„Das läuft in Hessen unproblematisch“
Sicherheitsschleusen, Eisen- und Gittertüren, im Hof Stacheldraht auf den Mauern. Ein ständiges Auf- und Zusperren von Schlössern. Mit Hilfe des großen Schlüsselbundes werde ich durch eine in sich geschlossene Welt in das der Justizvollzugsanstalt Kassel angegliederte Zentralkrankenhaus geführt. Erkrankte Gefangene aus allen hessischen Justizvollzugsanstalten werden hier für die Dauer ihrer Behandlung untergebracht.
Der Internist Dr. Michael Lutz-Dettinger leitet die Krankenabteilung und das Haus mit etwa 70 Betten. Sein Besprechungsraum wie auch sein Verhalten erinnern an einen erfahrenen Landarzt, dem die dankbaren Patienten auch mal ein selbst gemaltes Bild zur Ausschmückung des Zimmers schenken, das dann auch dort aufgehängt wird. Zu seiner beruflichen Biografie gehören Auslandseinsätze und ein Vierteljahrhundert Medizin hinter Mauern. Soweit es die engen Dienstpläne bei chronischem Personalmangel erlauben, sind die Teilnahme an regionalen und bundesweiten Qualitätszirkeln sowie Fortbildungen in Infektiologie und Suchtmedizin für ihn und sein Team eine Selbstverständlichkeit.
Herr Dr. Lutz-Dettinger, Gefangene im geschlossenen Vollzug sind nicht kranken- und rentenversichert und können nur den anstaltsärztlichen Dienst nutzen. Wie lässt sich denn ohne freie Arztwahl ein Vertrauensverhältnis aufbauen?
In manchen Fällen klappt das nicht, was an den Ärzten oder auch an den Patienten liegen kann. Aber bei vielen, die länger bei uns sind, zeigt sich eine deutliche Verbesserung der Gesundheit. Krankheiten, die in Freiheit nicht angegangen werden konnten – etwa bei einem Leben auf der Straße oder bei fehlendem Aufenthaltsrecht und Versicherungsschutz –, können hier nun endlich unbürokratisch behandelt werden. Wir versorgen Wunden und behandeln Infektionen und ziehen, wo immer erforderlich, auch externe Ärzte hinzu. Das baut dann über die Zeit schon Vertrauen auf. Aber es hängt natürlich immer vom Einzelnen ab. Viele unserer Patienten haben auch psychologische oder psychiatrische Probleme.
Die Aidshilfen hören immer wieder von Gefangenen in Bayern, dass medizinische Dienste oft über keine suchtmedizinische Kompetenz verfügen und dass den Bitten um eine fachärztliche Beurteilung mit Billigung der Gerichte nicht entsprochen wird.
Das wird bei uns anders gehandhabt. Bei der Zusammensetzung der Klientel braucht es solide infektiologische, suchtmedizinische, psychologische und psychiatrische Kompetenzen. Jeder Insasse hat das Recht, sich bei Beschwerden wegen falscher oder verweigerter Behandlung auch an mich zu wenden. Ich suche dann in aller Regel das gemeinsame Gespräch. Es wird erwartet, dass sich in jeder Anstalt die medizinische Abteilung den Herausforderungen der Suchtmedizin stellt.
Gibt es finanzielle Restriktionen bei der Behandlung?
Der Justizfiskus ist verpflichtet, alles zur Behandlung Notwendige bereitzustellen. Das läuft in Hessen unproblematisch und ohne großen Antrags- und Begründungszwang. Ich bin ganz froh, dass ich es da leichter habe als die niedergelassenen kassenärztlichen Kollegen. Bei ungeklärten Versicherungsverhältnissen oder bei Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus würde sich für uns als Mediziner an der Behandlung selbst nichts ändern, wohl aber an der erforderlichen Bürokratie.
„Ungeklärte Versicherungsverhältnisse würden an der Behandlung nichts ändern“
Immer wieder mal wird berichtet, Hepatitis-C-Behandlungen unterblieben aus Kostengründen.
Wir haben einen hohen Anteil von Menschen mit Hepatitis C. Sie hier im Anstaltskrankenhaus zu behandeln, ist aus unserer Sicht nur dann sinnvoll, wenn sie mindestens sechs Monate hier sind – oder besser noch länger. Auch würde ich denjenigen, die noch Drogen spritzen, wegen des Reinfektionsrisikos keine Therapie anbieten. Aber ich habe noch nie erlebt, dass eine notwendige, hinreichend begründete Behandlung wegen der Kosten verweigert wurde. Dass wir uns trotzdem bemühen, wirtschaftlich zu arbeiten, versteht sich von selbst. Angesichts der neuen Hepatitis-C-Therapien werden wir in unseren Facharbeitskreisen besprechen müssen, welche Versorgung für welche Patienten notwendig ist.
Das Robert Koch-Institut geht von etwa 30 % Suchtkranken bei männlichen und 50 % bei weiblichen Gefangenen aus, von denen etwa ein Drittel Drogen injiziert und etwa 6 % erstmals in Haft Drogen nehmen.
