Selbstbestimmte Sexualität

Das „Ja“ als „Ja“ akzeptieren

Von Inga Dreyer
Foto: © zianlob/iStockphoto.com
Der Wunsch nach Zuneigung und Berührungen ist etwas zutiefst Menschliches. Aber nicht jede_r hat dieselben Möglichkeiten, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Für Menschen mit Behinderungen sind die Chancen, Sex und Partnerschaften zu leben, häufig eingeschränkt. Das Forschungsprojekt „Reflexion, Wissen, Können“ (ReWiKs) beschäftigt sich mit dem Themenfeld und versucht, Zugänge zu selbstbestimmter Sexualität zu schaffen.

Erotik und Pornografie scheinen so leicht erreichbar wie nie – spätestens durch die Möglichkeiten des Internets. Nicht für alle Erwachsenen gilt das jedoch in gleichem Maße, wie Christian Franke berichtet. Der Teamleiter der Stiftung Haus Hall in der Stadt Gescher in Nordrhein-Westfalen erzählt von einem Ausflug von Menschen mit geistigen Behinderungen auf die Reeperbahn in Hamburg. In einem Sexshop entschied sich ein Bewohner des Hauses, eine DVD zu kaufen – aber sagte: „Das darf mein Bezugsbetreuer nicht mitbekommen.“

Für Franke ist diese Episode ein typisches Beispiel dafür, wie in vielen Wohneinrichtungen mit dem Thema Sexualität umgegangen wird. Menschen mit Beeinträchtigungen und Lernschwierigkeiten haben die gleichen Bedürfnisse wie andere auch, tatsächlich aber sind ihre Chancen, Partnerschaften und körperliche Lust zu erleben, häufig eingeschränkt.

Vorurteile durch Forschung und Aufklärung abbauen

Ein Grund dafür seien die Mythen, die sich um ihre Sexualität ranken, sagt Sven Jennessen, Professor am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität (HU) zu Berlin. Es herrsche etwa die Vorstellung, dass Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen „übersexualisiert“ seien und sich nicht unter Kontrolle hätten.

Die andere, gegenläufige Erzählung besage, dass sie nicht zu Liebe und Partnerschaft fähig seien und keine Eltern werden sollten. „Beide Stränge haben dazu geführt, dass Menschen mit geistiger Behinderung Sexualität abgesprochen wurde“, erklärt Jennessen. Wenn früher körperliche oder sexuelle Beziehungen zum Thema wurden, dann eher unter ihren negativen Aspekten: sexueller Missbrauch oder ungewollte Schwangerschaften.

Selbstbestimmt und ohne Kontrolle durch Dritte

Mit dieser Problematik beschäftigt sich das Forschungsprojekt „Reflexion, Wissen, Können“ (ReWiKs), an dem Jennessen mitarbeitet. Seit 2014 fördert die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) das gemeinsame Projekt der HU Berlin, der Katholischen Hochschule NRW und der Evangelischen Hochschule RWL Bochum, das 2019 in die zweite Runde ging und nun vom Forscherteam der HU Berlin geleitet wird.

Ein Baustein von ReWiKs ist die Erarbeitung eines Medienpaketes für Wohneinrichtungen und Bewohner_innen rund um das Themenfeld Sexualität. Ein weiterer Baustein ist eine Fortbildungsreihe, in der Mitarbeiter_innen zu Lots_innen ausgebildet werden. Der dritte Bestandteil sind sogenannte „Freiräume: Sexualität und ICH“, in denen Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt und ohne Kontrolle durch Dritte über Liebe und Sex sprechen können.

Wenig Wahlmöglichkeiten durch kleinen Kontaktradius

Zum ReWiKs-Lotsen hat sich auch Christian Franke ausbilden lassen. Seit 25 Jahren arbeitet er mit Menschen mit Behinderungen in der Eingliederungshilfe – momentan in einer großen Einrichtung, in der von der Kita bis zu Wohngruppen für Erwachsene etwa 2.000 Menschen betreut werden. Er ist zuständig für ein Haus, in dem knapp 30 Menschen zwischen Mitte 30 und Mitte 60 leben – darunter auch zwei Paare.

