“
Filmszene aus „Don’t Ever Wipe Tears Without Gloves“

Ganz anders ist da Benjamin (Adam Lundgren), aufgewachsen als gläubiger Zeuge Jehovas zieht er in seiner Freizeit durch die Stadt, um Bibelschriften zu verteilen und das Wort Gottes zu verkünden. Dass er ausgerechnet an der Wohnungstür des flamboyanten, tuntigen Exzentrikers Paul (Simon J. Berger) klingelt – der ihn auf einen Blick als verklemmten Schwulen enttarnt – wird Benjamins Leben grundlegend verändern.

„Don’t Ever Wipe Tears Without Gloves“ erzählt von der nicht immer ganz einfachen Liebe zwischen Rasmus und Benjamin sowie von der kleinen Wahlfamilie, die Paul um sich herum versammelt und die alljährlich ein ganz besonderes Weihnachtsfest feiert.

Mehr und mehr ist auch die Clique von der neuen, sich rasant ausbreitenden Krankheit betroffen. Von Jahr zu Jahr wird die Festtagsrunde kleiner. „In diesen Jahren trugen wir uns gegenseitig“, heißt es an einer Filmstelle, angesichts der vielen Beerdigungen, bei denen die Särge der Freunde zu Grabe getragen wurden.

Der in Schweden bereits 2012 ausgestrahlte Dreiteiler ist hierzulande zwar nie im Fernsehen gelaufen, wird nun aber erfreulicherweise wenigstens auf DVD veröffentlicht. Er basiert auf der gleichnamigen und leider noch nicht ins Deutsche übersetzten Romantrilogie von Jonas Gardell.

Noch bevor Band drei erschienen war, arbeitete Gardell am Drehbuch für die Fernsehversion. Deren Ausstrahlung mündete in eine große TV-Aids-Gala. Der in Schweden als Romancier, Comedian und Theaterautor gleichermaßen gefeierte und landesweit bekannte Jonas Gardell hatte damit über Wochen die breite schwedische Gesellschaft mit der verdrängten Geschichte der Aids-Epidemie konfrontiert.

Royale Würdigung für Serienschöpfer Jonas Gardell

Das schwule Magazin „QX“ verlieh ihm 2013 dafür die Auszeichnung „Homo des Jahres“, und niemand anderes als die schwedische Kronprinzessin Viktoria überreichte den Ehrenpreis. „Wenige haben uns so berührt und gerührt wie du“, würdigte sie ihn bei der Verleihung. „Gib mir deine Hand. Wir wollen uns gegenseitig die Tränen mit offenen Herzen und bloßen Händen wegwischen.“

Für die Fernsehversion hat sich Gardell freilich auf einige wenige seiner Figuren konzentrieren müssen; auch die vielen Hintergrundinformationen – zur schwedischen Homosexuellengeschichte und zur alles andere als vorbildlichen Aidspolitik des Landes – mussten wegfallen beziehungsweise werden nur ab und an in Dialogen oder über die Zeitungstitelseiten angerissen: beispielsweise, dass schwule Aidskranke in einem anderen Krankenhaus behandelt wurden als „unschuldige Aids-Opfer“ – also solche, die sich nicht über Sex, sondern über Blutprodukte angesteckt hatten.

„Die Tränen mit offenen Herzen und bloßen Händen wegwischen“

Festgehalten hat Gardell hingegen an der Erzählstruktur. Auch in der Verfilmung gibt es immer wieder Rückblenden in die Kindheit und Jugend der Protagonisten sowie Vorgriffe auf künftige Ereignisse. Und auch auf einige der zentralen Motive hat Gardell nicht verzichtet, wie etwa das kitschige Bild aus einer Zeugen-Jehovas-Broschüre, das über die drei Folgen hinweg überraschende Bedeutungen und Wandlungen erfährt.

Und nicht zuletzt die wichtigsten, weil eindrücklichsten Szenen: Benjamin, der nach seinem Coming-out von seinen Eltern verstoßen und später von Rasmus’ Eltern dezidiert von dessen Beerdigung ausgeladen wird. Oder der Leichnam eines Aidstoten, der von den Krankenhausmitarbeitern wie Abfall in Plastik eingepackt, fest verschnürt und mit der Aufschrift „Ansteckungsgefahr“ versehen wird.

Reale Vorbilder für „Don’t Ever Wipe Tears Without Gloves“

„Was hier berichtet wird, ist geschehen. Es ereignete sich hier, in dieser Stadt, unter den Menschen, die hier leben, in den Parks der Stadt, in den Bars, den Saunaclubs, Pornokinos, in den Krankenhäusern, Kirchen und auf den Friedhöfen“, schreibt Gardell zu Beginn seines Romans. Und mit ähnlichen wiederkehrenden Worten gibt er auch den Fernsehzuschauer_innen unmissverständlich zu verstehen: Nichts von dem ist erfunden. Für die einzelnen Hauptfiguren gibt es reale Vorbilder, und was diese durchmachten, erlebten und erlitten so oder so ähnlich auch viele andere.

„Was hier berichtet wird, ist geschehen“

Und doch wird in diesen über drei Filmstunden nicht nur von Trauer und Mühsal berichtet, sondern auch von Aufbruch und Jugend, von Liebe, Sex und Freundschaft.

Als letzter des Freundeskreises stirbt schließlich Paul. Die neuen HIV-Medikamente kommen für ihn zu spät. Seine Abschiedsfeier hat er selbst bis ins Detail geplant und dazu alle Freund_innen und auch die Familie in ein Theater eingeladen. Was sie (und nun auch das Fernsehpublikum) dort zu sehen bekommen, ist zum Heulen und beglückend zugleich.

Ein Spektakel, in dem die Trauer und der Schmerz der hinterbliebenen Freund_innen wie aufgehoben scheinen und auf wunderbare Weise zentrale Momente und Motive der Geschichte aufgegriffen werden. Das ist so außergewöhnlich, dass es einfach unfair wäre, hier mehr zu verraten. Nur so viel:  Diese letzte Szene ist eine Katharsis – für die Trauergemeinde (und damit stellvertretend für die schwedische Schwulencommunity dieser Jahre) wie für die Zuschauer_innen.

 „Don’t Ever Wipe Tears Without Gloves“, DVD (Dt. Fassung sowie schwedisches Original mit dt./engl. UT), 164 Min. (Edel Germany GmbH)

Zum Trailer

1 Kommentare

Thomas Elias 23. Dezember 2019 13:51

So schön solche Filme für Veteranten der Bewegung sein können, für die heutige Präventions-Arbeit und den Kampf gegen Diskriminierung sind sie wie Gift.

Kaum dass ein Film wie „Philadelphia“ oder „Dallas Buyers Club“ im Fernsehen gelaufen ist, haben wir jede Menge neuer verschreckter Testkunden, die nicht realisiert haben, wie sich die Realität von HIV/AIDS die letzten 20 Jahre verändert hat.

So festigen solche Filme oft das alte Schreckensbild von HIV/AIDS, welches oft verbunden ist, mit einem gebrochenen Gebot (Bumsen nur mit Kondom) und/oder „schlechtem“ Sex, der im Nachhinein bereut wird – und wir bekommen Menschen zum Test, die noch vor der Blutabnahme zittern, schwitzen, Panik schieben und teilweise austicken.

Mein Wunsch wäre es, dass solche Filme, wenn sie denn gezeigt werden, in einen Kontext gestellt werden, der die heutige Realität aufzeigt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

1 + 2 =