Ob die Zahlen so stimmen, weiß ich nicht, aber Drogenkonsum gibt es in Haft. Und angesichts des fehlenden Spritzentauschs im Justizvollzug müssen wir davon ausgehen, dass es zu Hepatitis- und vielleicht auch zu HIV-Übertragungen kommt. Alles andere wäre lebensfremd. In Baden-Württemberg haben wir das näher zu erforschen versucht, aber außer vereinzelten Verdachtsfällen nichts wirklich belegen können. Wenn es nach mir ginge, würde ich erneut eine Spritzenvergabe anregen – da hat es ja schon einige Modellversuche gegeben. Der Spritzentausch ist eine hochwirksame Präventionsmaßnahme. Aber es gibt Bedenken bei der Justizverwaltung und bei Vollzugsbediensteten, die Spritzen immer auch als potenzielle Waffen sehen.
Pragmatische Hilfe im Einzelfall
Gibt es denn wenigstens Desinfektionsmittel – nicht nur für Spritzen, sondern auch für Tätowierbesteck?
Jenseits des ärztlichen und des Küchenbereichs gibt es bei uns keine Spender mit Desinfektionsmitteln, weil daraus immer wieder höchst gefährliche Alkoholmischungen destilliert werden. Aber unsere Insassen wissen, dass der medizinische Dienst bei entsprechender Bitte im Einzelfall pragmatisch bei der Desinfektion hilft – genauso, wie wir Kondome ausgeben, ohne anzüglich zu grinsen.
Bei der Substitutionsbehandlung in Haft gibt es in Deutschland erhebliche Unterschiede. Das Spektrum reicht von Verweigerung wie etwa in Bayern bis hin zur großzügigen Bereitstellung in Berlin. Wo steht Hessen?
Wir liegen wohl im Mittelfeld. Wir substituieren einige Gefangene sehr erfolgreich und problemlos. Der sofortige Abbruch bei jeglichem Beigebrauch, wie er anfangs verlangt wurde, steht nicht mehr zur Debatte. Natürlich kontrollieren wir und führen Gespräche bei Beigebrauch. Ein Abbruch ist zu erwägen, wenn die Gespräche nichts fruchten und harter Beigebrauch vorliegt.
„Die Substitution wird in Haft rigider gehandhabt als in Freiheit“
Auch gibt es immer wieder Hinweise von Vollzugsbediensteten, die bei Zellenkontrollen Substitutionspräparate aus unserer Krankenabteilung finden. Die Frage, ob eine Substitution für jemanden, der sein Medikament vertickt, wirklich notwendig sei, lässt sich dann nicht so leicht wegwischen. Andererseits wissen wir auch, mit welchen Drohungen und Nötigungen Insassen gezwungen werden, Medikamente wie Subutex abzuzweigen oder vom Freigang Drogen mitzubringen. Festzustellen bleibt, dass die Substitution in Haft rigider gehandhabt wird als in Freiheit, wo sich neben den Leitlinien doch eine recht pragmatische Praxis herausgebildet hat.
Oft gibt es ja auch Probleme, die Fortführung der Substitution nach der Entlassung aus der Haft sicherzustellen.
In den ersten sieben Tagen nach Haftende kommt es bei Drogengebrauchern zu einer traurigen Häufung von Überdosierungen und Todesfällen. Dabei kommen mehrere Faktoren zusammen: In Haft wird zurückhaltender substituiert als in Freiheit. Manche realisieren unter dem Suchtdruck nicht, dass die vor der Haft konsumierte Drogenmenge nach der Entlassung deutlich zu hoch sein könnte.
Wenn Gefangene vor der Entlassung offen mit uns reden, dann versuchen wir, durch Bescheinigungen, Stellungnahmen und Kontakte zu externen Ärzten eine lückenlose Versorgung zu ermöglichen. Aber in den meisten Fällen erfahren wir gar nichts davon. Leider ist es für jemanden, der endlich wieder in Freiheit ist, kaum vermittelbar, dass er sich jetzt wieder von unten an die für ihn passenden Drogen heranschleichen sollte. Das ist besonders dann wichtig, wenn vor der Entlassung nicht substituiert wurde.
Hilfreich wäre also eine bessere Vorbereitung der Entlassung.
Sie scheitert leider am eklatanten Personalmangel der Anstalten, auch der medizinischen Abteilungen, obwohl die Justizverwaltungen sehr bemüht sind, Bewerber zu gewinnen. Daher ist es uns auch sehr lieb, wenn externe Institutionen wie die Aidshilfen Kontakt zu den Inhaftierten halten und sie begleiten – nicht nur in der schwierigen Haftsituation, sondern auch beim Übergangsmanagement.
Meine Bemerkung, der Strafvollzug sei auch Opfer der gescheiterten Drogenprohibition, erwiderten Sie gerade wortlos mit einem tiefen Blick. Herr Dr. Lutz-Dettinger, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Jurist Bernd Aretz, der im Nationalen AIDS-Beirat des Bundesgesundheitsministeriums federführend für die Arbeitsgruppe „Gesundheit in Haft“ zuständig ist.
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