Verbesserungen vollziehen sich nur langsam

Die Frage, wie Bewohner_innen eine erfüllte und selbstbestimmte Sexualität ermöglicht werden könne, begleite ihn während seines gesamten Berufslebens, erzählt Franke. „Ich stelle einen großen Unterschied zwischen Menschen fest, die in Betreuung leben, und der ,Normalität‘.“ Denn abseits der Einrichtungen hätten die Bewohner_innen kaum Kontakte. „Wahlmöglichkeiten sind sehr reduziert oder gar nicht vorhanden“, sagt Franke.

Hinzu kämen Einschränkungen seitens der Einrichtungen. Seine Erfahrung: Je größer die kognitiven Beeinträchtigungen und der damit verbundene Hilfsbedarf, desto weniger werde das Bedürfnis nach partnerschaftlicher Sexualität gebilligt. „Es gibt auch Verbesserungen, aber die vollziehen sich sehr langsam“, erzählt der ReWiKs-Lotse. So sei es inzwischen üblich, dass Bewohner_innen Einzelzimmer haben und Männer mit Frauen gemeinsam in Wohngruppen leben. Allerdings sei der Zugang zu DVDs und zum Internet in den meisten Einrichtungen nur eingeschränkt möglich.

Offenheit von Mitarbeiter_innen besonders wichtig

Wie offen Bewohner_innen mit ihren Wünschen und der Lust am eigenen Körper umgehen und umgehen dürfen, hänge auch von der Offenheit der Mitarbeiter_innen ab, betont Franke. „Viele haben in den Einrichtungen einen verklemmten Umgang erfahren.“

Das gelte auch für das Thema Selbstbefriedigung, das früher stärker tabuisiert gewesen sei. Doch ebenso wie partnerschaftliche Liebe müsse auch Solo-Sex ermöglicht werden. „Es gibt Bewohner_innen, die das gut mit sich ausmachen können, aber froh über Hilfsmittel sind, die es angenehmer oder leichter machen können.“

Hilfsmittel und Unterstützung gewinnen an Bedeutung

Auch assistierte Sexualität mit der Unterstützung von Sexualbegleiter_innen sei ein Thema, das in Zukunft an Bedeutung gewinnen werde, berichtet Heike Hinderks, die im Caritas-Wohnhaus im südlich von Münster gelegenen Ascheberg arbeitet. Dort leben 63 Menschen mit geistiger Behinderung und zum Teil zusätzlicher psychischer Beeinträchtigung. Die Heilpädagogin ist Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft Sexuelle Bildung“ des Caritasverbandes für den Kreis Coesfeld und hat sich wie Christian Franke zur ReWiKs-Lotsin ausbilden lassen.

Die eigene Äußerung als Maßstab

Was Sex mit anderen angeht, sei das wichtigste Kriterium die Einvernehmlichkeit, betont sie. Ein Beispiel, das sie in der Arbeitsgemeinschaft besprochen hat, war, dass zwei Frauen einer Wohngruppe sich gerne treffen und Zärtlichkeiten austauschen. Wenn beide einverstanden sind, sei alles gut, sagt Hinderks. „Solange jemand Zustimmung und Ablehnung äußern kann, sollte man das als Maßstab nehmen.“ Es gelte: „Nein heißt nein“. Genauso aber sei es wichtig vorauszusetzen, dass „Ja“ auch „Ja“ bedeute.

Wichtig sind sexualpädagogische Aufklärung und sexuelle Bildung

Sexuelle Bildung bedeute auch, die Intim- und Privatsphäre anderer respektieren zu lernen, sagt Heike Hinderks. „Man geht beispielsweise nicht unbekleidet über den Flur und klopft an, wenn man ein fremdes Zimmer betritt.“ Menschen, die seit langem in Wohneinrichtungen lebten, hätten oft eine geringe Hemmschwelle, weil sie selbst kaum Zugang zu sexualpädagogischer Aufklärung hatten, sagt die Heilpädagogin. Auch hätten Bewohner_innen in ihrer Pubertät wenig Chancen, sich mit Gleichaltrigen auszuprobieren.

Recht auf negative Beziehungserfahrungen

Sven Jennessen betont, dass jeder Mensch das Recht habe, Beziehungserfahrungen zu machen – auch negative. In dieser Hinsicht seien die Einrichtungen sehr unterschiedlich. Einige seien sehr offen, in anderen würden immer noch Übernachtungen von Partner_innen untersagt oder Partnerschaften verhindert. „Uns hat aber an vielen Stellen erschreckt, wie groß die Fremdbestimmung in den Wohneinrichtungen immer noch ist“, berichtet der Professor.

Die Vorsicht vieler Mitarbeiter_innen entspringe dem Wunsch, Bewohner_innen zu schützen – aus guten Gründen. „Gerade Menschen mit geistiger oder mit komplexer Behinderung sind eine hoch vulnerable Gruppe“, sagt Jennessen. Frauen mit Behinderungen würden viermal häufiger sexuell missbraucht als Frauen ohne Behinderung, berichtet der Pädagogik-Professor. Dabei könne man von einer noch höheren Dunkelziffer ausgehen.

Ein Risikofaktor sei, dass Menschen mit fehlender Lautsprache nicht so über Erlebnisse berichten können, dass es andere verstehen. Gerade wegen dieser Gefahren sei Aufklärung wichtig, betont Jennessen: „Der größte Schutz vor sexualisierter Gewalt ist sexuelle Bildung.“

Menschen, um die es geht, aktiv einbeziehen

Neben der Sorge um Bewohner_innen treiben die Mitarbeiter_innen auch rechtliche Unsicherheiten um, berichtet er. Was dürfen sie verbieten? Wofür dürfen sie belangt werden? Was sagen die Angehörigen? Was passiert, wenn zwei Menschen sich ein Kind wünschen? Bei den ReWiKs-Treffen werden solche Belange besprochen.

Ein Kerngedanke des Projektes ist, die Menschen, um die es geht, aktiv einzubeziehen. Die erarbeiteten Materialen sind nicht nur für Mitarbeiter_innen, sondern auch für Bewohner_innen bestimmt. In der Südpfalz wurden außerdem als Pilotprojekt drei „Freiräume: Sexualität und ICH“ eingerichtet. Die Idee ist, dass sich Menschen mit Behinderungen in diesem Rahmen über Liebe, Sexualität und Partnerschaft austauschen können – ohne Beeinflussung und Kontrolle von außen.

Bewohner_innen treten für eigene Rechte ein

Die „Freiräume“ zeigen bereits Auswirkungen. Es passiere beispielsweise, dass Bewohner_innen einfordern, über Nacht Besuch empfangen zu dürfen, erzählt Jennessen. „Wir erkennen, was alles in Bewegung gerät. Aber das geht nicht ohne Widerstände“, sagt er. Denn die eigenen Wünsche und Rechte müssen in den Einrichtungen erst einmal durchgesetzt werden.

Freiräume für eigene Wünsche und Rechte

Auch in Stuttgart, Regensburg, Kassel und Berlin-Brandenburg sollen „Freiräume“ entstehen. Die Vorbereitungen laufen, wegen der Corona-Pandemie werden persönliche Treffen wahrscheinlich erst 2021 möglich sein, berichtet Sven Jennessen.

Was die Lots_innen-Fortbildungen angeht, arbeitet ReWiKs gerade an digitalen Fortbildungsangeboten sowie Erklärvideos und Podcasts. Ab 2021 sollen auch wieder Präsenzveranstaltungen stattfinden.

Pandemie wirft Einrichtungen hinter eigene Ansprüche zurück

Die ausgebildeten Lots_innen treffen sich regelmäßig zu Netzwerktreffen. Sie bringen das Thema sexuelle Selbstbestimmung in die Einrichtungen zurück und sorgen dafür, dass es nicht in Vergessenheit gerät. Leider werfe die Corona-Pandemie die Einrichtungen wieder hinter ihre eigenen Ansprüche zurück, erzählt Heike Hinderks. Aufgrund der Schutzmaßnahmen dürften sich momentan Paare nicht in den Zimmern treffen. Das führe zu Unzufriedenheit – und widerspreche den eigenen Zielen.

Auch sind die Kontaktmöglichkeiten außerhalb der Wohngruppen noch beschränkter als sonst. „Die Corona-Zeit ist schwierig“, sagt Hinderks.

Vom Corona-Rückschlag abgesehen aber gebe es Fortschritte, sagt Christian Franke. Er habe den Eindruck, dass das Thema selbstbestimmte Sexualität in den Einrichtungen immer mehr Beachtung finde und mit größerer Selbstverständlichkeit behandelt werde. „Da ist etwas in Bewegung“, sagt er.

Termine der Fortbildungen unter: www.reha.hu-berlin.de/forschung/rewiks/fortbildungen

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